© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/04 13. Februar 2004

Kolumne
Bescheidenheit
Klaus Motschmann

Bundespräsident Rau hat anläßlich der Eröffnung des Lessingjahres Ende Januar in seiner Festrede erneut ein Bekenntnis zu Religionsfreiheit und Toleranz abgelegt. Es hat ein beachtliches positives Echo in den Medien ausgelöst. Vor allem von maßgebenden Repräsentanten beider Kirchen ist es begrüßt worden. Rau hat mit dieser Äußerung bewußt in die aktuelle Auseinandersetzung um ein Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen eingegriffen, das er bekanntlich wiederholt abgelehnt hat. In einem demokratischen Rechtsstaat gelte zwar das Recht auf Unterschiede, aber kein unterschiedliches Recht; dies um so weniger, als das Kopftuch angeblich kein "eindeutiges" Symbol des islamischen Fundamentalismus sei. Um so schlimmer, wenn es so sein sollte! Eindeutige Symbole vermitteln klare Orientierungen. Nicht eindeutige Symbole begünstigen geistige und politische Verwirrung. Man fragt sich, weshalb der Bundespräsident in einer Angelegenheit, die nach eigenem Bekunden keineswegs eindeutig geklärt ist, dennoch voreilig eindeutig Stellung bezieht.

Es ist richtig, daß es in einem demokratischen Rechtsstaat kein "unterschiedliches" Recht geben darf. Es ist aber auch richtig, daß es in einem demokratischen Rechtsstaat keine mechanische Anwendung der Rechtsnormen geben sollte, weil bloßer Legalismus über kurz oder lang zu einer Perversion des Rechts führt. Zu erinnern ist an das bekannte Wort Ciceros: "Das höchste Recht ist das größte Unrecht"; ähnlich Martin Luther: "Das strengest Recht ist das allergroßest Unrecht". Man wird deshalb auf die Dauer nicht um die Erkenntnis herumkommen, daß sich die notwendige Fortentwicklung des Rechts nicht an den Erwartungen einer Minderheit, sondern an den in Jahrhunderten gewachsenen Überzeugungen der Mehrheit unseres Volkes und an seinen rechtlichen Ordnungen zu orientieren hat. Aufgrund der unterschiedlichen religiösen, geistigen und politischen Traditionen wird das ein sehr schwieriger und deshalb langwieriger Prozeß, der sehr viel Augenmaß, Verständnis und Geduld erfordert. Auch davon spricht Lessing in seiner vielzitierten Ring-Parabel, also nicht nur von "Toleranz", "Sanftmut", "herzlicher Verträglichkeit" und "Wohltun".

"Und wenn sich dann der Steine Kräfte / bei euren Kindeskindern äußern, / so lad ich über tausend tausend Jahre, / sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird / ein weiserer Mann auf diesem Stuhle sitzen / als ich und sprechen. Geht! - so sagte der / bescheidene Richter." In diesem Sinne ist etwas mehr Bescheidenheit in den Auseinandersetzungen zu wünschen.

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


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