© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/04 27. Februar 2004

"Elite" ist kaum zu übersetzen
von Bernd Rabehl

Edelgard Buhlman, als Ministerin verantwortlich für Bildung und Wissenschaften, sprach unvermittelt vor der Presse über den Aufbau von "Elite-Universitäten" in Deutschland. Auf den Straßen tummelten sich die studentischen Jungwähler und forderten den freien und gebührenlosen Zugang zum Studium und fanden den Zuspruch unzähliger SPD-Politiker, die im Studentenstreik so etwas sahen wie ein Wahlhappening für ihre Partei. Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde im Amt plötzlich konfrontiert mit unangenehmen Zahlen. Vier- bis fünftausend junge Wissenschaftler, deren Ausbildung und Qualifikation zwischen hundert- und fünfhunderttausend Euro gekostet hatte, verließen pro Jahr Deutschland und gingen in die USA oder nach Australien. Die deutschen Universitäten und Forschungsinstitute sahen sich außerstande, die jungen Akademiker zu beschäftigen. Deutschland überwies indirekt den USA oder dem Pazifikkontinent eine Entwicklungshilfe in Sachen Wissenschaft von etwa fünf Milliarden Euro jährlich. Das war genau die Summe der kärglichen Entwicklungshilfe, die dieser Staat an die unzähligen Hungerregionen der Welt vergab. Ähnlich wie die DDR finanzierte nun die Bundesrepublik über Wissenschaft und Forschung die wirtschaftliche Konkurrenz. Solche Hinweise mußten den Kanzler ärgern, und wie ein Caesar gab er die Anweisung, daß diese Wissenschaftler gehalten werden und für sie Elite-Universitäten geschaffen werden mußten.

Buhlman übernahm das Kanzlerwort, ohne recht zu wissen, auf was sie sich da eingelassen hatte. Von der Ausbildung her war sie Erziehungswissenschaftlerin. Das war ein Fach, das 1968 in den Rang einer Wissenschaft erhoben wurde, um die vielen Lehrer und Parteigänger der SPD in den Rang von Professoren zu erheben und an die Universität zu hieven. Die Pädagogisierung und Ideologisierung der Sozialwissenschaften hatten dazu geführt, daß diese vielen "Fächer" die theoretische und wissenschaftliche Ausrichtung verloren hatten. Spezialwissen sollte vermittelt werden.

Die Professoren mochten redliche Handwerker sein, aber sie büßten vor lauter Details die Übersicht ein. Es gab keinen theoretischen Maßstab mehr. Die Reflexion hatte kein Ziel. Modelle, Methoden, Einzelheiten waren gefragt. Eliten waren überhaupt anrüchig. Sie gehörten zu einer vergangenen Zeit und waren Ausdruck der "Reaktion". Professoren, Assistenten und Studenten waren alle gleich, zwar nicht im Salär, jedoch in der wachsenden Verantwortungslosigkeit und im Zerreden und Nivellieren von Wissenschaft. Dazwischen agierten noch die kleinen Päpste, die Kongreß- und Fernsehprofessoren, die von Symposium zu Symposium eilten, lesen und schreiben ließen, Blockseminare veranstalteten, um Zeit zu finden für die Selbstdarstellung.

Das waren die neuen "Analphabeten" der Wissenschaft. Sie diktierten ihren Sekretärinnen die Vorworte zu den unzähligen Analysen ihrer Mitarbeiter und Studenten. Sie kombinierten ihre Aussagen über Zeitungsartikel oder Gerüchte. Sie gaben ganze Buchreihen heraus und blufften in Zeitschriften und Journalen. Sie stifteten Moden und Bekenntnisse. Ihr Wort galt etwas in Politik und Kultur.

Die Einzelstaaten der USA errichteten Colleges, die auf eine Grundqualifikation der Studenten ausgerichtet waren, die etwa zwei Jahre währte. Die Eliten bevorzugen die privaten Stiftungsuniversitäten.

