© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/04 12. März 2004

Adler unter Metzgerbeilen
EU-Beitritt der Türkei: Außenminister Joseph Fischer gebärdet sich als machtversessener und ideologischer Überzeugungstäter
Doris Neujahr

Ein EU-Beitritt der Türkei bedeutet für die Europa und erst recht für Deutschland einen Sprung ins Dunkle. Trotzdem sind Gerhard Schröder und Joschka Fischer besessen von der Idee. Beim Kanzler liegen die Dinge einfach: Er ist ein Taktiker, der mal eben um die 500.000 türkischen Stimmen bei den Europawahlen buhlt. Fischer aber gilt als politischer Denker und strategischer Kopf.

Am vergangenen Samstag hat er in einem FAZ-Interview sein außenpolitisches Konzept vorgestellt. Laut Fischer besitzt die Europäische Union drei Dimensionen: eine historische (die deutsch-französische Aussöhnung), eine pragmatische (die Integration ökonomischer Interessen) und seit 1989 auch eine strategische. Bei der Formulierung und Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber dem internationalen Terrorismus dürfe sie sich nicht nur auf die Führungskraft der USA verlassen, sie müsse eine eigenständige Rolle spielen. Dann habe sie die Chance zur gleichberechtigten Partnerschaft mit Washington, die Fischer als "Rekonstruktion des Westens" bezeichnet. Für diese strategische Dimension aber sei die Mitgliedschaft der Türkei unverzichtbar. Begründung? Risikoabwägung? - Fehlanzeige!

Fischers Ausführungen sind so originell wie Eulen, die nach Athen getragen werden. Kürzlich äußerte Günter Gaus, der in seiner Sendung "Zur Person" auch Schröder und Fischer zu Gast hatte, es sei ihm nicht gelungen, die beiden zu "knacken", das heißt, tiefere Überzeugungen und intellektuelle Substanz zutage zu fördern. Fischer setze seinen Dackelblick auf und bringe mit gequetschter Stimme die unglaublichsten Platitüden hervor, so als handele es sich um tiefste Erkenntnisse. Wahrscheinlich, so Gaus, glaube Fischer das selber.

Bestimmt glaubt er das. Denn sonst hätte dieser Hochstapler keinen Erfolg beim Publikum. Es ist oft festgestellt worden, daß Fischers einzige Konstante der Wille zur Macht ist und seine sachlichen und moralischen Argumente entsprechend beliebig sind. Das reicht aber nicht aus. Es gibt auch ideologische Konstanten. Man spreche daher besser von einem machtversessenen Überzeugungstäter!

Deutschland als Quelle der Beunruhigung und Gefahr

1994 erschien Fischers Buch "Risiko Deutschland. Krise und Zukunft der deutschen Politik". Ein Wahlsieg von Rot-Grün schien bevorzustehen, das Buch war sein Bewerbungsschreiben für das Amt des Außenministers. Fischer wollte als jemand dastehen, der aus der Analyse der Geschichte ein außenpolitisches Programm destillieren kann. Der Titel war verräterisch: Deutschland war dem Autor kein Objekt staatsmännischer Sorge, sondern eine Quelle der Beunruhigung, Gefahr, der Abneigung. Das Buch ist ein Parforceritt von der Reformation bis zur deutschen Wiedervereinigung. Zur Hälfte besteht es aus Zitaten, die wesentlich der zwölfbändigen "Deutschen Geschichte" aus dem Siedler-Verlag entnommen sind. So kommen auch Michael Stürmer und Hagen Schulze, zwei Konservative, zu Wort, was Fischer den Anschein intellektueller Souveränität verleiht. Allerdings hat er die komplexen Darstellungen und Interpretationen der Historiker simplifiziert. Wenn dem Buch überhaupt eine Idee zugrunde liegt, dann ist es das banale Liedchen vom deutschen Irrweg, der von Luther zu Hitler führte. Und wie jeder Dogmatiker wurde auch Fischer bei der Suche nach Zitaten fündig.

Er zitiert Fritz Fischers angestaubten "Griff zur Weltmacht" mit einer Inbrunst, als handele es sich um die Bibel. Die gute alte "Sonderweg"-These wird ebenfalls mobil gemacht. Schwierigkeiten bereitet ihm, daß Bismarcks Außenpolitik von 1871 bis 1890 eine verantwortungsbewußte Friedenspolitik war, also keine zwingende Kausalität zwischen der Konstituierung des Deutschen Kaiserreichs und dem Kriegsausbruch 1914 bestand. Deshalb greift Fischer zum Mittel der Insinuation. Man solle Bismarks Realpolitik doch lieber "Machtpolitik" nennen. Das war sie natürlich auch, doch wer sie darauf verengt, der diskreditiert und verfälscht sie.

