© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/04 27. Februar 2004

In roten Strukturen steckengeblieben
Neue Bundesländer: Die verfehlte Nachwende-Politik - auch in Form der nicht rückgängig gemachten Enteignungen - setzt eine jahrhundertealte Kulturlandschaft aufs Spiel
Matthias Bäkermann

Die deutsche Wiedervereinigung ist in wirtschaftlicher Hinsicht gescheitert. Die Entwicklung des Ostens ist sogar schlechter und katastrophaler verlaufen, als es 1990 die größten Pessimisten vorhergesehen hatten." Mit diesen knappen und in ihrer Kritik vernichtenden Sätzen faßte vor knapp zwei Wochen der Präsident des Münchener Ifo-Institutes, Hans-Werner Sinn, in einem Interview des Mitteldeutschen Rundfunks das primäre Bemühen der deutschen Innenpolitik in den neunziger Jahren bis heute zusammen. Sinn erinnerte daran, daß es den erwarteten "selbsttragenden Aufschwung" in den neuen Bundesländern nicht gebe und daß die Lücke zwischen Ost und West immer größer werde.

Die Bodenverteilung durch die BVVG war fehlerhaft

Selbst ein 1990 ebenfalls nicht abzusehender Finanztransfer in Höhe von geschätzt einer Billion Euro konnte diese in weiten Teilen doch treffende Analyse im Jahr 2004 nicht verhindern. Zum Preis einer gigantischen Staatsverschuldung wurde ein beachtlicher Aufbau der Infrastruktur mit neuen Autobahn- und Hochgeschwindigkeitszugtrassen geschaffen. Ortschaften und Städtchen wurden hübsch ausgestaltet und renoviert. In Brandenburg an der Havel, Angermünde in der Uckermark, oder im niederschlesischen Hoyerswerda gewinnt der Besucher heute tatsächlich den Eindruck "blühender Landschaften". Wirtschaftlich tragfähige Strukturen sind allerdings nur wenige entstanden. Der Jahreswirtschaftsbericht 2004 der Bundesregierung weist sogar in fast allen Wirtschaftssektoren seit 1995 eine kontinuierlich Abnahme des Investitionsvolumen in den neuen Ländern aus, das mit 70 Milliarden Euro wieder auf den Stand von 1992 zurückgefallen ist. Einige hochsubventionierte Großprojekte wie die Chipfabrik in Frankfurt/Oder, das Cargolifter-Projekt oder der Lausitzring sind gescheitert, andere große Firmen hängen selbst nach zehn Jahren am Subventionstopf oder nutzen die - mit Blick auf die EU-Osterweiterung - launenhaften Strukturförderungsprogramme als alleinige Entscheidung für den Wirtschaftsstandort. Kaum irgendwo konnte sich ein Mittelstand wie im Westen als Motor des Steueraufkommens und vor allem als größter Arbeitgeber etablieren - selbst nicht in der weite Teile der Ex-DDR prägenden Landwirtschaft.

Die Auswirkungen sind bekannt: Seit 1990 haben fast zwei Millionen hauptsächlich junge und gut qualifizierte Bürger die neuen Länder in Richtung Westen verlassen, dazu kommt eine sehr große Zahl von Wirtschaftspendlern, die von Montag bis Freitag oder sogar täglich ihrer Erwerbstätigkeit im Westen nachkommen. Ganze Landstriche entvölkern sich geradezu oder vergreisen in der Bevölkerungsstruktur - jahrhundertealte Strukturen brechen zusammen.

Warum ist es zu diesem Ergebnis gekommen? Welche Fehler wurden gemacht, um die früher wirtschaftlich so potente Region nicht zu reaktivieren? Immerhin waren Teile Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens vor 1945 sogar leistungsfähiger als das Ruhrgebiet. Für einige ist diese Frage erstaunlich leicht zu beantworten. So verweisen zum Beispiel die jüngst durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ins Gespräch gekommenen benachteiligten ehemaligen Grundbesitzer in den neuen Bundesländern darauf, daß mit der versäumten Rückgabe ihres Eigentums nach der Wende gleichzeitig auch auf ihre Impulse als private Wirtschaftsförderer verzichtet wurde. "Die noch im Staatsbesitz befindlichen Immobilien sind sofort und unbürokratisch den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben - in der Hoffnung, daß auch viele Jahre nach der Wiedervereinigung möglichst viele dieser Familien sich vor Ort beim Wiederaufbau engagieren, damit neue Wirtschaftsstrukturen errichtet werden", fordert der mittelständische Unternehmer Heiko Peters aus Hamburg, der sich seit Jahren für die Interessen der Alteigentümer in der ehemaligen DDR einsetzt. Derselben Meinung ist auch Manfred Graf von Schwerin, Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum. Insbesondere das immer noch im Besitz des Staates befindliche Eigentum solle zurückgegeben werden, um Impulse für ein privates Engagement anzuregen. Dieses griffe in keine bestehende Eigentumsverhältnisse Dritter ein. Ohnehin stelle der Landbesitz in vielen Fällen praktisch ein "totes Kapital" für den Fiskus dar.

