© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/04 09. Januar 2004

Die Aktualität der Linken
von Werner Olles

Daß der Nationalstaat trotz des rasanten Tempos, mit dem die Globalisierung von den Akkumulationsregimes des Neoliberalismus und der Neuen Sozialdemokratie betrieben wird, bislang immer noch nicht verblichen ist, sondern höchstens seine Funktionen und Konturen geändert hat, gehört zu den Phänomenen des postfordistischen Kapitalismus. Die beträchtlichen Desintegrations- und Krisenpotentiale in den Entwicklungstendenzen der Shareholder Society beinhalten also offensichtlich gegen ihren Willen auch Ansatzpunkte einer wirtschaftspolitischen Beschränkung und Steuerung des fluktuierenden Finanzkapitals in Gestalt aktualisierter Regulationstheorien. Auch der digitale Kapitalismus existiert demnach nicht ohne Widersprüche und vor allem nicht ohne die Erfordernisse eines Primats der Politik.

Über 150 Jahre nach der Marxschen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsformation haben die Globalisierungskritiker von Attac, der "Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen", wie der Name aus dem Französischen übersetzt heißt, ihre Bundeszentrale vom idyllischen Verden in Niedersachsen, wo sie bisher mit ein paar ehrenamtlichen Mitarbeitern residierten, nach Frankfurt am Main verlegt, "wo das große Geld sitzt". Von hier aus, wo man der "drohenden Umarmung" durch die Politik besser entgehen könne als in Berlin, will man gegen unkontrollierte Kapitalströme, Steuerparadiese und die Privatisierung des Sozialstaates protestieren und sich vor allem die "Hochfinanz vornehmen". Deren Türme sind vom Attac-Büro in der Münchener Straße im Frankfurter Bahnhofviertel auch bei trübem Wetter nicht zu übersehen.

Längst verstehen sich die Mitglieder des 1998 in Frankreich gegründeten globalisierungskritischen Netzwerks nicht mehr nur als Antiglobalisierungsaktivisten, die auf den Straßen von Seattle und Genua gegen die entfesselten Kräfte des Kapitalismus und den kompletten Triumph des Neoliberalismus demonstrieren, denn solcherlei "Gipfel-Hopping" wird sich über kurz oder lang vermutlich totlaufen. Einer ihrer prominenten Mentoren, der Schweizer Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, stellte jüngst fest, daß es den rund 11.000 Mitgliedern in Deutschland und 80.000 weltweit an wirtschaftlichem Basiswissen mangelt. Seitdem verstehen sich Attac und die "Attacis"- zu denen unter anderen auch die Gewerkschaft Verdi, der Bund für Umwelt und Naturschutz sowie diverse christliche Vereinigungen und Menschenrechts- oder Entwicklungshilfeorganisationen zählen - auch als "Bildungsbewegung", die mit Seminaren und Sommerakademien eine "ökonomische Alphabetisierung" plant, um die Teilnehmer in die Feinheiten einer demokratischen Regulierung der internationalen Finanzmärkte, einer Steuer auf Finanztransaktionen ("Tobinsteuer") oder eines Schuldenerlasses für Entwicklungsländer einzuweihen.

Den Globalisierungskritikern mangelt es weltweit an ökonomischem Basiswissen. Daher versteht sich Attac auch als Bildungsbewegung für eine "ökonomische Alphabetisierung" durch Seminare und Sommerakademien.

