© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/04 19. März 2004

Recht gilt auch im Krieg
von Björn Schumacher

Kurz vor dem Ende eines längst entschiedenen Krieges, am 16. März 1945, griff die Royal Air Force (RAF) Würzburg großflächig mit 225 viermotorigen Lancaster- und 11 zweimotorigen Mosquitobombern an und warf 389 Tonnen Spreng- sowie 572 Tonnen Brandstoff ab. In der fernab der Front liegenden Mainmetropole gab es keine militärischen Ziele, nicht einmal Abwehrraketen. Deutsche Abfangjäger waren nicht in der Nähe. 80 Prozent der fürstbischöflichen Residenzstadt mit ihrem Reichtum an barocker Architektur und bildender Kunst wurden zerstört. Etwa 5.000 Menschen - in der Mehrzahl Frauen, Kinder und ältere Männer - kamen ums Leben. Sie wurden von Bomben- und Gesteinstrümmern erschlagen, verbrannten oder erlitten einen tödlichen Hitzschlag, erstickten an Sauerstoffmangel oder starben den Kohlenmonoxidtod.

Im Würzburger Rathaus erinnern Bild- und Texttafeln an jenen "Schicksalstag". Die Stadtväter heben hervor, Premierminister Churchill habe mit Bombenteppichen auf Großstädte den Durchhaltewillen der Zivilbevölkerung brechen wollen. In der Tat war neben Angriffen auf militärische Ziele (Kasernen, Flugplätze, Rüstungsfabriken, Transportwege etc.) auch das Area bzw. Moral Bombing Teil der britischen Luftkriegsdoktrin. Gab es aber unmittelbar vor Kriegsende keine realistischeren Vernichtungsmotive? In Betracht kommen a) nicht enden wollende Vergeltung für London und Coventry; b) Demonstration des gewaltigen RAF-Vernichtungspotentials in zuvor unzerstörten, leicht brennbaren und kaum evakuierten Orten; c) eine während des deutschen Kaiserreichs verinnerlichte, als Folge der NS-Tyrannei entfesselte Germanophobie des britischen Premiers; d) ein gestörtes Verhältnis seiner Militärs zur deutschen und damit letztlich zur europäischen Hochkultur.

Rechtfertigen solche Motive einen gezielten Angriff auf Zivilisten? Nein! Höchstens als "Moral Bombing" könnten die Massentötungen von Dresden, Pforzheim oder Würzburg den Anschein ethischer oder juristischer (kriegsvölkerrechtlicher) Legitimität haben. Behaupten doch Verfechter dieser Doktrin unter Berufung auf Hiroshima und Nagasaki, mit Luftschlägen gegen große Städte ein schnelleres Ende der Feindseligkeiten bewirken und "per Saldo" die Zahl der Kriegsopfer reduzieren zu können. Ins Blickfeld rückt der Problemkreis moralischer Dilemmata bzw. Pflichtenkollisionen: Ein schützenswertes moralisches Gut kann nur um den Preis der Vernichtung eines anderen bewahrt werden. Besondere Brisanz entfaltet die Kollision gleichartiger Schutzgüter ("Menschenleben gegen Menschenleben"). Das Dilemma verdichtet sich zu der Frage, ob der Widerstreit zwischen den Pflichten, sowohl die Bewohner feindlicher Städte als auch eine unbekannte Vielzahl künftiger Kriegsopfer zu schützen, nach der Quantität entschieden werden darf.

Simple Antworten werden dem Dilemma nicht gerecht. Allerdings brauchen wir hier auch keine differenzierten Antworten (etwa nach dem Regel-Ausnahme-Schema), weil die ethische Begründbarkeit britischer Flächenbombardements von weiteren, nicht erfüllten Tatsachenvoraussetzungen abhängen würde.

Die Royal Air Force konnte mit ihrem Arsenal gar keine kriegsentscheidenden Schläge führen. Spätestens nach dem Hamburger Feuersturm mit vierzigtausend Toten war ihre Moral-Bombing-Strategie falsifiziert.

