© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/04 23. Januar 2004

Freiheit braucht Gemeinschaft
von Alain de Benoist

Die Ideologie der Menschenrechte isoliert das juridische Element auf Kosten des Politischen und Sozio-Historischen: Wir erleben eine Revanche des Rechts und, damit einhergehend, ein Verschwinden des Politischen und des Sozio-Historischen. Hinzu kommt, daß diese Ideologie im Namen strikt individueller Rechte argumentiert. Wenn eine Gefahr heraufzieht, liegt sie in der Schwächung des Kollektiven angesichts der Behauptung der Individuen. Jede demokratische Politik muß der Erkenntnis Rechnung tragen, daß die ihr anvertraute Gesellschaft mehr ist als die bloße Summe ihrer individuellen Bestandteile. Ohne diese Erkenntnis gibt es keinen Gemeinwillen.

Der Begriff des Individuums, auf den sich die gesamte Rhetorik der Menschenrechte gründet, ist ein Begriff von bemerkenswerter Dürftigkeit, denn das einzige, was ein Individuum auszeichnet, ist die Tatsache, daß es ein Individuum ist. (Unter diesen Umständen kann man sich sogar fragen, ob es vernünftig ist, ihm dies zuzugestehen, was immer es auch bedeuten mag.) Der Menschenrechtslehre zufolge gelangt man zur Essenz des Menschen, indem man ihn als Individuum setzt. In Wirklichkeit ist ein seiner sämtlichen konkreten Merkmale entblößter Mensch keineswegs ein "Mensch an sich". Er ist gar nichts mehr, weil er die Eigenschaften verloren hat, die anderen ermöglichen, ihn als ihresgleichen zu behandeln. "Das Versagen der Menschenrechte angesichts der historischen und politischen Wirklichkeit", so Myriam Revault d'Allonnes, "zeigt vor allem die Sackgassen einer naturalistischen Sicht auf, die sich unfehlbar in ihr Gegenteil verkehrt. Stellt man die Fakten - das heißt den Verlust der als wesentlich geltenden politischen Eigenschaften - auf die Probe, dann findet man kein dauerhaftes Substrat einer menschlichen Natur, sondern eine reine Unbestimmtheit, der jeder Sinn abgeht".

Die ursprünglichen Theoretiker der Menschenrechte beriefen sich nicht zu Unrecht auf die menschliche Natur. Unhaltbar ist lediglich die Vorstellung, die sie sich von ihr machten. Heute weiß man - und hat schon seit langem gewußt -, daß der Mensch ein soziales Wesen ist, daß die Existenz der Menschen ihrer Koexistenz nicht vorausgeht, kurz gesagt: daß die Gesellschaft den Horizont bildet, vor dem sich die menschliche Präsenz in der Welt von Anfang an abzeichnet. Genausowenig wie es einen Geist gibt, der nicht verkörpert ist, gibt es ein Individuum, das nicht in einem bestimmten sozio-historischen Kontext verankert ist. Die Zugehörigkeit zur Menschheit ist niemals unmittelbar, sondern sie wird durch eine bestimmte Gemeinschaft oder Kultur vermittelt. Für den Menschen ist es unmöglich, sich einfach als Individuum zu definieren, weil er zwangsläufig in einer Gemeinschaft lebt, in der er mit Werten, mit Normen, mit von allen geteilten Meinungen in Berührung kommt. Die Gesamtheit dieser Beziehungen und Gebräuche - all das also, was sein Umfeld ausmacht und sein Wesen umgibt - ist kein überflüssiges Beiwerk, sondern im Gegenteil ein wesentlicher Bestandteil seines Ichs.

Der Begriff des Individuums, auf den sich die gesamte Rhetorik der Menschenrechte gründet, ist ein Begriff von bemerkenswerter Dürftigkeit. Das Individuum ist tautologisch definiert durch seine Individualität.