Im Vordergrund sollen künftig auch Strategien zum Umgang mit den Medien stehen. Man will - nach dem Vorbild der Umweltschützer von Greenpeace - mehr mit öffentlichkeitswirksamen, spektakulären Aktionen Aufmerksamkeit erregen. Dazu gehört selbstverständlich auch das Spendensammeln. Wichtigstes Ziel der "neuen Apo" bleibt jedoch nach wie vor die Delegitimation des Neoliberalismus. Wer also die Attac-Seite im elektronischen Netz anklickt, erfährt als erstes: "Die Welt ist keine Ware." In dieser zentralen Botschaft ist bereits das gesamte unscharfe Programm der Globalisierungskritiker zwischen Krisenverwaltung und Fundamentalopposition enthalten. Daß eine neue Generation eine neue Sprache sucht, um ihre Sehnsucht nach einer Welt auszudrücken, die sich nicht den Funktionsmechanismen totaler Konkurrenz fügt, ist jedoch zunächst in jeder Hinsicht löblich. In einer Welt ohne Halt, ohne Ligaturen, Bindungen und Grenzen, in der Recht und Ordnung durch die Diktatur des Finanzkapitals hinweggefegt werden, in der die Nationalstaaten zerfallen wie brüchige Kartenhäuser und in der verblendete Ökonomen der Weltbank, des Weltwährungsfonds und des Welternährungsfonds im trauten Verein mit dem Spekulationskapital mit ihren neoliberalen Wirtschaftsreformen die Schwellenländer zugrunde richten und die Dritte Welt vernichten, kohärieren Verelendung und planetarische Globalisierung. Dies läßt sich am Beispiel der zentralafrikanischen Republik Niger exemplarisch nachweisen. Nach der erzwungenen Privatisierung der Veterinärämter konnten sich die Bauern keine Medikamente und Vitamine für ihr Vieh mehr leisten. Die Folge war eine Hungersnot mit anschließender Landflucht und weiterer Versteppung des Bodens.

Anstatt aber nun die Kategorie des Politischen selber zu problematisieren, begnügen sich die Globalisierungsgegner mit so pompösen und unscharfen Begriffen wie "Multitude", "Empire", "Global Governance", "Zivilgesellschaft", "Biopolitik". Der Eklektizismus im Theoretischen und eine Sozialstaatsromantik kranken indessen an allen Ecken und Enden. Hartgesottene Marxisten erkennen in den Thesen vom "Empire" ohnehin nur den altbekannten Irrationalismus und einen zutiefst un- bzw. antiideologischen Grundzug wieder.

Die verwirrende Unklarheit und Unbestimmtheit des jungen Protestes lenke von den tatsächlichen Problemen der Globalisierung ab, behaupten jedenfalls die Nürnberger Krisis-Marxisten um den Philosophen Robert Kurz. Statt die "Kategorie des Politischen" zu problematisieren, begnüge man sich "in den Fußstapfen der 68er mit ihrer Entleerung durch sinnlose Ausweitungen". Andere Linke gehen in die entgegengesetzte Richtung: Die Unterscheidung "global/lokal" sei falsch. Jeder linke Widerstand gegen die Globalisierung und Internationalisierung des Kapitals und der Schutz des Lokalen, Regionalen und Nationalen sei schädlich. Er verkenne, daß die regionalen und nationalen Identitäten nicht autonom seien, sondern die Entwicklung einer Welt souveräner und konkurrierender Staaten füttern und unterstützen. Ein lokales oder regionales Leben im globalen sei unmöglich.

An dieser Frage scheiden sich in der Tat die Geister der Globalisierungskritiker, und hier trennen sich ihre Wege. Zwischen der Minderheit der französischen Souveränisten und der Mehrheit der "Empire"-Anhänger, denen offenbar gar nicht bewußt ist, daß sie in genau das gleiche Horn blasen wie die neoliberale Propaganda mit ihrem Sozialdarwinismus neuer, individualisierter Prägung, liegen Welten. Tatsächlich ist die Niederlage jedoch schon in der Konfliktformulierung programmiert, wenn man in der Auseinandersetzung mit dem transnationalen Kapital auf die gute alte "internationale Solidarität" rekurriert und das neoliberale Programm der Unterwerfung unter den Markt mit der Idee "zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation" und NGO-kompatiblen sozialromantischen Motiven zu durchkreuzen versucht. Natürlich muß der Kampf in einer mitteldeutschen Kleinstadt, wo eine Filiale von Woolworth in der Fußgängerzone das Höchstmaß an Globalisierung darstellt, anders geführt werden als in den zunehmend Disneyparks ähnelnden Metropolen. Natürlich muß sich das diffuse Unbehagen an den Folgen unkontrollierbarer Marktprozesse in Mitteleuropa anders artikulieren als in Entwicklungsländern, wo die Zahl der Armen in den letzten zehn Jahren um hundert Millionen angewachsen ist, und der Gegensatz zwischen Armen und Reichen immer größer wird.

