© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/04 12. März 2004

Präsident des Kartells
Das deutsche Staatsoberhaupt wird den Kungelrunden der Parteien unterworfen
Doris Neujahr

Ein Aufbruchsignal wird von der Wahl des Nachfolgers von Johannes Rau nicht ausgehen, vorerst jedenfalls. Die Schuld liegt nicht bei den Kandidaten, zu bemängeln ist vielmehr die Art und Weise, wie über ihre Kandidatur befunden wurde. In der Diskussion spielte keine Rolle, welche Anforderungen ein Präsident erfüllen müsse und wer ihnen am besten entspräche, sondern es ging um inner- und zwischenparteiliche Machtkonstellationen und persönliche Interessen. In diesem Punkt waren Union, FDP und die rot-grüne Regierung sich ganz nahe. Es wäre widersinnig, zu erwarten, daß der Präsident außerhalb des politischen Raumes gekürt wird, aber eine politische Elite, die den Namen verdient, müßte in der Lage sein, einmal in fünf Jahren vom tagespolitischen Vorteil zugunsten des Allgemeinwohls zu abstrahieren und "dem Verfolg des öffentlichen Glücks, dem Geschmack an öffentlicher Freiheit" (H. Arendt) den fälligen Tribut zu zollen. Dies wäre zugleich ein Tribut an den Bürger, den Souverän, das Volk, mit dem die Parteien signalisieren, daß sie wissen, die Macht nur stellvertretend auszuüben.

Doch der politische Raum in Deutschland ist geschrumpft auf die Hinterzimmer, wo Parteiklüngel ihre Intrigen einfädeln. Da geht es dann um die hochbedeutsame Frage, welcher Kandidat es dem Pausenclown Guido Westerwelle erlaubt, sein Gesicht zu wahren. Transparenz und breite Teilhalbe am Meinungsbildungsprozeß, diese natürlichen Attribute der Demokratie, werden mit Füßen getreten. Die Parteien sehen ihre Macht statt als Lehen als ihren Erbhof an. Sie betreiben effektiv die Zerstörung der Demokratie und beleidigen den Souverän und die Würde seines Staates. Weil sie hinsichtlich ihrer Sachkompetenz an ein Ende gekommen sind, weil sie vor allem sich selber vertreten, verteidigen sie mit doppelter Verbissenheit den Staat als ihre Beute. Der Satz aus dem Grundgesetz, die Parteien wirkten bei der politischen Willensbildung mit, ist dermaßen ausgeweitet und pervertiert worden, daß sie heute de facto ein Politikmonopol besitzen.

Die Verteidiger dieser Praxis argumentieren, der Parteienpluralismus decke die verschiedenen Interessenspektren ja ab. Indem die Parteien sich in Konkurrenz befänden und in Verhandlungen einträten, würde im Ergebnis das Gemeinwohl hergestellt. Gegen diese graue Theorie steht das praktische Eigeninteresse der politischen Klasse, welches alle parteipolitischen Lager transzendiert und eint. Es ist in keiner Verfassung vorgesehen, doch es wächst und wuchert proportional zu ihrer fachlichen Inkompetenz - und zwar zum Schaden des Gemeinwesens! Hier auf Selbstbeschränkung zu hoffen, widerspricht jeder Lebenswirklichkeit. Kohls unsägliches Patronagesystem ist von SPD und Grünen nahtlos übernommen worden, und es wird, soviel ist nun klar, auch von einem erneuten Regierungswechsel unberührt bleiben.

