© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/04 16. Januar 2004

Nur Realismus hilft noch
von Ronald Gläser

Das Bild der pflegebedürftigen alten Frau, der am Tag nur sechs Euro zur Verfügung stehen, rührt wohl jeden. Empört reagieren weite Teile der Medien und Interessengruppen auf die anstehenden Einsparungen in den sozialen Sicherungssystemen.

Diese müssen jedoch sein. Schnell und drastisch muß der Sozialstaat in den europäischen Nationalstaaten abgebaut werden. Wenn sich Europa nicht vom Sozialismus befreit, dann wird es bald keine Europäer mehr geben. Oder - wie Pat Buchanan es beschreibt: Amerikanische GIs werden einen leergefegten Freizeitpark verteidigen.

Alle europäischen Völker zeigen ein niedriges Wachstum. Die Ursache dafür sind die sozialen Sicherungssysteme, die die Menschen entmündigt haben. Bedenken wir: Vor einhundert Jahren betrug der Anteil der Staatsausgaben am nationalen Einkommen nur ein Zehntel. Die Volkswirtschaften prosperierten, und die Nationen wuchsen, weil sie sich konsequent fortpflanzten.

In den vergangenen fünfzig Jahren haben sich dann jedoch die europäischen Vollkaskomodelle prächtig entwickelt. Schweden gibt heute am meisten für Soziales aus - sagenhafte 35 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP). Unter den EU-Staaten folgen Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Belgien mit Werten über 30 Prozent.

Nur 18,5 Prozent - fast die Hälfte des schwedischen Wertes - investieren die Iren in ihren Sozialstaat. Eine jüngst veröffentlichte Studie kommt deswegen auch zu dem Schluß, daß dort - neben Großbritannien - das höchste Armutsrisiko herrscht.

Niemand wünscht sich Armut. Aber die Iren gehen sehr bewußt einen anderen Weg als die skandinavischen Staaten oder Deutschland und Frankreich. Das Geld muß den Bürgern vorher aus der Tasche gezogen werden. So wundert es nicht, daß Schweden die höchsten Steuersätze und Irland die niedrigsten aufweist. Die gesamten Steuereinnahmen Schwedens machen mehr als 55 Prozent des BIP aus. In Irland sind es weniger als 35 Prozent. Was in Schweden umverteilt wird, wird den Bürgern auf der Grünen Insel belassen.

Das Ergebnis ist ein Wirtschaftswachstum, das weit über dem europäischen Durchschnitt liegt. Von 1992 bis 2002 ist die irische Nationalökonomie um 84 Prozent gewachsen. Schweden kann dagegen nur ein durchschnittliches Wachstum von 27 Prozent in diesem Zeitraum aufweisen.

Betrachten wir die europäischen Sozialsysteme genauer: Wohin fließen Gelder? Wer profitiert von staatlichen Transferleistungen? Mitte der neunziger Jahre flossen 43 Prozent der Gelder in die Alterssicherung. Angesichts der derzeitigen demographischen Entwicklung dürfte die Fünfzig-Prozent-Marke bald erreicht sein.

Mehr als ein Fünftel der Aufwendungen für Soziales fließt in die Gesundheitssysteme. Der nächste Posten ist die Arbeitslosigkeit, die knapp zehn Prozent der Ausgaben verschluckt. Doch die Ausgaben für Alterssicherung haben den verheerendsten Charakter.

Wie in einer "öko-logischen Nische" sammeln sich um ein Sozialprogramm genau so viele "Betroffene", wie hier alimentiert werden können. Weitet man das Programm aus, so steigt automatisch die Zahl der Nutznießer.

John Wallace, Wissenschaftler an der John Hopkins Universität in Bologna, äußerte dazu: "Wenn jedermann das Versprechen auf eine staatliche Rente hat, dann sind Kinder nicht länger die Versicherungspolice, die einen vor Altersarmut schützt." Und weiter: "Wenn Frauen mehr als genug verdienen können, um finanziell unabhängig zu sein, dann ist kein Ehemann mehr nötig."

