© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/04 05. März 2004

Im Einkaufszentrum
Alban Bergs "Wozzeck" an der Semperoper in Dresden
Konrad Pfinke

Die Frage ist nicht neu, muß aber immer wieder gestellt werden: Wieviel "Wirklichkeit" verträgt eigentlich die Oper? Die Antwort auf die Frage, was denn Alban Bergs 1925 uraufgeführte Oper "Wozzeck" mit seiner Darstellung eines Außenseiters uns satte Bundesbürger noch angeht, könnte vielleicht zu Ungunsten des Komponisten ausgehen, gäbe es da nicht die erschütternde, große Musik - und gäbe es nicht Regisseure wie Sebastian Baumgarten, für die die Werke der Vergangenheit nur in bezug auf ihre Gegenwart, ihren Lebensraum ergiebig sind. Seine Deutung der Oper verlegt sich folgerichtig - bis zur Schmerzgrenze - aufs Naheliegende.

Pech für Wozzeck, daß er dieses Naheliegende nicht begreift. Für Baumgarten ist der Fall Wozzeck einer, der um die Ecke spielt: im verkommenen öffentlichen Raum unserer Einkaufszentren, in denen die Gestalten der Nacht, die "Penner", Huren und "Gothics", also der "Hauptmann", der "Doktor" und Marie ihr armseliges Leben fristen. So wird der schwer labile Wozzeck zum Opfer einer anarchischen Gesellschaft der aus dem sozialen Netz Gefallenen.

Die Werbewelt, deren Zeichen, also Slogans und Logos er nicht zu deuten vermag, ist schon zuviel für den, der sich nicht zurechtfindet, und so erklärt Baumgarten die Geschichte eines Menschen, der zwischen ec-Automat und Einkaufstüten vom religiösen Spinner zum entmenschten Roboter mutiert: Wozzeck, eine traurige Geschichte von hier und heute, in der "globale Verantwortung" und "soziale Gerechtigkeit" zum Schlagwort verkommen sind. Somit ist es keine Kunst, in dem Stück über die "armen Leut" von anno 1820 oder 1925 die von heute zu entdecken - aber es erfordert vermutlich Mut, in der Semperoper eine derart radikale Interpretation vorzulegen.

Es ist geradezu phantastisch, wie die Sänger das durchdachte Konzept zum Triumph des Gegenwartstheaters über die Kulinarische Oper führen. Die Sänger, die szenisch und stimmlich alles zu geben vermögen, verbürgen die Qualität der Aufführung: Andreas Schmidts warmer Bariton gibt dem Wozzeck die rechte Leidenskraft, Evelyn Herlitzius ist eine hinreißend nervöse Marie, Wolfgang Schmidts brutaler Hauptmann ist reichlich präpotent, und Kim Begley hat als glänzender Tambourmajor seinen Teil an der Brutalität der vorgeführten Welt.

Johann Tilli spielt einen stimmschönen Doktor - und das ganze Unternehmen wird von Marc Albrecht geleitet, der in der Semperoper bereits zwei Uraufführungen ("CELAN" von Peter Ruzicka und "Thomas Chatterton" von Matthias Pintscher) eindrucksvoll geleitet hat. In Dresden holt er die glühenden Farben der Spätromantik aus der Partitur heraus.

Bergs Musik trägt die Inszenierung schon deshalb, weil sie ihrerseits nicht frei ist von Brüchen - und weil Berg mit dem sensiblen Gespür für lyrische Töne eine Sehnsucht komponierte, von der auch die Inszenierung spricht; die Sehnsucht nach einem geglückten Leben. So kam auf paradoxe Weise zweierlei zusammen: die Schönheit der Musik und ein Stück unserer unleugbaren Wirklichkeit. Daß der Abend durchaus freundlich aufgenommen wurde, spricht dafür, daß die Konfrontation der Klassikers mit der sogenannten Realität schlußendlich gelang.

Die nächste Aufführung an der Semperoper, Theaterplatz 2, findet am 8. März statt. Danach wird "Wozzeck" erst wieder am 9. Juli gespielt. Tel: 03 51 / 49 11-0

Foto: "Wozzeck": Wieviel Wirklichkeit verträgt die Oper?


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