Ein Missionar, der weder Zweifel noch Demut kennt

Ein anderer rhetorischer Kniff besteht darin, das Kaiserreich als "Bismarckreich" zu bezeichnen. So wird Bismarck rückwirkend für die Außenpolitik des flatterhaften Wilhelm II. in Haftung genommen. Wo in Wahrheit eine Folge von falschen Entscheidungen vorliegt, konstruiert Fischer eine deutsche Determinante. Er will partout zum Ergebnis kommen, daß die innere Struktur Deutschlands - der "Sonderweg" - das entscheidende Kriegsrisiko für Europa gewesen sei. Dabei weiß die Geschichtsforschung längst, daß es nicht Deutschlands "autoritäre Staatsform gewesen ist, die zu den Kriegsursachen zählte, denn die eben war gar nicht mehr so autoritär" (Michael Salewski).

Fischer war, als er das Buch verfaßte, Mitte vierzig, sein Tonfall aber ist der des jugendlichen Heißsporns, der weder Zweifel noch Demut kennt, der eine historische Mission verfolgt: Er wollte die Wiedergeburt einer "deutschnationalen Sinnstiftung unseligen Angedenkens" verhindern.

Besonders leidenschaftlich klingt er, wenn er der deutschen Geschichte ihre unvollendeten Revolutionen ankreidet. Die Novemberrevolution 1918 sei am Mangel an "revolutionärem Mut, Phantasie und Entschlossenheit" und an Friedrich Ebert gescheitert! Als vorbildlich hebt er das französische Beispiel von 1789 hervor. Man stelle sich das einmal vor: An der Ostgrenze des Reiches tobten 1918 Revolutionen und Bürgerkriege, im Westen standen die alliierten Truppen Gewehr bei Fuß, um in Deutschland einzumarschieren. In dieser Situation der ausgehungerten Bevölkerung einen "revolutionären Konvent" zuzumuten, samt Roter Garde und Guillotine-Kommandos, mag ein Szenario nach Joschkas Herzen sein, für verantwortungsbewußte Patrioten wie Ebert war es ein Alptraum.

Die Tatsache, daß die extremistische Linke zur Zerstörung der Weimarer Republik ihr Scherflein beigetragen hat, fällt bei Fischer unter den Tisch - was angesichts seiner Biographie kaum erstaunt. Den kausalen Nexus zwischen den Untaten der Bolschewisten und der Nationalsozialisten hält er für eine Erfindung von Reaktionären: "Mit Geschichte hatte dieser Noltesche Unfug nur noch sehr wenig zu tun, sehr viel hingegen mit Politik", weiß Fischer. Aus dem Munde eines Politiker klingen solche Worte natürlich doppelt überzeugend.

Die Frage, wieviel die Deutschen von den NS-Verbrechen wußten, führe zu "einer müßigen Debatte", meint Fischer, denn ihm geht es ums Prinzip. Zum traditionellen Kadavergehorsam sei die "positive Bindung an Adolf Hitler" gekommen, von der die Deutschen noch 1945 angesichts der sicheren Niederlage nicht abzubringen waren. Denn sonst, so muß man folgern, wären sie mit Mahnwachen gegen die Gestapo, mit Sitzblockaden gegen die SS und mit Trillerpfeifen gegen den Volksgerichtshof vorgegangen! Ach, es ist nicht einmal die historische Dummheit, die traurig macht, sondern daß sie sich unwidersprochen spreizen kann und - politisch gesiegt hat.

Fischer erklärt 1968 zum "magischen" Jahr: "Zum ersten Mal wurde eine tiefgreifende Veränderung der sozialen Realität des Landes von unten und im Widerstreit gegen die überkommenen, vordemokratischen Traditionsbestände durchgesetzt und diese dadurch zurückgedrängt, ja im Laufe der Zeit sogar abgelöst. Der innere 'Wilhelminismus' und versteckte, untergründige Nazismus in der westdeutschen Nachkriegskultur wurde 1968 zugunsten einer Demokratisierung von unten - einer inneren Verwestlichung - endgültig historisch zu Grabe getragen." Was als "Analyse" daherkommt, ist in Wahrheit ein Machtanspruch. Eine Gegenbewegung zu "1968" wäre in dieser Logik nämlich als Anschlag des "untergründigen Nazismus" gegen die Demokratie zu verstehen. So erteilte sich der ehemalige "Putztruppler" ganz nebenbei eine Generalabsolution in eigener Sache!

Fischer ist das Bismarcksche Primat der Außenpolitik ein Dorn im Auge. Es habe der Absicherung des inneren Anachronismus gedient und daher in die Katastrophe führen müssen. Da stellt sich die Frage, welche innenpolitischen Ziele Fischer hat. Auf jeden Fall ist er gegen ein "renationalisiertes Deutschland". Widerwillig räumt er ein, zur deutschen Einheit habe es 1990 "keine Alternative" gegeben, aber sie sei, wie schon das Kaiserreich, "gegen die Zeit" hergestellt worden. Die Grundfrage laute nun, "wieweit diese nationalstaatliche Wiedervereinigung Deutschlands den europäischen Einigungsprozeß nicht wesentlich verlangsamt, ja zurückwirft oder am Ende gar blockiert". Solche Entwicklungen zu verhindern, erfordere "härteste innenpolitische Kämpfe und stärkstes Durchhaltevermögen". Das erinnert an die Frontberichterstattung von 1945. Sogar den Maastricht-Vertrag findet er "durchaus recht sympathisch".