Die verheerenden Auswirkungen können wir am Zerbrechen der traditionellen Familie ablesen. Wieder ist Schweden Spitzenreiter: 1960 kamen 11,3 Prozent aller Kinder nicht in Familien zur Welt. 1995 ist der Anteil außerehelicher Geburten auf erschreckende 53 Prozent gestiegen, gefolgt von Dänemark mit 46,5 Prozent.

Es ist wohl dem Einfluß der katholischen Kirche geschuldet, daß Italien (8,1 Prozent) und Spanien (10,8) noch heute einen sehr geringen Anteil an außerehelichen Geburten aufweisen. Dafür entscheiden sich junge Frauen in diesen beiden Ländern einfach gar nicht mehr für Kinder: 1,15 Kinder kommen auf jede Spanierin, 1,23 auf jede Italienerin. Damit halbiert sich die Zahl der Mittelmeer-Anrainer mit jeder Generation annähernd.

Sozialistische und sozialdemokratische Politiker haben Männer und Frauen von der Notwendigkeit zur Familiengründung befreit. Wer alt wird, hat die Rente, wer pflegebedürftig wird, der hat ja die Pflegeversicherung.

Die Frauen haben sich ihren Platz im Arbeitsleben erstritten. Durch "gleiches Geld für gleiche Arbeit" hat die wachsende Zahl der berufstätigen Frauen das relative Einkommen der Männer gesenkt. Inzwischen ist es soweit, daß sich kein Durchschnittsverdiener mehr eine Großfamilie finanziell leisten kann.

Die Menschen sind nun einmal so. Sie verhalten sich so, wie es System von ihnen verlangt - im eigenen Interesse. Ist die zu erwartende staatliche Fürsorgeleistung hoch genug, reagieren potentielle Empfänger staatlicher Transferleistungen, indem sie ihre Lebensverhältnisse ändern.

Beispielhaft sei hier auch die Invalidenrente in den Niederlanden erwähnt. Das Sozialsystem der Niederlande sah bei Invalidität eine unbefristete staatliche Rente von siebzig Prozent des letzten Bruttolohns vor. Das war einfach zu großzügig. Ärzte wurden zudem bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit nicht herangezogen. Und einen anderen Job anzunehmen, wollten die niederländischen Sozialpolitiker niemandem zumuten.

So entstand zwischen 1970 und 1990 die "Niederländische Krankheit". In diesem Jahr erreichte der Anteil der Bezieher einer Invalidenrente unter allen Arbeitnehmern 15,2 Prozent. Selbst bei den unter 44jährigen waren es bereits 6,2 Prozent.

Das Durchschnittsalter der niederländischen Invaliden sank und sank. Die Zahl der Antragsteller, die aufgrund psychologischer Beschwerden als Invaliden anerkannt wurden, stieg laut einem OECD-Bericht von 21 auf 27 Prozent. Laut Eurostat, dem europäischen Statistikamt, lagen die Niederlande um fünfzig Prozent über dem EU-Durchschnitt.

Douglas J. Besharov von der Universität von Maryland argumentiert in einer Studie über die Langzeitfolgen des Sozialstaates, daß "das Invalidenprogramm zu einer Form des vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand geworden ist". Der Wissenschaftler hat die harten Einschnitte untersucht, die die Politik zu ergreifen gezwungen war, als das System nicht länger aufrechterhalten werden konnte.

Die Arbeitgeber wurden verpflichtet, für jeden Fall von in seinem Unternehmen eintretender Invalidität in einen Fonds eine Strafe einzuzahlen. Dieser Fonds zahlt Unternehmern ein Prämie, die einen Invaliden mindestens ein Jahr lang beschäftigen. Und unter Invalidität Leidende werden nun auch zu Arbeit gezwungen, die nicht ihrer Ausbildung oder ihren Einkommenswünschen entsprechen.