Einundfünfzig der hundert größten Wirtschaftsunternehmen sind Firmen, nicht Länder. Zwar hatte der Kapitalismus stets die Tendenz, sich neue Absatz- und Produktionsfelder zu erschließen. Was jedoch heute unter dem Begriff Globalisierung zusammengefaßt wird, ist die fortschreitende Ausweitung des Weltmarktes, seine Erweiterung auf immer neue Produkte, Freihandel für die Industrie und der wachsende Einfluß transnationaler Konzerne auf die nationalen Wirtschaften. Dabei besteht die neue, die Globalisierung vorantreibende Qualität in der rasanten Entwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel, die es erlauben, Waren und Dienstleistungen in weit größerem Umfang in die kapitalistische Verwertung einzubeziehen (zum Beispiel Schnittblumen aus Lateinamerika, Online-Softwareproduktion aus Asien). Freier Welthandel ohne Behinderungen durch Zölle, Einfuhrquoten und andere Handelshemmnisse soll nach der Theorie der Neoliberalen allen Beteiligten höheren Wohlstand bringen. Funktioniere dies einmal nicht, so argumentieren sie, sei das in der Regel nur eine Folge verfehlter nationaler Wechselkurspolitik.

Während Antonio Negri und Michael Hardt dem "Empire" der Globalisierung mit einer Gegenglobalisierung begegnen wollen und jegliche lokale, regionale oder nationale Autonomie scharf verwerfen, haben marxistische Linke wie Joachim Bischoff, Bob Jessup und Nicos Poulantzas in ihrem Buch "Die Zukunft des Staates. De-Nationalisierung, Internationalisierung, Re-Nationalisierung" (Hamburg, 2001) ein anderes Konzept vorgestellt. Vor allem der Staatstheoretiker Poulantzas entwickelt darin ein theoretisches und analytisches Instrumentarium, das - nicht nur aus einer marxistischen Sichtweise heraus - nach wie vor als grundlegend zu gelten hat. Daß gerade seine Arbeiten heute kaum noch zur Kenntnis genommen werden, ist kennzeichnend für die gegenwärtige Globalisierungs-Debatte. Diese wimmelt nicht nur von Irrtümern, sondern bedient sich auch einer abstrakten metaphysischen Staatskritik und damit einer Legitimationsideologie, die die zentralen Problemstellungen, vor denen wir heute stehen, beharrlich ignoriert.

Ein "materiell abgesichertes Leben im Alter", "Zuwendung bei Krankheit" und die "Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum" gehört für die meisten Linken zu den "Menschenrechten". Ihr Wahlspruch lautet "Genug für alle".

Poulantzas geht hingegen von den konkreten Lebenszusammenhängen des Menschen aus, der durch unlösliche historische, soziale und kulturelle Kohäsionskräfte in eine staatlich verfaßte nationale Gemeinschaft eingebunden ist. Für einen Marxisten ist ein derart ambitiöser Gedankengang keineswegs selbstverständlich, soll doch nach der reinen Lehre mit der Errichtung der Räteherrschaft, in der die Gewaltenteilung beseitigt ist, der Staat allmählich zugunsten einer "Assoziation freier Produzenten" absterben.

