© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/04 27. Februar 2004

In den Westen verkauft
Menschenhandel: Der Visa-Skandal an der deutschen Botschaft in Kiew ist nur ein Beispiel / Grassierende Korruption in der Ukraine / Ausnutzen der Wirtschaftsmisere
Sergej Kalenko

Als Haushälterin nach Deutschland - du verdienst 2.000 Euro in drei Monaten" - ein verlockendes Angebot, das da jungen Frauen in einer ukrainischen Zeitung gemacht wird. Wer sich meldet, nimmt eine harte und illegale Tätigkeit in Kauf.

Was die Mädchen aber nicht wissen: Sie werden als Sexsklavinnen verkauft. Die Ukraine ist neben Weißrußland und Rußland Hauptexporteur an Europas Bordelle. 400.000 Ukrainerinnen unter 23 haben das Land in den letzten zehn Jahren verlassen. Die Internationale Organisation für Migration nimmt an, daß jede Fünfte im Ausland sexuell ausgebeutet wurde.

Die Sorglosigkeit, mit der in der deutschen Botschaft in Kiew von 2000 bis 2002 Visa vergeben wurden, hat nicht nur ukrainischen Hilfsarbeitern und Putzfrauen die Tür in die Europäische Union aufgestoßen. Auch Menschenhändler haben davon profitiert. Schätzungen über den Gesamtumfang des Menschenhandels aus Ost- nach Westeuropa gehen von mehreren hunderttausend Opfern jährlich aus. Unter den wenigen, die von der Polizei in Deutschland aufgegriffen werden, stellen Ukrainerinnen eine der größten Gruppen.

Was sie erzählen, ist furchtbar: Die Zuhälter nehmen den Mädchen den Paß weg, machen sie mit Vergewaltigungen und Drohungen gegen die Familie gefügig. Lohn bekommen sie nicht, sondern werden nach einer jahrelangen Tour durch Bordelle in ganz Europa auf die Straße entlassen.

Das Geschäft der Menschenhändler ist so einträglich wie der Drogenschmuggel - und deutlich weniger riskant. Um einen Täter zu überführen, muß nämlich die ganze Kette von der Anwerbung bis zum Verkauf nachgewiesen werden. In den wenigstens Fällen aber kommt das Delikt überhaupt zur Anzeige. Die in die Heimat zurückgekehrten Mädchen haben Angst, zur Polizei zu gehen. Sie erhalten Drohanrufe von ihren Schleppern, in denen sie und ihre Familien bedroht werden.

Und zur Polizei fehle den Mädchen das Vertrauen, sagt Cordula Wohlmuther von der OSZE-Repräsentation in Kiew. Sie erklärt dies so: "Die ukrainischen Behörden sind verrufen, korrupt zu sein - und das sind sie wahrscheinlich auch." Mit anderen Worten: Die Mädchen fürchten, Polizei und Menschenhändler könnten gemeinsame Sache machen. Seit es in der Ukraine ein Gesetz gegen den Menschenhandel gibt, sind etwa 300 Gerichtsverfahren eingeleitet, aber davon bislang nur 14 vor Gericht gebracht worden.

Viele der zurückgekehrten Mädchen halten noch aus einem anderen Grund still: Sie schämen sich für das, was ihnen passiert ist. Gerade in Dörfern und kleinen Städten macht die Nachricht, einmal ans Tageslicht gekommen, schnell die Runde. "Die Mädchen werden sogar als Huren beschimpft, unappetitliche Details des Geschehenen werden übertrieben dargestellt", erzählt Katerina Tscherpacha vom Kiewer Frauen-Hilfszentrum "La Strada" aus ihrer Erfahrung. Häufig trauten die Opfer sich nicht einmal, offen mit ihren Eltern zu sprechen - um keine Schande über die Familie zu bringen.

Lange wollten in der Ukraine weder Staat noch Gesellschaft etwas von dem Problem des Menschenhandels wissen. "Was wollt ihr, haben sie am Anfang zu uns gesagt, so ein Problem gibt es nicht", berichte Irina Babjenko über den Anfang ihres Beratungszentrums in einer ukrainischen Kleinstadt vor dreieinhalb Jahren. Staatliche Stellen hätten sie nicht einmal empfangen. Erst nach und nach seien die Leute zu ihnen gekommen, hätten hinter vorgehaltener Hand geflüstert: "Meine Tochter ist verschwunden, bitte helfen Sie uns!"

Das öffentliche Bewußtsein hat sich entwickelt: Vor allem auf den Druck westlicher Staaten hin hat die Ukraine in den letzten drei Jahren einiges unternommen. Im Innenministerium gibt es jetzt eine spezielle Abteilung für den Kampf gegen den Menschenhandel, die Polizisten werden in Großbritannien von Scotland Yard geschult, an die Schulen werden Videoclips zur Information und Vorbeugung verteilt.