Und siehe da: Es gab nach Auskunft der niederländischen Aufsichtsbehörde für soziale Sicherheit sehr schnell weniger Invalidität. 47 Prozent aller Invaliden verloren ihren Status oder mußten Kürzungen ihrer Leistungen hinnehmen, nachdem sie einer Untersuchung unterzogen worden waren.

Nicht anders verhält es sich mit der Arbeitslosenversicherung. Wie ein OECD-Bericht feststellt, sind "die Arbeitslosenraten im Laufe der Zeit und in den Ländern mit der Großzügigkeit der für die Arbeitslosen verfügbaren Einkommensunterstützung verknüpft". Noch einmal sei Besharov zitiert, der einen Lehrstuhl für Public Affairs innehat und dem American Enterprise Institute angehört: "Die meisten Volkswirtschaftler sind beispielsweise der Ansicht, daß ein Hauptgrund dafür, daß die US-Arbeitslosenraten so viel niedriger sind als die der europäischen OECD-Länder, darin liegt, daß die Arbeitslosenleistungen strikter begrenzt werden."

Die Agenda 2010 mit der Umwandlung der Arbeitslosenhilfe in faktische Sozialhilfe mag hierzulande als schmerzhafter Einschnitt angesehen werden. Für Arbeitslose in den Vereinigten Staaten wären dies noch immer paradiesische Zustände. Denn nach einem halben Jahr ist in der Regel Schluß mit Transferzahlungen. Dann gibt es nur noch Lebensmittelgutscheine, die im Monat knapp 500 Dollar ausmachen. Sind Väter oder Mütter betroffen, gibt es deutlich mehr. Inzwischen wurde der Anspruch auf Sozialhilfe auch noch auf eine Maximaldauer von zwei Jahren beschränkt - und zwar während des gesamten Arbeitslebens.

Untersuchungen haben gezeigt, daß Arbeitslose einen neuen Job meistens erst antreten, wenn die zeitlich begrenzte Unterstützung endet. Nicht zufällig finden viele Arbeitslose finden kurz vor dem Auflaufen ihres Bezugsanspruchs eine neue Stelle.

Die Schlußfolgerungen können daher nur lauten: Das Sozialsystem als solches verleitet dazu, daß die entsprechenden Leistungen auch in Anspruch genommen werden. Also passen die Menschen ihr Verhalten dem sozialen Netz dergestalt an, daß sie für sich das Optimum herausholen. Zudem untergräbt es den Familienzusammenhalt.

Der Zenit des Sozialstaats war 1990 schon überschritten. Die Länder, deren Politiker bereits frühzeitig verantwortungsvoll gehandelt haben, stehen jetzt besser da. Während die Niederlande damals den Rotstift ansetzten, beging Deutschland noch 1993/94 den ordnungspolitischen Sündenfall: die Pflegeversicherung.

Das Mehr an Freiheit bescherte den Niederländern nach Irland, Großbritannien und Finnland auch das viertgrößte Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren. Statt dessen entwickelte sich Deutschland zur roten Laterne - weit abgeschlagen auf dem letzten Platz unter den fünfzehn EU-Staaten.

Während die Niederlande schon kräftig den Rotstift angesetzt hatten, führte die Bundesrepublik 1994 noch die Pflegeversicherung ein und vervollständigte damit die Illusion von der sicheren Altersversorgung.

Dabei müssen nicht alle Leistungen gekürzt werden. Die Altersvorsorge muß auf jeden Fall wieder den Menschen selbst überlassen werden. Ein Freifahrtschein der Kinderlosen auf Kosten der Kinderreichen ist höchst unsozial. Erhält in absehbarer Zeit jeder nur noch eine Minirente, dann werden Kinderbetten in Kürze zur Konjunkturlokomotive.

