© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/04 30. Januar 2004

Ein Sieg für das Recht
Straßburger Urteil: Enteignungsunrecht muß neu geregelt werden
Fritz Schenk

Die realsozialistische Gewaltpolitik seit 1945 holt den gesamtdeutschen Gesetzgeber immer wieder ein. Im Innern beschäftigen Tausende von Klagen Behörden und Gerichte, die von Geschädigten des SED-Regimes angestrengt werden. Von außen, konkret vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, wurde am 22. Januar ein weiteres Feld geöffnet. Es betrifft ein Urteil zugunsten von Kleinbauern, das den Bundesgesetzgeber zum Handeln zwingt. Dabei geht es um jene kleinen Landwirte, die ihre Flächen im Zuge der sogenannten Bodenreform von 1945/46 erhalten hatten. Aufgrund eines Befehls der sowjetischen Besatzungsmacht waren damals alle Bauern mit Betrieben ab 100 Hektar Größe einschließlich ihrer Häuser und des gesamten Hab und Gutes entschädigungslos enteignet worden.

Das enteignete "Junkerland", wie die offizielle Bezeichnung der Sozialisten lautete, wurde zum größeren Teil an Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten, zum kleineren an landarme Bauern oder interessierte Arbeiter verteilt. Etwa ein Drittel, vor allem die großen Gutshöfe, wurden Staats- und später "volkseigene" Güter (VEG). Die "Neubauernhöfe" (Sprachgebrauch der SED) hatten jeweils eine Größe zwischen fünf und höchstens zwanzig Hektar. Nach geltendem SED-Recht war das Land Eigentum der Neubauern, es durfte vererbt, aber nicht verkauft, verpachtet oder anderweitig veräußert werden. Der Hintergrund für diese Einschränkung stellte sich bald heraus. Weil diese Kleinbetriebe weder lebensfähig waren noch wesentliches zur Versorgungslage der Bevölkerung beitrugen, ging die SED Anfang der fünfziger Jahre zur Großproduktion über und zwang die Kleinbauern in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), wo sie ihr Land "einzubringen" hatten.

Mit der Wende von 1989/90 und der folgenden Wiedervereinigung hat sich am Eigentumsrecht nicht allzu viel gebessert. Das ist Laien rechtlich kaum zu verdeutlichen, politisch aber einfach zu erklären: Weder die letzte SED-Regierung unter Modrow und ihren bürgerlichen Verbündeten am "Runden Tisch" noch die erste demokratisch gewählte DDR-Regierung unter Lothar de Maiziere wollten mit "dem Sozialismus" wirklich Schluß machen. Ihnen schwebte ein "demokratischer" Sozialismus mit breit gestreutem "tatsächlichen Volkseigentum" vor. Auf den Bereich der Land- und Forstwirtschaft sowie das allgemeine Bodenrecht bezogen hieß das, daß sie kurz vor der Wiedervereinigung all jenen Kleinbesitzern, die Land oder Grundstücke selber bewohnten oder betrieben, entsprechende Grundbucheinträge verschafften und sie somit zu "Voll-Eigentümern" machten. Davon profitierten vor allem gute Genossen, denen das SED-Regime für wackere Treue und Standfestigkeit als "redliche Erwerber" so manches Schnäppchen in allerbesten Lagen zukommen ließ.

Wer Eigennutzung nicht nachweisen konnte, in den Westen gegangen war, seinen Boden oder sein Grundstück anderen wie auch immer "übertragen", verpfändet oder veräußert hatte, mußte die entsprechenden Einnahmen an den staatlichen Bodenfonds abführen, aus denen der Bund und die neuen Länder Geld für den Neuaufbau schachern wollten. Die so Geschröpften sprachen von der "zweiten und endgültigen Enteignung", nun durch den gesamtdeutschen Rechtsstaat.

Vor allem aber wollten SED- wie die de Maiziere-Administration verhindern, daß die tatsächlichen Eigentümer, nämlich die 1945 bis 1949 enteigneten "Junker und Kapitalisten", ihr väterliches Erbe zurückbekämen. Das ist der Hintergrund für jene Lügenkonstruktion im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag, die unser Rechtssystem aufs schwerste beschädigt. Das angebliche Drängen der Sowjetführung, die die Enteignungen von 1945 bis 1949 als Bedingung für eine Zustimmung zum Zwei-Plus-Vier-Vertrag und der deutschen Einheit geknüpft habe, hat sich als unwahr herausgestellt. Obwohl darüber weder verhandelt noch eine entsprechende Notiz, geschweige ein Artikel in dem Vertrag enthalten ist, schrieben Bundestag und Volkskammer im Einigungsvertrag fest: "Die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) sind nicht mehr rückgängig zu machen."

Das Bundesverfassungsgericht hat auf einschlägige Klagen von Alteigentümern diesen Standpunkt der Bundesregierungen unter Helmut Kohl in mehreren Urteilen festgeschrieben. Der rechtspolitische Skandal besteht bis heute darin, daß das höchste deutsche Gericht Michail Gorbatschow, seinen damaligen Außenminister Eduard Schewardnadse und die Vertreter der westlichen ehemaligen Besatzungsmächte, die an Eides statt versicherten, daß darüber weder verhandelt wurde noch diese Festlegung Bestandteil des Zwei-Plus-Vier-Vertrages geworden war, nicht einmal gehört, geschweige deren Aussagen gewürdigt hat.

Dagegen hat nun der Europäische Gerichtshof für Menschrechte zugunsten der "Neubauern" votiert. Damit ist der Vorgang jedoch keinesfalls vom Tisch, denn weitere Klagen stehen an. Vor allem die der Alteigentümer und jener rund einer Million Unternehmer aus Industrie, mittelständischem Gewerbe, Handel und dem privaten Mietwohneigentum. Aus diesem an den Staat gefallenen kommunistischen Raubgut sollte die Treuhandanstalt Hunderte von Milliarden Verkaufserlöse erzielen, womit die Bundesregierung - unterstützt von allen Fraktionen des Bundestages - die Kosten der Einheit bezahlen zu können glaubte. Daß dies nicht nur eklatanter Rechtsbruch, sondern vor allem eine schwerwiegende ökonomische Milchmädchenrechnung war, zeigt der fehlgeschlagene "Aufbau Ost", der trotz des Billionenaufwands an Subventionen, des Solidaritätszuschlags und der höchsten Staatsverschuldung aller Zeiten das Ost-West-Gefälle in Deutschland nur geringfügig vermindert hat.

Mit der Straßburger Entscheidung muß das gesamte bisherige Wiedergutmachungs- und Entschädigungsrecht neu aufgerollt werden. Allein jener Passus des Urteils, der Entschädigungen nicht wie bisher nur nach alten (Vorkriegs-)Grundbuchwerten, sondern nach angemessenen gegenwärtigen Verkehrswerten manifestiert, würde den Staat Milliarden kosten. Schon klagen die Ministerpräsidenten der neuen Länder, daß sie dies keinesfalls leisten können, und bringen eine Erhöhung des Solidarzuschlags in die Debatte. Da die Alteigentümer aber ohnehin vor allem auf Rückgabe jenes Eigentums klagen, das der Staat noch in seinen Klauen hält, würde es höchste Zeit, dies zurückzugeben. Das hieße aber schnellstens Abschied von alten Sozialismusträumereien zu nehmen. Klares und garantiertes Eigentumsrecht ist die Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft. Vielleicht verhilft das Straßburger Urteil dazu, daß wir nun endlich dazu kommen.


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