Um zu leben und gut zu leben, braucht der Mensch eine Gemeinschaft. Doch bedeutet das berühmte Wort des Aristoteles, daß der Mensch ein politisches Tier ist, nicht nur, daß der Mensch von Natur aus dazu bestimmt ist, in Gesellschaft zu leben; es bedeutet auch, daß der Mensch von Natur aus danach verlangt, ein politisches Leben zu führen und aktiv am Leben der politischen Gemeinschaft teilzunehmen. "Gerecht nennen wir", schreibt Aristoteles, "was der politischen Gemeinschaft Glück und das, was zum Glück nötig ist, schafft und sichert".

Ein politisches Ganzes nach streng individualistischen Gesichtspunkten aufzubauen, ist ganz einfach nicht möglich. "Eine Gesellschaft läßt sich sowenig in Individuen zerlegen wie eine geometrische Fläche in Linien oder eine Linie in Punkte", sagte schon Auguste Comte. "Ein Individuum ist ein einzelnes Kettenglied", schreibt Raimundo Panikkar, "eine Person ist die Verkettung um dieses Glied herum, ein Bruchteil der Kette, die die Wirklichkeit bildet (...) Daß die Kette sich ohne ihre Glieder auflösen würde, läßt sich nicht bestreiten; aber ohne die Verkettung gäbe es auch keine Kettenglieder." Daraus folgt, daß jedes politische Projekt eine Art Holismus erfordert. Im Holismus geht die Gesellschaft dem Individuum voraus, so wie "das Ganze zwangsläufig dem Teil vorausgeht" (Aristoteles). Doch - und in dieser Hinsicht unterscheidet sich der Holismus vom Kollektivismus - die Teile, die das Ganze umfaßt, gehen nicht in diesem Ganzen auf. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang sich im Kollektivismus die Individuen ganz und gar untertan macht, während im Holismus die Möglichkeiten der Individuen von ihren gesellschaftlichen Beziehungen abhängig sind. Diese Abhängigkeit ist also nicht kausaler, sondern grundlegender und wechselseitiger Natur. Das Gemeinwohl ist aus dieser Perspektive weder das Wohl des Ganzen noch die bloße Summe aller Einzelinteressen: Es ist ein den Teilen wie dem Ganzen gemeinsames Wohl.

Wenn man zugibt, daß die Verteidigung und Förderung von Rechten vorrangig der Behauptung des Politischen bedarf, wird offensichtlich, daß die Menschenrechtslehre die Grundlagen ihrer Durchsetzung untergräbt, indem sie das Politische angreift und seine Vorrechte unentwegt einzuschränken trachtet. Nur in einem politischen Rahmen, in einer gemeinsamen politischen Lebenswelt, kann ein Mensch Rechte haben, denn jedes Recht ist von den sozio-historischen Bedingungen abhängig, innerhalb derer es behauptet wird. So wie formelle Rechte von sich aus keine Tragweite haben (das Recht auf Arbeit genügt nicht, eine Stelle zu finden, und das Recht auf Bildung heißt nicht viel, wenn der Staat nicht über die finanziellen Mittel verfügt, die Kostenfreiheit des Unterrichts sicherzustellen), kann das Individuum als solches kein echtes Rechtssubjekt sein. Rechte können nur mit der Mitgliedschaft in einem politischen Ganzen einhergehen. "Wenn der Mensch seine Menschlichkeit erlangt, indem er zum Bürger
wird", so Myriam Revault d'Allonnes, "das heißt indem er einen politischen Status erhält, und wenn er umgekehrt seine eigentlich menschlichen Eigenschaften verliert, indem er diesen Status verliert, dann wurzelt die Geltung der Menschenrechte im Bürgersein".

Umgekehrt können die Menschen Rechte nur innerhalb einer bestimmten politischen Form erlangen, in einem Existenzzusammenhang, der ihnen konkret die Möglichkeit garantiert, von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Letztlich läuft dies darauf hinaus, daß die Rechte den Unterschied zwischen den Menschen bekräftigen und ausdrücken und keineswegs ihre Identität.