Keine seiner Analysen und Vorhersagen von 1994 hat sich bestätigt. Deutschland ist im europäischen Maßstab weder zum Hemmschuh der Einigung noch gefürchteter Hegemon geworden, sondern ein wankender Riese, wozu die Post-68er Verwerfungen und die Unfähigkeit von Rot-Grün viel beigetragen haben. Es ist einfach, pompöse Reden über Europa zu halten, jedoch wirken sie lächerlich, wenn der Redner kurz darauf von einem Brief acht europäischer Staats- und Regierungschefs an US-Präsidenten Bush kalt erwischt wird, weil er den Dialog mit den europäischen Partnern nicht gepflegt, also das diplomatische Handwerk nicht beherrscht hat. In diesem Moment war Fischer als Außenminister gescheitert! Nicht Deutschland handelt unilateral (es sei denn, man will Schröders Wahlkampfgeschrei in diesem Sinne interpretieren), sondern die USA, und die meisten EU-Länder waren bereit, ihr darin zu folgen. Das bedeutet, daß die mit Maastricht verbundene Hoffnung, die Währungsunion würde einen politischen Automatismus in Europa auslösen, allzu simpel war. Die europäischen Nachbarn streichen gern die deutschen Transferszahlungen ein, sehen ihrerseits aber keinen Grund, Fischers Nationalmasochismus zu teilen.

Wenn Fischer in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung behauptet, der 11. September habe die "Schwächen Europas offengelegt. Die eigentlich Spaltung der EU begann am 11. 9. 2001. Wir stellten fest, daß die europäischen Nationen entsprechend ihren alten nationalen Reflexen handelten", dann ist das ein billiger Versuch, seine eigenen Fehleinschätzungen und -kalkulationen zu vertuschen. Der "11. 9. 2001" hat die Realitäten in Europa gar nicht so sehr verändert, er hat aber ein grelles Licht auf die tatsächliche Lage gerichtet. Er hat Fischers germanozentriertes, paranoides Weltbild der Lächerlichkeit preisgegeben und klargestellt, daß er schon 1989 ein Mann von gestern war.

Für den Lockruf der Geschichte empfänglich

Warum will er jetzt die Türken als Vollmitglieder in die EU holen und setzt damit sein behauptetes Ziel, die europäische Integration, aufs Spiel? Drei Antworten sind möglich: Die rot-grüne Koalition hat einen so großen Berg von Problemen angehäuft, daß sie ihre einzige Chance darin sieht, diesen unter einem noch größeren Berg zu begraben. Das ist auch die einzige Möglichkeit für Fischer, noch ein paar Jahre Außenminister zu bleiben.

Zweitens: Fischer hat zwar mehr Selbstbekenntnisse als jeder andere deutsche Politiker veröffentlicht, doch diese hatten nur den Zweck, eine Nebelwand vor seiner Biographie zu errichten. Soviel wenigstens weiß man seit den Recherchen der Journalistin Bettina Röhl. "Menschen haben ihre Geheimnisse, die sie manchmal nicht einmal den Nächsten anvertrauen", schrieb Stephan Hermlin 1985 in der Erzählung "Ein Mord in Salzburg". Und trotzdem fliegen sie einem um die Ohren, eines Tages. Wie frei ist man da noch in seinen Entschlüssen?

Drittens: Ihm geht es gar nicht um Europa, sondern um Deutschland, und zwar im negativen Sinne. Eine Explosion deutscher Transferzahlungen und eine anatolische Massenzuwanderung würde die Situation in Deutschland revolutionieren - endlich einmal! -, sie würden zu seiner ethnisch-kulturellen Umgründung führen, und Fischer würde als Veränderer Deutschlands in die Annalen eingehen.

Das klingt abstrus und abstrakt, doch man unterschätze nicht die Verführungskraft, die säkulare Visionen auf jemanden ausüben, der den Ideologen und Machtmenschen in sich vereint. Und Fischer ist so eitel, wie er für den Lockruf der Geschichte empfänglich ist. Das Archiv für Familiengeschichtsforschung (Heft 2/2003) teilte mit, daß er sich 1999 ein Familienwappen zugelegt und die Führungsberechtigung auf alle Nachkommen des 1731 geborenen Stammvaters Jakob Fischer ausgedehnt hat. Zwei Metzgerbeile weisen auf den Beruf hin, der über mehr als sechs Generationen in der Familie ausgeübt wurde, eine adlerartige Helmzier symbolisiert das Amt des Außenministers, und ein Fisch steht für den Familiennamen. Die Metzgerbeile, so sieht es aus, sind jederzeit bereit, sich auf Geheiß des Fisches über den deutschen Adler herzumachen!


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