Sie agierten als Manager, Ideologen, Wahrsager und Schwätzer der Nation. Sie erfanden den Talk, damit niemand ihre Dummheit und den Verlust von Bildung wahrnahm. Der redliche Handwerker und die Medienmeister hatten allerdings in der großen Angst etwas Gemeinsames, daß aus den Reihen ihrer Assistenten oder Studenten jemand sie in ihrer ganzen Erbärmlichkeit vorführen konnte. Schon deshalb ekelten sie alle redlichen Scholaren und Nachwuchswissenschaftler heraus. Über Elite konnte schon deshalb nicht gesprochen werden, weil sie auf jeden Fall wußten, daß sie nicht dazugehören würden ...

Die unterschiedlichen Typen von Elite-Universität sind jeweils auf die historische Macht bezogen, in der sie Form und Gestalt annahmen. In den USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland oder Rußland, um nur die Universitäten zu benennen, die sich aufeinander beziehen konnten, waren die Ausbildungsstätten und die Funktion von Eliten jeweils unterschiedlich. Es kann deshalb keinen größeren Unsinn geben, als etwa die Arbeitsweise einer Harvard University auf Deutschland aufpfropfen oder umgekehrt die deutsche Universität auf die USA oder Rußland übertragen zu wollen. Aber derartige Vorschläge werden von den "Spezialisten" der Bildungspolitik immer wieder gemacht. Wir lassen deshalb die einzelnen "Funktionen" von Elite und Bildung in den USA und Deutschland Revue passieren, um Aussagen über deren Aufgaben in Deutschland machen zu können.

In den USA waren Bildung und Universität Bestandteil der wirtschaftlichen Expansion eines dynamischen Kapitalismus und der wachsenden Macht des Staates in den Kriegen nach innen und außen. Die Besiedlung Nordamerikas durch Religionsgemeinschaften, nationale Minderheiten und Gruppen machte Schule, Erziehung und Bildung zum Gegenstand der einzelnen Gemeinden oder Städte. Der Oberste Gerichtshof der USA legte bereits 1819 fest, daß Hochschulen ohne staatliche Intervention eingerichtet und unterhalten werden konnten. Sie wurden als selbständige Unternehmen gegründet und finanzierten sich über Studiengebühren. 1862 erweiterte der Kongreß die finanziellen Möglichkeiten dieser Bildungsanstalten. Sie unterhielten Farmen, Firmen oder machten Finanzgeschäfte, um den Etat zu erweitern. Die Einzelstaaten gründeten zusätzlich Colleges und übernahmen die finanzielle Verantwortung. Durch eine großzügige Steuergesetzgebung entstand eine Vielzahl von Stiftungen, die Geld akkumulierten und den Hochschulen zur Verfügung stellten. Um dem wachsenden Ansturm auf diese Einrichtungen zu genügen, errichteten in den fünfziger Jahren die Einzelstaaten "Staatsuniversitäten" und in den sech-ziger Jahren "Community Colleges", die auf eine Grundqualifikation der Studenten ausgerichtet waren, die etwa zwei Jahre währte.

Die Eliten bevorzugten die privaten Stiftungsuniversitäten, die zusätzlich als Firmen und Banken agierten und viel Geld akkumulierten, die sie in Forschung und Lehre einsetzten. Sie erhoben hohe Studiengebühren, versorgten jedoch ihre erfolgreichen Absolventen mit hochdotierten Stellen in Wirtschaft, Militär und Administration. Da es nur im geringen Ausmaß Langzeitverträge oder Dauerstellen gab, war die Mobilität unter den Dozenten und Wissenschaftlern groß, und der Nachwuchs besaß immer wieder Chancen, Stellen und Positionen zu erwerben oder zu verlieren.