Man muß aber weiterdenken und sich fragen, wie angebracht es überhaupt ist, weiterhin von Rechten zu sprechen. Weil die Menschenrechtslehre unmittelbar an die liberale Ideologie gebunden ist, ist jeder Versuch einer nicht-liberalen Umformulierung wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. Besser sollte man sich vergegenwärtigen, daß sich die Debatten derzeit weniger um Rechte drehen als um die Pflichten der Regierenden sowie um die Berechtigung der Regierten, Kompetenzen und Freiheiten zu fordern, wenn diese ihnen verweigert werden.

Selbstverständlich geht es nicht darum, die Verteidigung der Freiheiten preiszugeben oder gar die Menschenrechtslehre anzufechten, um den Despotismus zu legitimieren. Ganz im Gegenteil muß gezeigt werden, daß die Notwendigkeit des Kampfes gegen alle Formen der Tyrannie und Unterdrückung eine durch und durch politische Frage ist, die als solche eine politische Lösung erfordert. Es geht mit anderen Worten darum, die juridische Sphäre und das Feld der Moralphilosophie zu räumen, um zu bekräftigen, daß der Macht der politischen Obrigkeit Grenzen gesetzt werden müssen - nicht weil Individuen von Natur aus unbegrenzte Rechte haben, sondern weil eine Staatsform, in der Despotismus herrscht, eine schlechte politische Gesellschaft ist -, daß die Legitimation des Widerstandes gegen Unterdrückung sich nicht aus einem angeborenen Recht herleitet, sondern aus der Verpflichtung der politischen Obrigkeit, die Freiheit der Gesellschaftsmitglieder zu achten, kurz gesagt: daß die Menschen frei sein müssen. Nicht weil sie "das Recht dazu haben", sondern weil eine Gesellschaft, in der die Grundfreiheiten geachtet werden, politisch besser - und ihr zudem moralisch vorzuziehen - ist als eine Gesellschaft, in der sie nicht geachtet werden.

Dies bedeutet, die Staatsbürgerschaft - verstanden als aktive Beteiligung am öffentlichen Leben und nicht als Begriff, der sich zur Erlangung von Rechten instrumentalisieren läßt - wieder als Prinzip geltend zu machen. "Die Annahme der minimalen Bedingungen einer demokratischen politischen Ordnung - die strenge Gleichheit der Rechte und der Pflichten jedes Einzelnen - zwingt dazu, jeder metaphysischen, anthropologischen oder gar moralischen Begründung der Menschenrechte und vor allem der Grundrechte zu entsagen", schreibt dazu Jean-François Kervégan, "und sie statt dessen strikt politisch zu begründen, das heißt in Anlehnung an den alleinigen Grundsatz der Gleichheit der Bürger-Individuen vor dem Gesetz (und nicht von Natur aus, denn nichts ist weniger egalitär als die 'Natur')".

Dies zieht zugleich die Rehabilitation des Begriffs der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft nach sich, ohne den Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit Abstraktionen ohne jede Durchschlagkraft bleiben. Weit davon entfernt, das Individuum zu entkräften oder in seiner Existenz zu bedrohen, gibt die Zugehörigkeit ihm im Gegenteil die "Möglichkeit, einzigartig und dabei von Bedeutung zu sein", wie Revault d'Allonnes sagt. Sie fährt fort: "Um die Menschenrechte 'politisch' zu begründen, muß man Politik und Staatsbürgerschaft denken, und zwar nicht nur unter dem zweitrangigen Aspekt einer Garantie der subjektiven Naturrechte, sondern auch als ursprüngliche Bedingung, die das Zusammenleben möglich macht.

Individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung sind nicht Resultat abstrakter "Rechte", sondern bedingt durch eine funktionierende Gesellschaft, die den Beitrag des Einzelnen braucht und daher auch fördert.

