© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/04 12. März 2004

"Arkanum der Freiheit"
Der Philosoph Harald Seubert über den Aufruf Otto von Habsburgs zum Kampf für den Gottesbezug in der EU-Verfassung
Moritz Schwarz 

Herr Professor Seubert, Seine kaiserliche Hoheit Otto von Habsburg hat am Wochenende auf dem "Treffpunkt Weltkirche"-Kongreß in Augsburg dazu aufgerufen, den eher am Rande geführten europäischen Streit um einen Gottesbezug in der EU-Verfassung in den Mittelpunkt zu stellen: Die Christen Europas sollten "Flagge zeigen" und "zum Kampf bereit sein" - denn man müsse diese Auseinandersetzung als große "Schlacht" begreifen.

Seubert: Nicht nur die Christen, alle selbstbewußten Europäer sollten diesem Aufruf zu einer großen, ernsten geistigen Auseinandersetzung folgen, denn die Frage nach dem Gottesbezug ist in der Tat keine Petitesse, tatsächlich geht es dabei für Europa um Sein oder Nichtsein.

Ist das nicht etwas übertrieben?

Seubert: Nein, denken Sie zum Beispiel daran, daß der äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate, Autor des Bestsellers "Manieren", sich im Interview mit Ihrer Zeitung sehr verwundert darüber gezeigt hat, daß die Europäer überhaupt darüber diskutieren, ob ein Gottesbezug in die EU-Verfassung aufgenommen werden soll. Es ist bezeichnend, daß solche Kritik von "außen" kommt. Heute zeigt sich, daß unsere Kultur fatalerweise nicht mehr auf einem Fundament der Selbstgewißheit steht. Wir Europäer haben unser Ethos durch den Diskurs ersetzt. Dadurch verlieren wir, bei aller Informationskumulation, das elementare Wissen um uns selbst, um Herkunft und Zukunft.

Was hat das mit dem Gottesbezug in der EU-Verfassung zu tun?

Seubert: Es geht darum, die Alternativlosigkeit, die uns die europäischen Linksregierungen in Hinsicht auf die europäische Einigung einreden wollen, strikt zurückzuweisen. Es ist ein Irrweg, Europa nur organisatorisch und lediglich als einen riesigen Markt zu sehen und die Europäer lediglich als Verbraucher - nicht nur von Waren, sondern auch von Politik, Sicherheit etc. - zu begreifen. So betrachtet ist Europa in der Tat nicht mehr als ein "Kap an der Halbinsel Asiens", wie Nietzsche einst sagte. Europa war hingegen immer schon - denken Sie nur an die griechischen Europa-Mythen - ein primär geistiger Begriff, daraus wurde die Idee des Abendlandes, das zurückblickt in seine Geschichte, sich darin erkennt und sich aus seiner Überlieferung heraus entwirft. Alles andere kann im Grunde nicht mit gutem Gewissen als "Europa" bezeichnet werden, wenn der Begriff mehr als nur geographische Bedeutung haben soll. Die Frage, ob Europa aus seiner Herkunft und seinem Ethos verstanden wird oder nur ein gemeinsamer Markt ist, ist also entscheidend.

Europa ist also christlich, oder es ist nicht Europa. - Ist das nicht etwas zu normativ?