Deutschland besaß schon deshalb eine andere Universitäts- und Bildungsgeschichte, weil dieses Land sich aus der feudalen und zugleich kirchlichen Tradition herausentwickelte und zu einer inneren Einheit und Nation über Wirtschaftsexpansion, Revolutionen, Reformen und Kriege finden mußte. Die Geburtsstunde der modernen Universität lag in Preußen und war Bestandteil der großen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Wilhelm von Humboldt arbeitete als Minister an einer Konzeption von Bildung, die gleichzeitig mehrere Ziele verfolgte. Sie sollte neben der Alphabeti-sierung und Berufsausbildung der unteren Schichten den Wissensstand der verschiedenen Zwischen- und Mittelschichten fördern und zugleich eine Geistesaristokratie an nationalen Universitäten schaffen, die über Spitzenforschung die Gesamtheit von Wissen bereicherten. Humboldt war Sprachforscher. Nach seiner Sicht schuf die Sprache das innere Band von Kultur. Der Staat sollte die Bildung unter Aufsicht nehmen, weil er die Gesamtheit von Gesellschaft unter Kontrolle hielt und zugleich dem Ziel des sozialen Fortschritts und der nationalen Größe verpflichtet war.

Diese Sicht trug idealistische Züge, wurde der reale Staat mit dieser Bil-dungsfiktion verglichen, sie war zugleich konsequent, wurde davon ausgegangen, daß Bildung eine innere Einheit darzustellen und zugleich eine historische Aufgabe zu erfüllen hatte. Humboldt hegte Mißtrauen gegen den Staatsapparat, der willkürlich oder bürokratisch agierte, solange er nicht einbezogen wurde in die "Bildungsrevolution". Eine "wissenschaftliche Deputation" von großen Persönlichkeiten sollte die zuständige Behörden beraten, war selbst jedoch vollkommen unabhängig. Sie war so etwas wie eine "Aufsicht" über den Staat. Sie sollte auf eine Nationalerziehung drängen, um die Nation zu einem Faktor zu machen, der die sozialen Veränderungen durch Industrialisierung und Verstädterung mitgestalten würde. Nicht der Staat, sondern die Nation würde langfristig die Koordinierung von Bildung übernehmen.

Die Freie Universität übernahm in West-Berlin die Aufgabe, so etwas zu sein wie eine Humboldt'sche Universität eines geteilten Landes. Sie war eine studentische Gründung, ein Protest gegen die Übertragung russischer Methoden von Kadererziehung auf die Ost-Berliner Universität. Die USA unterstützten die Neugründung einer Universität im Westen Berlins, um ein Gegengewicht zur kommunistischen Einflußnahme zu schaffen. Hier studierten Studenten aus Ost und West. Hier gab es den Austausch der Professoren und Dozenten, die aus Westeuropa und Nordamerika kamen und ihr Wissen vortrugen. Die demokratische Teilhabe der Funktionsträger an Verwaltung, Studium, Lehre und Forschung war großzügig angelegt. In West-Berlin, dem Kristallisationspunkt der deutschen Teilung, flammte immer wieder in Politik und Alma Mater der Streit über Deutschland und die deutsche Nation auf, der im Westen weitgehend vergessen wurde. Selbst die Diskussion über eine Theorie bzw. die "Idee", die alle Wissenschaften zusammenführen und mit Sinn versehen sollten, um alle Konfusionen und Absurditäten des Einzelfachs zu vermeiden, fand an der FU als "Studium Generale" Anklang. Das lag alles vor der Studentenrevolte.

Leute wurden an die Universitäten gespült, denen Interesse und Begabung fehlten und die hier mit gewissem Anspruch "beschäftigt" wurden, weil sie erst einmal aus den Arbeitslosenstatistiken verschwinden sollten.

Die studentischen Rebellionen an der FU und allen westlichen Universitäten, Fachschulen und höheren Schulen trugen den vielen Fehlentwicklungen Rechnung. Das jugendliche Unbehagen war gegen die Erziehungsform, aber primär gegen eine Ausbildung gerichtet, die nicht mit den modernen Berufen oder Anforderungen harmonisierte. Die Rebellen fühlten, daß diese "mittelalterliche Universität" den neuen Problemen der Zeit nicht gewachsen war. Neue Theorien wurden eingefordert, die in der verbotenen und verbrannten Wissenschaftsliteratur nach 1933 zu liegen schienen.