Es ist ein Treppenwitz, daß ausgerechnet die in der Basisdemokratie wurzelnden Grünen sich jetzt am lautesten gegen eine Direktwahl des Bundespräsidenten aussprechen. Aber der Witz hat seine Logik, denn die Grünen als Spätankömmlinge in der Parteiendemokratie haben einen Nachholbedarf an Pfründen, mit denen die vielen catilinarischen Existenzen, die in ihren Reihen versammelt sind, versorgt werden müssen. Daher haben sie keine Lust, diese unter Kontrolle von Bürgerplebisziten zu stellen

Das institutionelle Geflecht, wie es sich in den über fünfzig Jahren Bundesrepublik herausgebildet hat, verurteilt das Land mittlerweile zur politischen Agonie. Das gilt insbesondere auch für den inhaltsleer gewordenen Föderalismus, dessen beiden Hauptzwecke darin bestehen, die politische Klasse mit Posten und Einkünften zu versorgen und gleichzeitig die politische Verantwortungslosigkeit zu organisieren. Wie soll jemand Respekt vor Institutionen und Ämtern haben, wenn diese als Selbstzweck und Verfügungsmasse gehandelt werden? Wie noch Achtung vor den Akteuren gewinnen? Und umgekehrt: Was soll begabte junge Menschen, die an der Welt und den öffentlichen Angelegenheiten tatsächlich interessiert sind, veranlassen, sich in ein Schlangennest hineinzubegeben, "wo es ihnen so schwer gemacht wird, aufrecht zu gehen und sich nicht herabzuwürdigen"? Diese Beobachtung machte Alexis de Tocqueville vor 170 Jahren in der jungen amerikanischen Demokratie, sie hat die gereifte Demokratie in Deutschland eingeholt. Im Politikbetrieb findet daher eine Negativauslese statt, er verkommt zum Sammelbecken des intellektuellen und moralischen Kretinismus.

Daran werden die vielen Reform-, Enquete- und Föderalismus-Kommissionen keinen Deut ändern, weil auch dort Parteipolitiker das letzte Wort haben. Das Gezerre um das Präsidentenamt zeigt, daß die Parteiendemokratie, wenn sie dem Gemeinwohl verpflichtet sein soll, durch das direkte demokratische Votum der Bürger kontrolliert werden muß. Diese Kontrolle muß logischerweise gegen den Widerstand der Parteien erzwungen werden.

Was heißt das praktisch? Zunächst einmal muß man Zynismus und Verzweiflung von sich weisen, weil dies apolitische Reaktionen sind. Der nächste Schritt ist das Ringen um Erkenntnis, um die Unterscheidung von Propaganda und Wirklichkeit. Man muß sich darüber klarwerden, daß die repräsentative Demokratie und der deutsche Parteienstaat unterschiedliche Dinge sind. Auch die "Lehren von Weimar", mit denen die Forderung nach plebiszitären Elementen auf Bundesebene stets abgebügelt wird, sind vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Weimarer Republik ist eher an der Undisziplin der Parteien als an ihren Plebisziten und dem direkt gewählten Präsidenten Hindenburg zugrunde gegangen. Als 1926 eine Volksabstimmung über die Fürstenenteignung anberaumt wurde, fand sich in der durch Krieg und Inflation verarmten Bevölkerung keine Mehrheit, die bereit war, eine kleine, zweifelsfrei privilegierte Bevölkerungsgruppe unter Ausnahmerecht zu stellen. Wo ist diese sittliche Reife nach 1945 je gewürdigt worden? Selbst die unter Ausnahmebedingungen durchgeführte Reichstagswahl vom 5. März 1933 gab der NSDAP keine Mehrheit für ihr Ermächtigungsgesetz, dazu bedurfte es des Opportunismus bürgerlicher Demokraten - darunter Theodor Heuß, der 1949 erster Bundespräsident wurde -, die am 23. März im Reichstag ihre Hand dafür hoben.

Hannah Arendt nannte es "ein Ereignis ersten Ranges, wenn man in der Verfassung für den zivilen Ungehorsam einen Ort ausmachen könnte". Dieser Ort muß zuvor gegen die Parteien fixiert und errungen werden. Die Bedeutung des neuen Bundespräsidenten wird daran gemessen werden, ob er (sie?) über den Mut und die Fähigkeit verfügt, sich zum Sprecher der Bürger zu machen und diesen Ort zu beschreiben.


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