© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/04 27. Februar 2004

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Einkaufskultur
Karl Heinzen

Der Siegeszug der Discounter ist ungebrochen. Seit 1998 konnten die Aldis und Lidls dieses Landes ihren Marktanteil im Lebensmittelhandel von 31,3 auf nunmehr 37,8 Prozent steigern. Der altehrwürdige Markenverband spricht bereits von einem "Tod der Mitte", und auch wenn er damit bloß den vertrauten Supermarkt meint, klingt dies ziemlich alarmierend.

Und doch sollte man sich durch solche von einem sehr durchsichtigen Interesse geleiteten Warnrufe nicht erschrecken lassen. Es mag ja sein, daß die zu beobachtende Entwicklung auf einen Verlust an vertrauter Einkaufskultur hinausläuft. Sich darüber aufzuregen zeugt jedoch von einer Konsumgesinnung, die die Qualität des Lebens vor allem daran mißt, was man sich zwischen Geburt und Tod zu gönnen vermag. So etwas aber paßt nicht in unsere Zeit, in der sich mehr und mehr Menschen von einer Sinnstiftung durch materielle Güter abwenden müssen, weil sie außerstande sind, sich diese zu leisten.

Die anachronistische Empörung, die das Verschwinden der "Tante-Emma-Läden" vor einigen Jahrzehnten auslöste, bedarf daher keiner Wiederholung, bloß weil diesmal die Supermärkte an der Reihe sind. Es ist im übrigen per se fruchtlos, sich über einen Trend zu echauffieren, der ja nicht das Resultat abgefeimter unternehmerischer Strategien ist, sondern einzig und allein den sozialen Wandel in einem Massenmarkt widerspiegelt. Damals konnten die kleinen Geschäfte "um die Ecke" schlichtweg nicht mehr bieten, was anspruchsvoll und experimentierfreudig gewordene Verbraucher voller Freude am Genuß an Vielfalt verlangten. Heute geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Eine immer größere Zahl von Haushalten ist gezwungen, nicht erst in der Entscheidung über Sonderausgaben wie Urlaub, Autokauf oder Ausbildung der Kinder, sondern bereits in der alltäglichen Lebenshaltung Rationalität walten zu lassen. Wenn der Preis stimmt, nehmen daher sehr viele Konsumenten unterdessen bereitwillig ein geringeres Sortiment in Kauf.

Den Discountern ist eine große Zukunft nicht zuletzt deshalb beschieden, weil die Armut in unserem Land wieder ein Massenphänomen zu werden verspricht. Sie lindern dabei soziale Spannungen, weil sie dafür sorgen, daß diese Armut eine relative bleibt. Die Grundversorgung der Massen bleibt sichergestellt, auch wenn die privaten Ausgabenspielräume an allen Ecken und Enden schrumpfen. Durch die beliebten Sonderaktionen wird ein Restkontakt mit der Konsumwelt jener aufrechterhalten, die nicht aufs Geld schauen müssen. Die neue Apartheid im Lebensmittelhandel bewahrt die Geringverdiener zudem vor Neidgefühlen und Deklassierungsängsten. Sie schieben ihren Einkaufswagen doch lieber durch eine Aldi-Filiale, in der sie sich praktisch alles leisten können, als im gewöhnlichen Supermarkt vor den zahlreichen Auslagen aus dem Hochpreissegment über vorenthaltene Lebenschancen nachdenken zu müssen.


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