Nun argumentieren insbesondere viele Konservative, ein fürsorglicher Sozialstaat könne durch Unterstützung der Familien den Kinderwunsch junger Frauen fördern. Dies ist schlicht und ergreifend ein Irrtum. Kein Land der Weit hat so viel Geld, daß es Familien zugute so viel umverteilen kann, wie die Kinder ihre Eltern kosten.

Am höchsten ist die europäische Geburtenrate in Irland, dem Land mit dem "kleinsten" Sozialstaat. Nun ist die Geburtenrate in Frankreich und Schweden aber höher als in Italien und Spanien, wo der Sozialstaat schwach und der Anreiz, Kinder zu zeugen, somit größer ist. Dabei wird übersehen, daß die französischen Geburtenraten (1,89 Kinder pro Frau) auch nicht ausreichen, um bestandserhaltend zu wirken. Zudem gehen die rein optisch leicht höheren Geburtenraten in Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Schweden auf das Konto einer Bevölkerungsgruppe, die es in Spanien und Italien kaum gibt - Ausländer. Sie wandern in großer Zahl auch über den Kreißsaal ein.

Anders verhält es sich bei der Arbeitslosenversicherung. Wenn die Bezugsdauer im Zusammenhang mit der Aufnahme einer neuen Beschäftigung steht, dann muß sie drastisch gekürzt werden. Wenn ein Arbeitsloser nach drei oder sechs Monaten nur noch Anspruch auf Sozialhilfe hat, dann wird er schneller wieder einen Arbeitsplatz finden, als dies heute der Fall ist. Unter diesen Umständen können dem Arbeitslosen sogar einhundert Prozent seiner bisherigen Bezüge gezahlt werden.

Der Staat hätte dann auch die Hände frei für die Dinge, die wirklich im Interesse der Menschen sind: Ausbildung. Sie ist in Deutschland weitgehend staatlich organisiert und - wie wir seit Pisa wissen - stark verbesserungsbedürftig. Die staatliche Einrichtung von "Eliteuniversitäten" ist aber keine Lösung, sondern entspringt nur neuen Regelungsphantasien.

Er muß neben dem lebenslangen Lernen auch das Gesundheitssystem fördern, weil Krankheit anders als Alter etwas ist, wo Solidarität gefragt ist. Krankheit kann einen treffen, Alter trifft jeden. Und da ist jeder automatisch zur Eigenvorsorge aufgerufen. Nur muß der Staat natürlich nicht für den Zahnersatz der Menschen aufkommen, weil jeder von uns weiß, daß uns die Zähne einmal ausfallen werden. Auch hier sollte Eigenvorsorge eine Selbstverständlichkeit sein. Die Zahnpflege nimmt wahrscheinlich sofort drastisch zu.

Große Teile der Europäer haben es sich in ihren Sozialstaaten gemütlich gemacht. Der amerikanische Essayist Jonathan Rauch sieht die Bürger als "Kundengruppen, die jedes Programm mit Stacheldraht und Maschinengewehrnestern umgeben". Noch will die Mehrheit der Europäer nicht einsehen, daß diese vermeintlichen Errungenschaften ihre Existenz als Volk bedrohen. Das Dilemma ist nur, daß in einer Demokratie Reformen wie die, die jetzt anstehen, die Opposition geradezu dazu einladen, von sich zu behaupten, sie sei bereit und in der Lage, das vermeintliche Unheil abzuwenden.

Es ist taktisch vielleicht klug, aber in höchstem Maße unehrlich, wenn sich Teile der Union jetzt auf die Seite der Gewerkschaften stellen und ihnen suggerieren, der Sozialstaat ließe sich aufrechterhalten. Das Bild von Michael Sommer und Edmund Stoiber, das vor einigen Tagen in allen Tageszeitungen zu sehen war, sollte einem mehr zu denken geben als das der pflegebedürftigen Frau, weil es von größerer politischer Bedeutung ist.

 

Ronald Gläser, Jahrgang 1973, studierte Amerikanistik. In der JF schrieb er zuletzt über den US-amerikanischen Vorwahlkampf.


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