© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/04 30. Januar 2004

Wo bleibt die weibliche Solidarität?
von Hans-Peter Raddatz

Die weltweite Radikalisierung des Islam und seine Expansion in Europa bilden seit vielen Jahren Zündstoff für endlose Diskussionen, die nicht viel mehr ergeben haben als einerseits die Globalisierung des Terrors sowie andererseits die abnehmende Bereitschaft der islamischen Zuwanderer, sich den Gesetzen ihrer jeweiligen Länder anzupassen.

Was unter dem Begriff "Dialog mit dem Islam" bekannt wurde, stellte sich zunehmend als proislamische Hilfsorganisation heraus, die "Verständnis" für islamische Gewalt zeigte und die autonome Installation des Islam unter islamistischer Führung betrieb. In Deutschland ging man hier mit massivem Moscheebau, dem Kopftuch im öffentlichen Raum und einer islamorientierten Rechtsprechung demonstrativ voran.

(...) Nach dem Attentat des 11. September nahm die proislamische Parteinahme durch Parteien, Kirchen, Universitäten, Medien etc. eine so einseitige Form an, daß das Wortspiel von der "Staats-Union der Pro-Islamisten in Deutschland" - salopp abgekürzt STUPID - die Runde zu machen begann.

In diesem Ablauf zeichnete sich die massive Handschrift islamischer Interessen ab, die in Deutschland islamistisch vertreten werden, indem auf der türkischen Seite die als staatsgefährdend eingestufte "Milli Görüsh" (Nationale Weltsicht) und auf arabischer der sogenannte "Zentralrat" in Erscheinung treten. Beide Organisationen stehen mehr oder weniger direkt und intensiv mit der radikalen, mehrheitlich saudisch finanzierten Muslimbruderschaft in Verbindung. Der unverzichtbare Stellenwert der Frauenrepression im "Recht" des Islam zwingt diese orthodoxen "Repräsentanten" in ganz besonderer Weise dazu, ihre Frauen in Deutschland und Europa zu verhüllen. Die deutschen "Euro-Islamisten" können also ihre Gesinnungstreue entsprechend "islamisch korrekt" unter Beweis stellen, indem sie für das Kopftuch und gegen die Grundrechte für muslimische Frauen in Europa kämpfen.

Unsere Fragestellung "Allahs Schleier" beschäftigt sich daher nicht nur mit den Lebensbedingungen der Frauen und ihrer Verhüllung im Islam, sondern auch mit dem Gefüge der modernen Konsumgesellschaft. Aus ihrer Verbindung wird nicht nur erklärbar, wieso die Frauen beider Kulturen sich immer schon zu Opfern oder Steigbügeln männlicher Herrschaftssysteme machen ließen. Vor allem ergibt sich eine Perspektive, die anhand der Geschlechterdifferenz ein besseres Verständnis für den Zusammenhang ermöglicht, der zwischen abnehmender westlicher Denk- und Kritikfähigkeit sowie zunehmender islamischer Gegenwart in Deutschland und Europa besteht.

Es entsteht ein vielseitig abgestütztes und mit zahlreichen Beispielen unterlegtes Erklärungsmodell, welches den "Schleier Allahs" im Verhalten westlicher "Dialogisten", insonderheit des deutschen Proislamismus, plausibel zu erklären hilft. (...)

Ebenso wissen wir, daß Sprachschablonen und Fetischpersonen zur dogmatischen Vermittlung von Welt- und Gottesbildern unverzichtbar sind; sie sind aber auch - nach zumeist männlich diktierter Bedarfslage - austauschbar. Indem prominente Frauen dabei ihrer weiblichen Klientel in den Rücken fielen, um vom Patriarchatsdienst zu profitieren, machten sie aus den Hierodulen, ihren mythischen Vorläuferinnen, eine probate Regel für die historische Zeit. Auch Schiririn Ebadi, Trägerin des Friedensnobelpreises 2003, bildet von dieser Regel keine Ausnahme.

Nach ihrer Wahrnehmung hat der Islam, der die Verhüllung der Frauen als unverzichtbare Pflicht fordert, mit Frauenrepression nichts zu tun, wobei sie ihrerseits das Kopftuch muslimischer Frauen im Westen als "Zeichen der Freiheit" verlangt. Wer dabei berücksichtigt, daß in keinem islamischen Staat - die Türkei inklusive - das demokratische Prinzip der Menschenrechte wirklich Fuß fassen konnte, der wird einen genaueren Blick auf die sich hier abzeichnende Problematik kaum für überflüssig halten.

"Allahs Schleier" ist der dritte und letzte Abschnitt einer dreiteiligen Betrachtung, die mit der Rubrik "Der Islam und der Westen" überschrieben sein könnte. In "Von Gott zu Allah" (2001) werden die historischen Entwicklungsstationen der beiden Religionen und Kulturen einander gegenübergestellt und überprüft, ob und wie sie sich im modernen, interkulturellen "Dialog mit dem Islam" verändert haben. In "Von Allah zum Terror?" (2002) werden die politischen Dimensionen von Macht und Gewalt - im Islam bezeichnet mit dem Begriff des djihad - ebenfalls in ihrer historischen Entwicklung in beiden Kulturen vorgestellt und dann daraufhin untersucht, inwieweit ihre jeweiligen Wurzeln und Wirkungen sich in der modernen Gegenwart fortsetzen.