SED-"Wendejunker" haben sich die Sahnestücke gesichert

Doch die Verantwortlichen an dieser Stelle reagieren stur. Bundesfinanzminister Hans Eichel muß sich zwar der Tatsache bewußt sein, daß das ursprüngliche Konzept seines Vorgängers Theo Waigel (CSU), aus den Erlösen des Verkaufes einen großen Teil der Wiedervereinigungskosten zu begleichen, überhaupt nicht in Erfüllung ging. Die alle Erwartungen enttäuschenden 2,2 Milliarden Euro, die das Finanzministerium seit 1992 aus dem Verkauf der enteigneten Immobilien erzielten, konnten nur wenig zum "Aufbau Ost" beitragen. Auf den noch zu erwartenden Beitrag aus weiteren Verkäufen mag man jedoch trotzdem nicht verzichten.

Die für die Veräußerung zuständige Behörde, die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG), warb noch auf der Grünen Woche 2004 in Berlin damit, wie viel schon veräußert wurde und was es noch zu tun gäbe. "Die BVVG hat heute viel weniger Flächen als vor zwölf Jahren. Es sind noch mehr als 700.000 Hektar Äcker und Wiesen sowie 200.000 Hektar Wald zu privatisieren." So beschreibt der "Immobilien-Dienstleister des Bundes im ländlichen Raume" seine Ziele für die nächsten Jahre. Neben der bisherigen Praxis, große Flächen im Bundesbesitz langfristig zu verpachten (Pachtlaufzeit 18 Jahre), soll nun auf Druck des klammen Ministeriums an der Leipziger- Ecke Wilhelmstraße vermehrt verkauft werden. Allerdings steht wegen noch geltender Pachtverträge und dem Vorkaufsrecht derzeitiger Pächter (in den meisten Fällen ehemalige LPG-Nachfolger) nur ein kleiner Teil überhaupt für den "freien Markt" zur Verfügung. Selbst BVVG-Geschäftsführer Wilhelm Müller gesteht ein, daß "sich zunächst nicht viel ändern wird". Von der riesigen zu veräußernden Fläche stehen ganze 3.000 Hektar potentiellen Käufern bereit, um der durch LPG-Kataster geprägte Großflächen-Landwirtschaft eine andere Richtung zu geben.

In dieser Hinterlassenschaft der DDR und ihrer Fortführung nach der Wende sieht Jörg Gerke den Hauptgrund, daß auch in den landwirtschaftlichen Gebieten Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsen-Anhalts sich die Entwicklung so negativ gestaltet. Gerke ist Mitglied im Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft (AbL), eine Alternativgruppierung zum Deutschen Bauernverband, und gleichzeitig AbL-Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern. "Die BVVG-Bodenverteilung ist fehlerhaft. Seit Beginn ihrer Tätigkeit bevorzugt die BVVG allein die aus den ehemaligen LPG hervorgehenden Großbetriebe und trägt dadurch zur allmählichen Entvölkerung in weiten ländlichen Gebieten der ehemaligen DDR bei." In Gerkes Vortrag auf dem letzten Bauerntag im brandenburgischen Beelitz wird Tacheles geredet. Bei dieser ungerechten Verteilung - so wird immer wieder auf der Veranstaltung am 13. Februar laut - hätten sich "Wendejunker" aus den "SED-Nomenklatur-Kadern im ländlichen Raume" mit Unterstützung der parteipolitischen "Blockflöten" der seit 1990 in weiten Teilen Mitteldeutschlands regierenden CDU in bester Vetternwirtschaft-Manier die Sahnestücke aus dem Erbe der sozialistischen Agrarpolitik gesichert. So seien durch den verbilligten Verkauf von BVVG-Flächen neunzig Prozent des Landes an die kleine Gruppe der Großbetriebe (etwa zehn Prozent) gefallen, die oftmals durch die schon während der DDR-Zeit dort tätigen LPG-Vorsitzenden weitergeführt wurden. Die Förderpolitik der Europäischen Union begünstige zudem die damit entstandenen Riesenbetriebe in einem exorbitanten Rahmen, so Gerke.