Seubert: Keineswegs, was sich mit einem Blick in die europäische Geistesgeschichte belegen läßt. Neben den romanisch-germanisch-slawische Einflüssen, die selbst von religiöser Tradition erfüllt sind, liegen die Wurzeln Europas in der griechisch-römischen und der judäo-christlichen Kultur. Griechenland war eine Welt, die auf der Beschwörung der Götter in Dichtung und Tragödie beruhte. Demokratie und Philosophie wurden stets in der Ehrfurcht vor dem Göttlichen begriffen. Sokrates etwa stellt seine Philosophie ausdrücklich unter die Forderung der Götter: "Erkenne Dich selbst!" Und das heißt: Erkenne, daß du kein Gott bist. Die Römer wiederum haben uns mit ihrer strengen Pietas, der Frömmigkeit und dem Respekt gegenüber den Ahnen, den Vätern der res publica, wodurch die Toten im Lebenszusammenhang präsent waren, beeinflußt. Und das christliche Erbe besteht in der elementaren Wahrheit des personalen Gottes und der Tatsache, daß die Freiheit des Menschen, also seine Selbstschöpfungskraft, nicht aus ihm selbst herrührt, sondern von Gott gegeben worden ist. - Sie sehen also, wie tief die Kultur Europas religiös geprägt ist. Eine Beschwörung der gemeinsamen geistigen Wurzeln Europas ohne Beziehung zum Göttlichen ist deshalb nicht möglich.

Die meisten Europäer sind Laizisten und an modernen materiellen Werten ausgerichtet. Wozu brauchen sie christliche Traditionen? Baut sich Europa heute nicht einfach auf Grundlage des Egalitarismus, der sozialen Sicherheit und des freien Marktes?

Seubert: Allein auf einen säkularisierten und amorphen christlichen Wertekanon zu verweisen, wie es zuweilen vorgeschlagen wird, ist nicht genug. Denn dabei wird vergessen, daß das Offenbarungsgeschehen des Christentums ein konstituierender Faktor für unser heutiges Menschenbild ist. Aus dieser Überlieferung leben nicht zuletzt die freiheitlichen Grundrechte, aus ihr lebt das Versprechen des "Pursuit of happiness", die in der Rechtsordnung des neuzeitlichen Staates garantierte Möglichkeit des Bürgers, sein Glück zu suchen, ohne daß der Staat es ihm vorzuschreiben hätte. Dies gilt, ob Sie Christ sind oder Laizist sind! Vergessen wir diese christliche Quelle, so könnten wir innerhalb relativ kurzer Zeit die personale und humane Qualität unseres Menschenbildes verlieren. Unsere Menschenbild wird dann vom jeweiligen Zeitgeist allein abhängig sein. Denken Sie an die totalitären Diktaturen in Europa, wer damals ins Fadenkreuz geriet, entkam nur dann, wenn er zum Beispiel an einen mitleidigen Bewacher geriet, in dem noch das tradierte unverrückbare christlichen Menschenbild virulent war. Das Extremum verdeutlicht, daß auch ein Laizist von christlich geprägter Humanität lebt. Ein modernes zeitgeistiges - damals nationalsozialistisches oder kommunistisches, heute liberalistisches - Menschenbild, das kein Maß hat, kann sich jäh ändern und aus Mitmenschen Untermenschen machen. In der Gegenwart zeigt sich dies eklatant daran, daß aus einem Verbrechen wie der Abtreibung binnen weniger Jahre ein "gutes Recht" werden konnte. Eine ähnliche Umwertung erleben wir gerade mit der Sterbehilfe oder bei der medizinischen Versorgung alter Menschen - die zum Beispiel in Großbritannien ab einem gewissen Alter aus Kostengründen verwehrt wird -, und wir werden sie in ungeahnter Weise in den gentechnischen Entwicklungen heraufziehen sehen, in denen sich der Mensch als sein eigenes Experiment verkennt und der Hybris huldigt. Das Resultat wird eine Zukunft sein, vor der uns heute nur grauen kann.

Sie weisen allerdings darauf hin, daß nicht nur unser Begriff vom Humanen ohne das Christliche nicht denkbar ist, sondern auch unser Begriff von der Freiheit und vom Sozialen.