Die Dispute über eine Theorie, die Vergangenheit und Gegenwart vermitteln sollte und zugleich auf die Zukunft verwies, folgten anfangs immer noch über Marx den Humboldt'schen Vorstellungen, daß die Reform der Bildung ein soziales Ziel benötigte und daß sie Bestandteil von vielen Gesellschaftsreformen sein mußte. Die Rebellen gingen jedoch sehr schnell eigene Wege. Während Teile von ihnen sich einem "Revolutionismus" verschrieben, der die Revolutionen und Entwicklungen fremder Gesellschaften auf Teildeutschland übertrugen, waren die Politiker bemüht, die studentische Unruhe einzudämmen durch Karrieren und Öffnungen. Einer großen Masse von Dozenten wurden Professorenstellen überschrieben und zugleich die Universität für die breite Masse von Studierenden geöffnet.

Die Universitäten verloren ihre Autonomie. Über die staatlichen Bürokratien der Länder griffen die Parteien direkt in die Angelegenheiten der Universität ein. Sie stritten über die Finanzierung, Berufungen und Ausstattungen und setzten ihre Ziele durch. Die Bildungsreform wurde isoliert, und jeder Zusammenhalt zu den gesellschaftlichen Aufgaben ging verloren. Die Idee der Universität wurde ersetzt durch die Konzeption von Arbeitsmarkt und Arbeitsbeschaffung. Die Fachhochschulen wurden partiell der Universität einverleibt, ohne allerdings Fächer, Qualifikationen oder Berufe zu bedienen. Lehre und Forschung wurden weitgehend voneinander getrennt und isoliert. Ein forschendes Lernen war genausowenig möglich wie eine offene Kooperation zwischen Professoren, Dozenten und Studenten. Leute wurden an die Universitäten gespült, denen Interesse und Begabung fehlten und die sich hier "beschäftigen" ließen, weil sie aus den Arbeitslosenstatistiken verschwinden sollten.

Das nordamerikanische Zusammenspiel von Universitäten und Colleges kann schon deshalb nicht übertragen werden, weil Deutschland keine Großmacht darstellt und nicht die Attraktivität besitzt, jährlich Tausende von Spitzenwissenschaftlern aus aller Welt an die unterschiedlichen Forschungseinrichtungen zu bringen. Der hiesige Bildungsmarkt kann mit dem nordamerikanischen Angeboten nicht konkurrieren. Er würde die bestehenden Differenzen bestärken, zumal auch die Bildung in den USA unproduktive Züge hat. Das Humboldt'sche Denken an die Anforderungen des neuen Jahrtausend anzupassen, wäre ein schwieriges Unterfangen, jedoch die einzige Alternative. Aber so wenig über die umfassenden Reformen einer "Neuordnung" nachgedacht wird, so wenig hat die Idee der Nation eine Bedeutung. Im Prozeß der Europäisierung die Traditionen und Kapazitäten von nationaler Kultur der einzelnen Gesellschaften zu ignorieren, grenzt an politisches Abenteurertum oder ist Kennzeichen dafür, daß die nationalen Eliten längst ihre Autonomie aufgegeben haben.

 

Prof. Dr. Bernd Rabehl, Jahrgang 1938, war 1967/68 Mitglied im Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Von 1973 bis 2003 lehrte er Soziologie an der Freien Universität Berlin.

Foto: Der Kommandant des amerikanischen Sektors in Berlin, Oberst Frank Howley, während seiner Ansprache zur Gründung der Freien Universität am 4. Dezember 1948: Die US-Amerikaner versuchten, ihren Geist in Deutschland auch über die Universitäten zu verbreiten. Doch sie stießen auf ganz andere Traditionen.


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