Die Agrarfabriken haben feudale Ausmaße erreicht

Durch die seit Jahren andauernde Umstellung auf die arbeitsextensive Ackerbewirtschaftung würden 2.000 Hektar-Betriebe mit ganzen fünf Personen deutlich besser gestellt als jede kleinere Wirtschaftsform, geschweige denn die bäuerlichen Familienbetriebe. Durch die ungerechte Verteilung nach 1990, die vergünstigte Pacht von der BVVG und das EU-Prämien-System ergebe sich "eine feudale Leibrente" für die derzeitig wenigen Agrarbetriebe, die damit langfristig zementiert werde, zog Gerke resigniert Fazit. Zu allem Überfluß wurde durch die politisch erwirkte "Altschuldenregelung", mit der den LPG-Nachfolgern die Schulden aus DDR-Zeiten teilerlassen wurden, einer kleinen Zahl von 5.500 Betrieben ein Geschenk von - bisherige Steuerabschreibungen eingerechnet - vier Milliarden Euro gemacht. Für 2005 ist ein vollständiger Erlaß der Restschulden geplant, bei dem der Fiskus 360 Millionen Euro in den Wind schreibt.

Die damit geschaffenen Großstrukturen haben dabei den vollen Rückhalt der politischen Parteien, die auf lokaler und regionaler Ebene auch direkt mit den Begünstigten in Verbindung stehen. Sogar der Einsatz von ABM-Kräften, um die Infrastruktur von ehemaligen LPG-Betrieben zu sanieren, wurde in trauter Übereinstimmung mit den örtlichen Arbeitsämtern arrangiert, wie einige Vertreter auf dem AbL-Bauerntag erbost berichteten. Politische Übereinstimmung ist in dieser Frage selbst zwischen politischen Gegnern wie CDU und PDS schnell herzustellen. Letztere hat in der Abwägung zwischen knallharter Lobbypolitik zugunsten der Großagrarier und ihrem angeblichen Eintreten für soziale Gerechtigkeit letztere schon lange über Bord geworfen. Auch die SPD hat auf Länderebene schon lange zugunsten des Nachwende-Status-quo Stellung bezogen. Mit dem Landwirtschaftsminister Till Backhaus in Mecklenburg-Vorpommern haben die Agrarfabrikanten sogar ihren prominentesten Vertreter an entscheidender Stelle. Die CDU in den neuen Bundesländern war in der Wendezeit über ihre an SED-Weiterbildungszentren auf Linie gebrachten DDR-CDU-"Blockflöten" wie Lothar de Maiziere maßgeblicher Initiator, die überbrachten DDR-Strukturen in die vereinigte Bundesrepublik zu retten. Selbst der offiziell überparteiliche, de facto aber der Union nahestehende Deutsche Bauernverband hat in der Agrarfrage Ost eindeutig Stellung bezogen. Der Besuch des Vorsitzenden Gerd Sonnleitner anläßlich einer Jubiläumsfeier zum 50. Bestehen einer LPG in Sachsen-Anhalt 2002 war skurriler Höhepunkt dieser politischen Querfront.

Der Entwicklung in den neuen Ländern wird diese Politik allerdings wenig helfen. Selbst in agrarisch geprägten Regionen ist durch die Agrarfabriken der Faktor Arbeitsplatz auf ein Minimum geschrumpft. Der Weggang junger Leute läßt diese Regionen weiter ausbluten, bis schließlich sogar die dörfliche Strukturen auseinanderbrechen. Der Erhalt der Kulturlandschaft wird so aufs Spiel gesetzt. Propagandistisch wird statt dessen auf andere Schlachtfelder ausgewichen. So agitiert Backhaus gegen die Alteigentümer und Neusiedlererben in der Süddeutschen Zeitung, denen er angesichts der teilweise schon erfolgreichen Klagen auf europäischer Ebene die Belastung der bäuerlichen Strukturen bzw. der Haushalte der östlichen Bundesländer "und damit des Steuerzahlers" vorhält.

In klassenkämpferischer Manier malt Backhaus das Bild des wiederkehrenden Junkers auf seine ostelbischen Besitzungen aus und warnt vor dem Rückfall in alte Feudalstrukturen. Daß selbst aus dem Kreis der 1945 bis 1949 Enteigneten mehr als die Hälfte weniger als 100 Hektar besaßen, ebenso wie die meisten "Neusiedlererben", scheint dabei denjenigen nicht zu interessieren, der an der Installation eines "roten Großagrarierwesens" beteiligt war und ist, welches selbst zu Glanzzeiten ostelbischen Junkertums im 19. Jahrhundert nicht erreicht wurde.

Fotos: Verrostete Planierraupe im brandenburgischen Ort Bleyen Genschmar im Oderbruch mit über 50 Prozent Arbeitslosigkeit: Weite Landstriche bluten aus, jahrhundertealte Dorfstrukturen zerbrechen


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