Allerdings - und diese beiden Dinge sind offensichtlich miteinander verknüpft - gilt es auch die Frage der individualistischen Grundlage des Sozialen zu überdenken und individuelle Einzigartigkeit als einzigartige Zugehörigkeit oder gar als plurale Einzigartigkeit zu betrachten. Diese stützt sich nicht auf ein individuelles Fundament, sondern sie fußt auf dem Boden einer Beziehung zur gemeinsamen Welt. Denn wenn das 'Recht, Rechte zu haben' nicht von der Zugehörigkeit zu einer gegliederten politischen Gemeinschaft zu trennen ist - die sich eben nicht auf eine Vereinigung von Individuen reduzieren läßt -, liegt das Unersetzliche, Einzigartige eines Menschen nicht in seiner fundamentalen Autonomie, sondern in den Zugehörigkeiten, die die Herausbildung seiner Individualität ermöglichen".

Schließlich gilt es die Vorstellung aufzugeben, daß zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichem Leben ein unvermeidlicher Widerspruch besteht. Statt dessen läßt sich Freiheit als das verstehen, was Benjamin Constant die "Freiheit der Antike" und Isaiah Berlin "positive Freiheit" genannt hat. Diese Art von Freiheit ist untrennbar von der aktiven Beteiligung am öffentlichen Leben, während die negative Freiheit der Neuzeit in einer Reihe von Rechten besteht, die dem Menschen gestatten, sich dieser Verpflichtung zu entziehen.

Freiheit ist mehr als persönliche Befugnis. Zu ihrer Ausübung ist ein gesellschaftlicher Kontext erforderlich. Deswegen blieb die in Artikel 4 der Erklärung der Rechte von 1789 aufgestellte Definition unbefriedigend: "Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was anderen nicht schadet." Zum einen sind individuelle Autonomie und der freie Ausdruck von Fähigkeiten und Talenten keine subjektiven Rechte, sondern entsprechen im Gegenteil einer dringenden politischen und gesellschaftlichen Notwendigkeit. (Das staatliche Bildungswesen zum Beispiel ist nicht Ergebnis eines "Rechts auf Bildung". Gäbe es dieses Recht, dann wäre Bildung zwar kostenlos, aber freiwillig. Die Schulpflicht folgt aus der Erkenntnis, daß Bildung ein gesellschaftliches Gut darstellt.)

Zum anderen wird individuelle Freiheit niemals in einer unfreien Gesellschaft erreicht: Ohne öffentliche Freiheit gibt es keine private Freiheit. "In der Antike bestand das Ziel darin, gesellschaftliche Macht zwischen allen Bürgern desselben Vaterlandes zu teilen", so Benjamin Constant. Das bedeutet, daß auch Freiheit zunächst eine politische Frage ist - und keine Frage von "Rechten". Eine so verstandene Freiheit erzeugt Gerechtigkeit, statt aus ihr zu resultieren.

Einer der besten Wege, die Freiheiten zu verteidigen, führt über das Prinzip der Subsidiarität, nach dem einzig diejenigen Aufgaben an eine höhere Autorität weitergeleitet werden, die auf der unteren oder lokalen Ebene nicht gelöst werden können. Damit wird es möglich, zu einem strengeren Rechtsbegriff zurückzukehren: Recht zu schaffen (oder wiederherzustellen) heißt nicht, Individuen von höherer Stelle das "Recht" zu gewähren, irgend etwas zu erhalten, sondern ihnen zu geben, was ihnen zusteht, oder ihnen individuell oder kollektiv konkret das zurückzugeben, was ihnen zu Unrecht vom Staat oder von einem Dritten entzogen worden ist.

 

Alain de Benoist ist Herausgeber der französischen Kulturzeitschrift "Nouvelle Ecole". Unser Text ist ein Vorabdruck aus seinem Buch, das im Frühjahr in der Edition JF unter dem Titel "Jenseits der Menschenrechte" erscheint.


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