Angeregt durch das große Interesse an den beiden ersten Darstellungen sowie durch viele einschlägige Anfragen verfolgen wir im vorliegenden Band nach ähnlichem Muster die Wege, die Islam und Abendland im ebenso wichtigen Aspekt der Geschlechter gegangen sind. Es interessiert uns, inwieweit Gleich- bzw. Ungleichheiten in dieser grundlegenden Konstellation die europäische Expansion des Islam und eine Integration seiner Menschen eher fördern oder hemmen. Es ist evident, daß in einer global vernetzten Welt Geschlechterdifferenz, Bevölkerungsentwicklung und Migration in einen immer engeren Zusammenhang treten müssen.

Wie wir sehen werden, ist "Allahs Schleier" ein umfassender Vorhang, der den Mann und die Macht von der Frau trennt und ihr eine niedrigere Existenz zuweist. In Abänderung des Evangeliums nahmen zuvor auch schon die Christen ähnliche Trennungen vor und verwiesen die Frau in den Bereich der "Schlange", der bösen Begierde, die den Geist des Mannes einst verunreinigt hatte. Beide Kulturen projizieren somit irdische Erkenntnis und jenseitige Zuständigkeit für das Paradies auf den Mann.

Indem der Sündenfall in der Frau Schuld und der Schleier in ihr Scham verankern, sind fundamentale Weichen für die Dominanz des Mannes gestellt. In beiden Fällen installiert sich die "Herr"schaft über die weibliche Sexualität, allerdings entsprechend gegensätzlich gepolt: Die "christliche" Projektion von Schuld geht vom Geistprinzip aus, das sich die Frau unrechtmäßig angeeignet hat, und minimiert ihre Körperlichkeit. Die islamische Betonung der Scham hat bereits den Geist männlich besetzt und maximiert die Verfügung über den weiblichen Körper.

Beide Konzepte betonen Fortpflanzung und Keuschheit, wobei die Schuld das Heilige in die Keuschheit und die Scham in die Fortpflanzung projizieren. Im System der Schuld wird es vermittelt - zum Beispiel durch Priester -, im System der Scham unterliegt es dem Mann selbst. Aus dem gegensätzlichen Verständnis des Heiligen ergibt sich, daß in der ersten, indirekten Version die Frau als individuelle Keuschheitsperson erlöst werden kann, in der zweiten, direkten Version als Teil eines kollektiven Fortpflanzungsgewerbes, das den Koitus zum Gottesdienst macht.

"Was für die Frauen das Gebären, ist für die Männer der Krieg", lautet eine in den Frühphasen der großen Religionen ähnliche Aussage, die vom Stifter des Christentums zwar eindeutig, jedoch ohne nachhaltige Wirkung durchbrochen wurde. Durch Kreuzigung und Auferstehung trennte Jesus die Menschenmacht von Gottesmacht, womit relativ zur Frauenfeindschaft seiner Zeit eine Aufwertung der Frau einhergehen mußte - ein im Islam vehement abgelehntes Konzept. Somit gerieten hier Gebären und Krieg unter die unmittelbare Kontrolle des Mannes, während sie im christlichen Gedanken auf eine indirekte, dritte Ebene gehoben wurden. Nun war hier die Herrschaft nicht mehr "von dieser Welt", die man sich dennoch zugleich "untertan machen" konnte.

Natürlich hat sich mit dem geschichtlichen Klerikalismus ein willkürliches Herrschaftsprinzip durchgesetzt, das bei theoretisch gänzlich anderer Grundlage eine dem Islam ähnliche Praxis entwickelte. Wir werden sehen, daß Christen und Muslime für lange Zeit ein in vieler Hinsicht nahezu parallel negatives Frauenbild zugrunde legen, das im Islam koranisch verbrieft, im "Christentum" jedoch nur durch diktierte Verformungen möglich wurde. Erst allmählich, über viele Jahrhunderte hinweg, beginnen sich die abendländischen Wurzeln, christlicher Geist und indogermanischer Brauch, deutlicher geltend zu machen, wobei ersterer schon im Orient bei letzterem wichtige Anleihen gemacht hat.

Mit dem erwähnten "Dialog mit dem Islam" bildet sich ein Phänomen heraus, das in der westlichen Gegenwart die islamische Zuwanderung und ihre Folgen ideologisch zu vermarkten sucht. Bedingt durch die westlichen Zivilisationen eigenen geistig-politischen Verfallstendenzen hat sich hier eine zunehmend dogmatische Kraft mit quasi-muslimischer Propaganda etabliert. Es sind westliche Männer, die eine wachsende Rolle in der Expansion des Islam beanspruchen und somit hinsichtlich Geschlechterdifferenz und Zuwanderungspolitik einer erweiterten Analyse zu unterziehen sind.