Seubert: Das Besondere unseres christlichen Freiheitsbegriffes ist, daß die Freiheit des Menschen - also das allgemeine Göttliche - im Einzelnen ebenso wie im Allgemeinen liegt. Das ist gleichsam die öffentliche Lehre der Menschwerdung Gottes. Hegel hat mit großem Nachdruck auf den Zusammenhang persönlicher, rechtlich garantierter Freiheit mit dieser Offenbarungswahrheit hingewiesen; während bei den Ideologien des vergangenen Jahrhunderts, seien es die Totalitarismen der europäischen Vergangenheit oder der moderne materielle Individual-Hedonismus, die Freiheit nur auf einer Seite zu finden ist - dort beim Kollektiv, hier beim Einzelnen. Entscheidend ist, zu realisieren, daß die offene Gesellschaft auf - allerdings bereits erodierenden - Fundamenten steht, die sie nicht selbst gelegt hat! Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde verweist darauf, daß die offene Gesellschaft und ihre Rechtsordnung auf "Arkana" beruhe, also auf Geheimnissen, die der langen historischen Genese Europas entstammen. Diese durch einen utopischen, konstruierten Gesellschaftsentwurf zu ersetzen, hat regelmäßig in die Katastrophe geführt. Deshalb darf Europa nicht erneut "entworfen", sondern es muß ererbt und angeeignet werden, weil nur so jenes Arkanum, aus dem Freiheit hervorgehen kann, zu erhalten ist. Europa muß geschichtlich sein, andernfalls wird es unweigerlich totalitär. Und Unterpfand dieser Geschichtlichkeit, dieses Arkanums, ist die religiöse Demut, ausgedrückt zumindest formell durch einen Gottesbezug der Verfassung.

Aber "funktioniert" dieses Unterpfand nicht nur dann, wenn die Menschen auch an Gott glauben?

Seubert: Nein, dies wäre zu kurz gedacht. Das religiöse Arkanum der Freiheit und übrigens auch des Sozialen ist tief in die Institutionen des abendländischen Europa eingegangen, es bedarf allerdings unbedingt der Pflege.

Für das Soziale aber braucht der Europäer das Christliche nicht mehr, dafür haben wir doch die Traditionen des Sozialismus, die in die Sozialdemokratie eingemündet sind.

Seubert: Nein, der Gottesbezug markiert auch das Bekenntnis zur Selbstbegrenzung des Menschen, während der Sozialismus seinem Wesen nach extensiv ist. Das heißt, das Soziale des Christentums atmet den Geist der Askese, der Beschränkung, die notwendig ist, um dem anderen wirklich sozial zu begegnen. Denn erst indem ich teile, stehe ich in Beziehung zum anderen. Der Sozialstaat sozialistischer Provenienz dagegen ist nicht asketisch, sondern konsumptiv. Er bringt mir den anderen nicht durch gemeinsames Teilen knapper Güter näher, sondern entfernt mich durch seine extensive Sozialversorgung von ihm - er anonymisiert und vermaßt das Soziale. Das Soziale aber geht zugrunde, wenn es kein Ethos mehr kennt. Die Sozietät, die der christliche Sozial-Gedanke schafft, wird vom Sozialstaat tendenziell aufgelöst und zerstört - ganz abgesehen davon, daß er keine Skrupel hat, hemmungslos alle Ressourcen auszubeuten und die Welt, in der wir leben, bis zum letzten zu vernutzen. Ohne christlichen Gottesbezug droht der Sozialstaat also zum Moloch zu werden, der die Natur verzehrt. Das volkswirtschaftliche Desaster jener Politik ist ohnedies bereits heute unübersehbar.

"Schaffung eines globalistischen Europas ohne jedes Ethos"

Paris votiert gegen einen Gottesbezug in der EU-Verfassung, kein Wunder: Frankreich versteht sich als laizistischen Staat par excellence. Wie aber ist das mit Deutschland?

Seubert: Der Bundestag hat im Dezember einen Antrag der Unions-Fraktion für eine EU-Verfassung "in Verantwortung vor Gott" mit 315 gegen 265 Stimmen abgelehnt. Dabei hat diese laizistische Ausrichtung in der deutschen Verfassungsgeschichte keinerlei Tradition. Und das mit gutem Grund, denn dem laizistischen Liberalismus wohnt letztlich ein rigider Utilitarismus ohne Maß inne, dem es nur um Nutzensteigerung geht, der das Maß des Menschlichen und seine Transzendenz belächelt und verwirft zugunsten eines weiteren Narren-Paradieses der Gegenwart - und diese haben sich allemal letztlich als Friedhöfe erwiesen.