Die Menschenhändler jedoch sind allen gutgemeinten Aufklärungskampagnen immer einen Schritt voraus. Nachdem die ukrainische Polizei begonnen hat, verdächtigen Stellenanzeigen nachzugehen, suchen die Schlepper heute den persönlichen Kontakt. Teuer gekleidete Frauen berichten am Samstagabend in den Kneipen von ihrem luxuriösen Leben im Westen.

Sie geben vor, dort zu arbeiten oder verheiratet zu sein, und versprechen Hilfe bei der Emigration. Selbst ehemalige Klassenkameradinnen werden einbezogen: Die Organisationen versprechen einem bereits ausgebeuteten Opfer die Freiheit - wenn es zu Hause neue Mädchen anwirbt.

Auch wenn sich die Maßnahmen gegen den Menschenhandel in der Ukraine verbessert haben - die Opfer werden nach wie vor vom Staat vergessen. Die Einrichtungen, die den Opfern helfen, werden von westlichen Regierungen, etwa der holländischen, und internationalen Organisationen finanziert. So gibt es heute ein Netz von Vereinen, die auf der einen Seite ausreisewillige Mädchen über Risiken informieren, auf der anderen Seite mißbrauchten Mädchen helfen. In Kiew betreibt die Internationale Organisation für Migration ein Heim, wo Opfer medizinisch und psychologisch betreut werden. Nach spätestens drei Monaten werden aber auch die Frauen, die es am schlimmsten getroffen hat, zu ihren Familien zurückgeschickt - aus Platzmangel.

Natascha, die Psychologin des Heims, will ihren vollen Namen nicht nennen. Sie hat Angst vor der Mafia der Menschenhändler. Die Folgen des Menschenhandels, so sagt sie, nehmen in manchen Regionen der Ukraine schon allgemeingesellschaftlichen Charakter an. Sie berichtet von Dörfern, wo an die hundert Mädchen zeitweise in Westeuropa waren. "Und wenn man fragt, wer von denen mit Geld zurückgekommen ist, dann werden gerade vier oder fünf aufgezählt." Nicht nur, daß vielen der Heimkehrerinnen die Energie zu einem aktiven Leben verlorengegangen ist und manche einen Haß auf Männer entwickelt haben. Viele kommen mit schweren Krankheiten zurück, sind mit Syphilis oder HIV infiziert.

Besonders gefährdet ist nach Nataschas Erfahrung der Westen der Ukraine. Die Menschen hier fühlen sich zu Westeuropa gehörig und reisen ohne Bedenken ins Ausland, vor allem nach Polen. Polen ist für die Menschenhändler aber häufig nur eine Zwischenstation, von wo die Mädchen weiter nach Westen gebracht werden. Viele Ost-ukrainerinnen werden dagegen zuerst nach Moskau und dann weiter nach Amerika oder Asien verschleppt.

Fakt ist, daß die meisten der in Deutschland aufgegriffenen Zwangsprostituierten legal nach Deutschland eingereist sind, das heißt: mit einem gültigen Visum. Tatsächlich galt die deutsche Vertretung in Kiew zwischen 2000 und 2002 wegen ihrer von Berlin angeordneten liberalen Visapolitik unter der ukrainischen Bevölkerung als das Einfallstor in die Staaten des Schengener Abkommens. Das hat sich inzwischen geändert: Zum einen sind die Anforderungen an eine Visumserteilung wieder gestiegen, zum anderen wird strenger kontrolliert.

Doch trotz aller Maßnahmen von ukrainischer und westeuropäischer Seite: Die Arbeiter an der Basis sehen pessimistisch in die Zukunft. Cordula Wohlmuther von der OSZE geht davon aus, daß die Bereitwilligkeit zur Ausreise in den Westen auch weiterhin ausgebeutet wird. "Die Leute müssen einfach fahren, um sich irgendwie zu ernähren", sagt sie.

Die Arbeitslosigkeit in der ukrainischen Provinz liegt an vielen Orten bei 50 Prozent, und selbst wer eine Beschäftigung findet, muß mit 50 Euro pro Monat zufrieden sein. Jüngsten Umfragen zufolge sind 70 Prozent der 18- und 19jährigen Ukrainer bereit, ins westliche Ausland auszuwandern. Cordula Wohlmuther: "Wir müssen die Ukraine wirtschaftlich unterstützen. Solange es den Menschen hier nicht besser geht, werden wir immer das Problem des Menschenhandels haben."

Fotos: Verarmte Rentnerin in Kiew: Viele junge Menschen in Osteuropa wollen der dortigen Armut entfliehen und wünschen sich westlichen Luxus


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