Die Royal Air Force konnte mit ihrem Arsenal gar keine kriegsentscheidenden Schläge führen. Spätestens nach dem Hamburger Feuersturm mit über 40.000 Toten (Juli 1943) war ihre Moral-Bombing-Strategie soweit falsifiziert, daß sie keinerlei Rechtfertigung für eine Fortsetzung mehr bot. Deutsche Soldaten, Industriearbeiter usw. ließen sich weder demoralisieren noch zu einem Putsch gegen das NS-Regime verleiten. Im Gegenteil: Wie deutsche Fliegerangriffe auf London, so stärkten auch die britischen Luftschläge das Band der Solidarität zwischen Volk und Regierung.

Wenn Winston Churchill und sein Luftwaffenmarschall Arthur Harris weiterhin zerstörerische Bombardierungen mit immer ausgeklügelteren Feuer-sturmaggregaten befahlen und insgesamt über 50 000 eigene Besatzungsmitglieder opferten, hatte das mit Moral Bombing und plausiblen ethischen Ansprüchen nichts mehr zu tun.

Großflächige Terrorbombardements lassen sich auch nicht als Strafe für eine vermeintliche Schuld aller Deutschen rechtfertigen. Der Begriff "Kollektivschuld" ist als ethische Kategorie ähnlich absurd wie "Tätervolk", eine echte contradictio in adiecto. Der trennungsscharfe, im Diskurs der philosophischen Aufklärung bewährte Schuldbegriff beschreibt lediglich individuelle Prozesse fehlgesteuerter Willensbildung. Sogar bei gemeinschaftlich handelnden Tätern muß die Schuld individuell ermittelt werden; nicht an der Tat Beteiligte bleiben völlig außer Betracht. Im übrigen wäre die Beweisführung selbst bei Akzeptanz der Kollektivschuldthese lückenhaft. Ihre Verfechter müßten zusätzlich darlegen, warum ausgerechnet die Befehlshaber alliierter Luftflotten ein moralisches Recht auf "Aburteilung" und "Strafvollstreckung" hatten und willkürlich ausgewählte "schuldige" Kinder, Frauen und Greise ihres Lebens, ihrer Gesundheit und ihres Eigentums berauben durften. Beunruhigende Spekulationen, die auf alliierter Seite als moralisierende Rechtfertigungsideolo-gie daherkommen: der britische Luftwaffenstab pries die Vernichtung Hamburgs als "Operation Gomorrha".

Christliche Ethikansätze liefern hier die gleichen Ergebnisse wie die aufgeklärte Vernunftphilosophie eines Immanuel Kant. Selbst der in Großbritannien früher dominierende Utilitarismus läßt andere Folgerungen nicht zu. Mögen auch populäre Übersetzungen ("Nützlichkeitsethik") sittliche Indifferenz suggerieren, so haben gerade die maßgebenden Denker des Utilitarismus wie Jeremy Bentham (1748-1832) und John Stuart Mill (1806-1873) die Bedeutung fundamentaler Werte, vor allem der Menschenrechte, für die ethische Mittel-Zweck-Relation betont.

Der Bischof von Chichester, George Bell, warnte im britischen Oberhaus bereits 1943 vor einer Gleichstellung des deutschen Volks mit den Nazimördern. Am 9. Februar 1944 rief er dort aus: "Ich verlange, daß die Regierung angegangen wird wegen ihrer Politik der Bombardierung feindlicher Städte im gegenwärtigen Umfang, insbesondere hinsichtlich von Zivilisten ... sowie von nichtmilitärischen und nichtindustriellen Zielen. Es muß eine Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem erreichten Zweck bestehen. Eine ganze Stadt auszulöschen, nur weil sich in einigen Gegenden militärische und industrielle Einrichtungen befinden, negiert die Verhältnismäßigkeit."

Da hilft es auch nicht weiter, empörende Unmoral mit beschönigenden Pauschalurteilen und scheinbar rationalem Kalkül zu veredeln. So halten britische Historiker die RAF-Bombardements wegen ihrer - geringfügigen - Auswirkungen auf die bis Ende 1944 sogar steigende deutsche Rüstungsproduktion für "barbarisch, aber sinnvoll" (Richard Overy, Der Stern vom 19. Dezember 2002). Differenzierende Statistiken über Punktangriffe auf militärisch-industrielle Ziele und großflächige Stadtangriffe legen sie aber nicht vor, erst recht keine Analysen einzelner Luftschläge.

Bells leidenschaftlicher Appell zum Primat von Recht und Moral über ungezügelte "Zerstörungs- und Tötungstrunkenheit" (Jörg Friedrich, 2002) verweist auf ein Fundament des Kriegsvölkerrechts: den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser ergänzt die Haager Landkriegsordnung (HLKO) vom 18. Oktober 1907, ein auch von Großbritannien ratifiziertes Regelwerk zum Schutze von Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen. Die HLKO bindet die Unterzeichnerstaaten auch dann, wenn sie einen "gerechten Krieg" (insbesondere Verteidigungskrieg) führen oder der Feind zuvor seinerseits gegen HLKO-Normen oder in sonstiger Weise gegen die Menschlichkeit verstoßen hat. Art. 23 HLKO lautet: "Namentlich untersagt ist ... b) die meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres." Art. 25 HLKO: "Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen." Der apodiktische, vom Pathos politischer Aufklärung geformte Wortlaut der HLKO läßt nur einen Schluß zu: Die Unterzeichner-staaten wollten alle unmittelbar gegen Zivilisten gerichteten Kriegshand-lungen verhindern. Sie plazierten die entsprechenden Regeln in der Landkriegsordnung, weil zivile Nichtkom-battanten seinerzeit fast nur in einem Landkrieg (und nicht in einem See- oder sonstigen Krieg) gefährdet werden konnten.

Dieser Deutung steht nicht entgegen, daß sich zehn bis zwanzig Jahre später in manchen Staaten eine andere Rechtsauffassung durchzusetzen begann. Insbesondere das Großbritan-nien Churchills - als Kriegsminister plante er erstmals für 1919 vernichtende Bombardierungen Berlins - wollte die Anwendung der Art. 23, 25 HLKO auf taktische Fliegerangriffe zur Unterstützung eines Landheers beschränkt sehen. Weiteren, bei derartiger Norminterpretation konsequenten Vereinbarungen zur Beschränkung des strategischen Luftkriegs verweigerten sich die Briten.

Ebensowenig überzeugt der Einwand, die Art. 23, 25 HLKO seien kein für den Bombenkrieg geltendes Recht gewesen, weil sie sich als faktisch wirkungslos erwiesen hätten. Dem Einwand liegt der Gedanke zugrunde, daß Rechtsnormen nur dann gelten, wenn sie von ihren Adressaten im großen und ganzen befolgt bzw. bei Nichtbefolgung von einer eigens dazu autorisierten Instanz durchgesetzt werden ("soziale Geltungsbedingung des Rechts"). Dieser Ansatz mag für innerstaatliche Normen auf verfassungs- und wohl auch einfachrechtlicher Ebene akzeptabel sein. Im Kriegsvölkerrecht, durchdrungen von den Idealen aufklärerischer Vernunft, erweist er sich als systemsprengender Fremdkörper.

Der Bischof von Chichester warnte schon 1943: "Es muß eine Verhältnismäßigkeit zwischen den Mitteln und dem erreichten Zweck bestehen. Eine ganze Stadt auszulöschen, negiert die Verhältnismäßigkeit."

Jede schlagkräftige Armee hätte es in der Hand, zwischenstaatliche Kontrakte (sogar diejenigen über zivilisatorische Mindeststandards) außer Kraft zu setzen: keinesfalls nur de facto, sondern gerade auch de iure. Das kann nicht richtig sein. Wer trotz qualvoller Rückschläge an normativen Projekten zur Vermeidung und Begrenzung militärischer Konflikte festhalten will, darf ein solches "sacrificium intellectus" (Gustav Radbruch, 1932) nicht akzeptieren.

Alternativ zu der hier vertretenen Lösung lassen sich die beschriebenen HLKO-Normen auch als unmittelbar geltendes Natur-, Vernunft- oder ungeschriebenes Gewohnheitsrecht interpretieren. Gehört es doch zum Sinn und Zweck des Völkerrechts, alle Kriegshandlungen an ein unverzichtbares ethisches Minimum zu binden (zu den Grundsätzen des internationalen Rechts siehe etwa die Einleitung zum IV. Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907). Speziell die gewohnheitsrechtliche Variante wird vereinzelt in der Völkerrechtslehre diskutiert. Umfassende systematische Darstellungen gibt es insoweit aber ebensowenig wie zu der hier erarbeiteten Lösung einer weiten HLKO-Auslegung.

Selbst bei strenger Auslegung liegen vielerorts die Tatbestandsmerkmale sowohl des Art. 23 b als auch des Art. 25 HLKO vor. So ist etwa der Würzburg-Angriff meuchlerisch, weil die Bewohner einer militärisch bedeutungslosen, unverteidigten Kunst- und Bischofsstadt keinen Fliegerangriff einkalkulieren mußten und, wie ihr mangelhaftes Luftschutzverhalten zeigt, das offenbar auch nicht getan haben. Rechtfertigungsgründe, etwa unter dem Aspekt der "Repressalie" als sofortiger Reaktion auf einen Militärschlag deutscher Verbände, sind nicht zu ersehen. Sie wären im übrigen - Verhältnismäßigkeitsprinzip - wegen der vorhersehbaren Horrorfolgen des Fliegerangriffs unbeachtlich.

Das Terrorbombardement vom 16. März 1945 ist völkerrechtswidrig und dürfte obendrein, auch nach den Maßstäben alliierter Nachkriegsjustiz, ein elementare Prinzipien der Humanität verleugnendes Kriegsverbrechen sein. Fünfzig Jahre später klingt in einer Gedenkstätte des Würzburger Rathauses Verständnis für die facettenreiche Persönlichkeit Churchills an. Eine Geste der Versöhnung? Sie vermag freilich nur zu überzeugen, wenn die Spreng- und Brandbombenapokalypse in deutschen Städten ausgewogen analysiert und die für ihre historische Bewertung unverzichtbaren Kategorien von Recht und Moral nicht länger ausgeklammert werden. Bei aller Verachtung für den Kriegs und andere Horrortaten des NS-Regimes: Die überbordende nationale Scham der Jahrtausendwende markiert eine neue Spielart "deutscher Ideologie" (Karl Marx).

"Kein Unrecht, und mag es noch so groß gewesen sein, rechtfertigt anderes Unrecht": eine Leitidee philosophischer Aufklärung in den Worten Roman Herzogs. Greift man zum großen Kausalitätsmaßstab, so wurden Würzburg, Dresden, Hamburg oder Heilbronn auch Opfer der leidvollen, Jahrhunderte währenden europäischen Gegensätze. Die aus imperialem Gehabe sowie machtpolitisch instrumentalisiertem Konfessionswahn erwachsenen Feldzüge (nicht selten mit "verbrannter Erde" im Feindesland) haben bis in die jüngste Vergangenheit ein explosives Gemisch aus Furcht und wechselseitiger Abneigung erzeugt, das die gewaltige Metaphorik des Gelsenkirchener Monuments "für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" fokussierend einfängt: "Zerstampft des Unrechts Drachensaat, zerstört den Haß von Staat zu Staat ..."

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Zuletzt schrieb er in JF 26/03 zum Thema Zuwanderung.

Foto: BU: Kriegsgefangene bei Aufräumarbeiten nach einem Luftangriff auf Köln 1944: Der Bombenkrieg hinterließ eine Tabula rasa der Architektur und der Stimmung in deutschen Städten.


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