Moscheebau, Muezzin, Islamunterricht und insbesondere das Kopftuch sind Themen, die mit weiter andauerndem Zustrom der Muslime immer drängender in das Bewußtsein der Menschen treten. Dabei wurde in den letzten Jahren zugleich erkennbar, daß die proislamische Propaganda des "Dialogs" zunehmend floskelhaften, fiktiven Charakter angenommen hatte und somit in abnehmendem Umfang in der Lage war, die Realität des existierenden Islam hinreichend zu beschreiben. Hinzu kam, daß man bei der Auswahl der Gesprächspartner radikale Vertreter des international organisierten Islamismus bevorzugte und somit Zweifel am eigenen Demokratiewillen und Frauenbild aufkommen ließ.

Mit wachsenden Islamkolonien in den westlichen Gesellschaften drängte sich die Erkenntnis auf, daß die bislang praktizierte Form der befohlenen Toleranz keine stabile Basis für eine konstruktive Gesellschaftspolitik sein konnte. Mit der Brachialformel "Islam ist nicht Islamismus" hatte man keinen Beitrag zum Verständnis des Islam geleistet, sondern allenfalls sich selbst widerlegt. Denn wie sich herausstellte, hatte man damit nicht nur einer Terrorvernetzung in Europa Vorschub geleistet, sondern auch ausgewiesene Islamisten zu Repräsentanten der "gemäßigten" Muslime aufgewertet.

Immer klarer stellte sich heraus, daß die "Verantwortlichen" nicht an einer ausgewogenen Zuwanderungspolitik, sondern einem diktierten Monolog, einer massiven, undifferenzierten Islamansiedlung mit dem Ziel des EU-Beitritts der Türkei interessiert waren und sind. Wen kann es da wundern, daß man bislang "versäumt" hat, die Gleichberechtigung der Frauen in der EU-Verfassung verbindlich zu fixieren? (...)

Da zugleich auch die Arbeits-, Moral- und Spaß-Codes der modernen Konsumgesellschaft nicht nur dämpfend auf die Reproduktion, sondern auch nivellierend auf das Bewußtsein der Menschen einwirken, bestehen gute Aussichten, der Bevölkerung eine Mitsprache über Zuwanderung und Eurofragen weiterhin als im Grunde unwichtig erscheinen zu lassen. So kann sich die islamische Expansion oder, wie es Michel Foucault ausdrückte, der islamische "Körperstrom" ungestört entfalten, um die vergreisenden, europäischen Gesellschaften nun graduell zu ersetzen.

Dieser Prozeß ist extrem männlich. Dort wo sich die Gegenwartsmacht konzentriert, in den Führungsebenen der globalen Wirtschaft, sind Frauen so selten, daß man sie mit Namen kennt. Das fast völlige Fehlen des Weiblichen in der Nähe der Macht verbindet sich mit den Einbrüchen homo- bzw. pädosexueller Männlichkeit in Politik und Gesellschaft sowie der heterosexuellen Männlichkeit des Islam in die westliche Rechtsprechung. Damit geht eine enorme Verstärkung der Prostitution einher, ihrerseits verbunden mit der Tendenz aller Machtebenen, sich Korruption und organisiertem Verbrechen zu öffnen.

Mit frappierend ähnlichen historischen, zum Beispiel antiken Vorläufern zeigt dieser elitäre Machtprozeß eine mythische Dimension, die sich mit einer gnostischen Komponente ausstattet, das heißt der rassistischen Bereitschaft, sich gegen alles Bestehende, u.a. die eigene Bevölkerung, zu wenden. Das zentrale Feindbild sind dabei die Frauen, die daher gerade auch von den modernen "Eliten" zunehmend rabiat zurückgedrängt werden. (...)

Eine dauerhaft auskömmliche Koexistenz mit der Gemeinschaft der Muslime im zukünftigen Europa wird nur in einer funktionsfähigen Demokratie, das heißt mit intakten Frauenrechten möglich sein. Wie man oft zu hören bekommt, soll eine Muslimin "frei" sein, weil sie ihr Kopftuch "freiwillig" trägt.

Freiheit entsteht indessen anders. Erst wenn es ihr unbedroht freisteht, sich für einen Beruf, einen Wohnort und vor allem einen Mann zu entscheiden, den sie liebt und daher selbst auswählt, kann von freiem Willen die Rede sein. Erst wenn alle Muslime - Frauen und Männer - frei in ihrer Religion sind, das heißt sie ohne Gefahr für Leib und Leben wählen, privat praktizieren und verlassen können, und Frauen immer noch darauf bestehen, das Kopftuch zu tragen, dann könnte es sogar als "Zeichen der Freiheit" gelten.

 

Dr. Hans-Peter Raddatz ist Orientalist und Mitautor der "Encyclopedia of Islam". Bei dem hier veröffentlichten Text handelt es sich um einen vom Herbig Verlag, München, genehmigten Vorabdruck aus seinem neuen Buch "Allahs Schleier. Die Frau im Kampf der Kulturen", das in diesen Tagen erscheint.

Foto: Demonstration islamischer Frauen zum "Kopftuchstreit", Dortmund Oktober 2003: Zunehmend wird die religiöse Verpflichtung mit einem neuen politischen Stolz getragen.


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