Für den 2. und 3. April 2004 ruft Attac gemeinsam mit Gewerkschaften und linken Gruppen europaweit zu "Protesttagen gegen den sozialen Kahlschlag" auf. Am 17. und 18. Januar in Frankfurt sollen die Formen des Protests auf einer "Aktionskonferenz" abgestimmt werden. In dem Aufruf zeigt sich die Argumentationslinie deutlich: "Ein materiell abgesichertes Leben im Alter, Hilfe und Zuwendung bei Krankheit, überhaupt die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und dem sozialen Leben sind Menschenrechte. Auch der alte Sozialstaat hat sie keineswegs umfassend und für alle verwirklicht." Das "für alle" ist offenbar Leitmotiv der Forderungen. So hat Attac auch dafür gesorgt, daß die Kampagne "soziale-zukunft-jetzt", die auch im Zusammenhang mit den Studentenprotesten hervortrat, in Zukunft das Motto "Genug für alle" tragen wird. Dort heißt es: "Die neoliberale Einheitspartei im Bundestag und Bundesrat behauptet, es gäbe keine Alternativen. Das ist die Unwahrheit. Noch nie gab es so viel Überfluß in unserer Gesellschaft wie heute. Noch nie gab es weltweit so viel Reichtum wie heute. Kein Mensch auf der Welt muß hungern, niemand an behandelbaren Krankheiten sterben - es gibt genug für alle!" Die Halbwahrheit in solchen Formulierungen besteht darin, daß eben auch noch so viele Menschen auf der Welt so gut gelebt haben wie heute.

Während der Neoliberalismus gegenüber dem traditionellen Nationalstaat eine Art theoretisches und praktisches Vernichtungsritual exerziert und in der Durchsetzung des westlichen Universalismus mitsamt seinem "Terror der Ökonomie" die Hauptaufgabe sieht, kommt zumindest in Teilen der marxistischen Staatstheorie ein gewisses nichtwestliches Zivilisationsbewußtsein und eine nichtwestliche Zivilisationsidentität zum Ausdruck. Jenseits von Finanzmärkten und Zentralbanken werden hier bestimmte Eigenarten des Patriarchalischen, Nativistischen und Autoritären gepflegt, die durchaus verächtlich auf die Dekadenz des westlichen und weltkulturellen Neoliberalismus reagieren.

Daß Marxisten, die diesen Namen noch verdienen, die Fin-de-siècle-Stimmung, in der "die dezidierte Proklamation von Verschwendungssucht und Champagnerfröhlichkeit, wie sie früher den Attachés in ungarischen Operetten vorbehalten war, mit tierischem Ernst zur Maxime richtigen Lebens erhoben wird" (Theodor W. Adorno), nicht besonders goutieren, sollte sich inzwischen herumgesprochen haben. Während die kapitalismustreue Regierungs-Linke auch hierzulande ideologisch längst keinen Gegenpol des Neoliberalismus mehr darstellt, weil sie demselben ideologischen Kontinuum angehört und damit zu seinem historischen Derivat degeneriert ist, stellt eine auf linkskeynesianische Inspirationen verzichtende marxistische Restlinke dem Akkumulationsregime der globalen Marktkräfte eine komplexe Staatstheorie gegenüber. Diese beinhaltet auch die Chance einer Bereicherung und Vertiefung und nicht zuletzt einer notwendigen Korrektur rechtsnationaler und konservativer Kritik an Globalisierung und De-Nationalisierung, die bislang noch stark von verschwommenen sozial- und nationalromantischen Illusionen geprägt ist. Nach der absehbaren Zersetzung des derzeitigen Antiglobalisierungsprotestes fällt dem Aufbegehren gegen die Zumutungen einer entfesselten Warendiktatur eine neue revolutionäre Rolle zu.

Werner Olles war 1968/1969 Mitglied im Sozialistischen Studentenbund (SDS). 1977 kehrte er der Linken den Rücken. Heute lebt er als Publizist in Frankfurt am Main.


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