Warum lernen die Europäer offensichtlich nicht dazu?

Seubert: Weil jede Epoche den Versuchungen ihrer Zeit zu erliegen droht. Weil nicht begriffen wird, daß der Versuch, diesmal unfehlbar richtig zu projektieren, schon die Versuchung selbst ist.

Wie stellt sich die heutige Versuchung konkret dar?

Seubert: Dem Establishment, das heute für die Gestaltung unseres Kontinents verantwortlich ist, geht es um die Schaffung eines globalistischen Europas, also um eine geistig völlig entleerte Kreation ohne jenes Ethos. EU-Europa droht heute zu einer Chiffre für die Auflösung alles Gewachsenen zu werden, denn gedacht ist es als Keimzelle einer One-World-Struktur. Sozusagen zusammengeflickt aus "Leichenteilen" entsteht ein identätitätsloser Frankenstein - nach dem Traum vom normierten Menschen nun der Traum von normierten Staaten, Völkern und Nationen. In der "Hoffnung", damit den Zwist unter den Kulturen ein für allemal zu beseitigen. Dabei müßte sich doch inzwischen herumgesprochen haben, daß zum Beispiel Muslimen christlich-gottesfürchtige Europäer weniger fragwürdig sind als atheistische Europäer. Denn die innere Leere ihrer laizistischen Europa-Konstruktion neigt dazu, das nächste zu verschlingen, wenn es erst einmal die Substanz des alten Europa zur Gänze vernichtet hat. Der One-World-Motor des Frankenstein wird immer mehr ansaugen - quasi, bis der Zustand der One-World erreicht ist, eine Unterschiedslosigkeit, ein Nihilismus des Weltstaates, über den Ernst Jünger und Martin Heidegger schon vor bald sechzig Jahren sich vollständig klar gewesen sind. Da sich die außereuropäische bzw. außerwestliche Welt das aber nicht gefallen lassen wird, wird es zu schrecklichen Konflikten kommen, die im günstigen Fall diesen Motor lahmlegen, aber vielleicht auch die ganze Konstruktion sprengen werden - das heißt, Europa wird neue Katastrophen erleben.

Die Entscheidung über eine EU-Verfassung ist in der ersten Runde mißlungen. Wer wird sich am Ende in puncto Gottesbezug durchsetzen?

Seubert: Ich befürchte - wenn die Verfassung nicht ganz scheitern soll - werden sich die Laizisten, getragen vom hybriden Zeitgeist, durchsetzen. Der entstehende politische Moloch wird - in einer Art und Weise, die wir uns heute noch nicht vorstellen können - die eigentlich menschlichen Bedürfnisse, das Humanum, verzehren. Allerdings wird sich das dem Menschen grundsätzlich innewohnende Bedürfnis nach Transzendenz erneut ins Gedächtnis rufen. Und so wird aus einer immanenten Dialektik heraus eine Gegenbewegung entstehen. Manches davon bemerke ich schon jetzt an der jungen Generation etwa in Polen, wenn ich dort Gastvorlesungen halte. Ob dies aber rechtzeitig geschehen wird, ist die Frage. Ich bin skeptisch, und auf jeden Fall wird es ein bitterer Weg.

 

Prof. Dr. Harald Seubert lehrt Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Religionsphilosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen.
Er studierte Theologie, Philosophie, Literaturwissenschaften und Geschichte. Geboren wurde er 1967 in Nürnberg.

 

Foto: Der Krizyu Kalnas ("Berg der Kreuze") in Litauen: "Die Transzendenz belächelt zugunsten der Narren-Paradiese der Gegenwart, die sich allemal letztlich als Friedhöfe erwiesen haben. - Europa ist ohne Beziehung zum Göttlichen nicht möglich."

 

weitere Interview-Partner der JF


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen