© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/04 19. März 2004

Der Haß auf das Schwache
Der amerikanische Publizist Edwin Black weist auf die Vorbildfunktion der US-amerikanischen Eugenik-Bewegung für die Nationalsozialisten hin
Stefan Scheil

Ungezählte Generationen von Philosophen haben darüber nachgedacht, was der Mensch tun soll und warum. Wenn für ihn Moralgesetze gelten sollen, dann muß hier eine Differenz zur Natur bestehen. Die Natur ist völlig unmoralisch, und gerade weil dies so ist, setzte sich schließlich die Ansicht durch, es sei ein Fehlschluß, aus ihrer Beobachtung menschliche Handlungsanweisungen gewinnen zu wollen. Der Mensch bezieht seine Würde aus einem eigenen Kosmos, und die Welt des Fressens und Gefressenwerdens kann für ihn nicht der Maßstab sein. Jedoch, wie François de La Rochefoucauld einmal so treffend gesagt hat, triumphiert die Philosophie nur über die vergangenen und zukünftigen Übel, die Übel der Gegenwart aber immer über die Philosophie.

Edwin Black berichtet über die vergangene "Gegenwart" des frühen 20. Jahrhunderts. Der Autor ist mit einem Buch über die Kontakte der Firma IBM zum nationalsozialistischen Deutschland berühmt geworden, in dem er sich bis zu der kühnen These verstiegen hat, ohne amerikanische Technologie wäre der Holocaust in dieser Form unmöglich gewesen. Das hat international Furore gemacht, auch wenn von Kritikern und Opferverbänden kritische Fragen gestellt wurden, ob diese Verbindung nicht zu konstruiert sei. Nun geht Black noch einen Schritt weiter: Die schiefe Bahn, die am Ende bis hin zur Ermordung der europäischen Juden führte, so läßt er den Leser wissen, wurde zuerst in Amerika betreten.

"Seit Jahrzehnten ist Hitlers blutiges Regime, der Holocaust und der Zweite Weltkrieg vor allem als Folge der unglaublichen Verrücktheit eines Mannes und der von ihm gegründeten Bewegung gedeutet worden. Aber tatsächlich war Hitlers Haß keineswegs blind, sondern exakt fokussiert auf eine eugenische Vision. Der Krieg gegen die Schwachen entwickelte sich aus amerikanischen Slogans, Indexkarten und Skalpellen hin zu Naziverordnungen, Ghettos und Gaskammern." Diese Entwicklung zeichnet Black nach. Der Autor geht zurück in die Frühzeit der Eugenik-Bewegung in den Vereinigten Staaten, als man dort begann, Kranke und Behinderte zugleich als finanzielle Last und biologische Gefahr für die Gesellschaft zu sehen. In zahlreichen Beispielen verfolgt er den Weg dieses Gedankens und die persönlichen Beziehungen zwischen dessen Protagonisten. Vor gewagten Vergleichen scheut er nicht zurück. So erfährt man eher beiläufig auch, daß die Gaskammer eine britische Erfindung sei, wenn auch zur Tötung streunender Hunde. Niemand anderer als George Bernhard Shaw soll laut Black im Jahr 1910 bereits gesagt haben, daß "die Politik der Eugenik uns auf dem direkten Weg zu einem ausgiebigen Gebrauch der Gaskammer führen wird, denn eine große Zahl Menschen wird aus der Existenz auszuscheiden sein, einfach deshalb, weil es die Zeit anderer Leute verschwendet, dauernd nach ihnen sehen zu müssen".

Black nimmt dies für bare Münze. Ob es nicht eher eine höhnische Attacke des Dramatikers auf die letzte Konsequenz eugenischer Visionen war, bleibt allerdings ungeklärt. Was solche Zitate mit den USA oder gar mit der Rückwirkung amerikanischer Entwicklungen auf Deutschland zu tun haben, wird nicht immer ganz deutlich. Dabei ist die These eines Zusammenhangs zwischen Entwicklungen in den USA und den Hitlerschen Vorstellungen von Rassenpolitik so neu nicht. Auch der Rezensent hat vor Jahren darauf hingewiesen, welch erstaunlich prägende Rolle die Rassegesetze der Vereinigten Staaten bereits bei der Genese dieser Zukunftsabsichten gespielt haben. Black und sein fünfzigköpfiges Rechercheteam gehen jedoch nicht darauf ein, daß Hitler in den späten zwanziger Jahren tatsächlich ein lebhafter Bewunderer der damaligen offiziellen amerikanischen Rassenpolitik war, die er in seinem zweiten Buch geradezu als so vorbildlich hinstellte, daß seiner Meinung nach nur eine vergleichbare deutsche Strategie "der drohenden Überwältigung durch die Vereinigten Staaten" entgegentreten könnte.

Zu den originellsten Pfunden, mit denen der Autor wuchern kann, gehört der Nachweis einer direkten Beziehung von Hitler persönlich zu den in Amerika publizierten Ideen. Während seiner Haftzeit in Landsberg oder kurz danach hat Hitler unter anderem "The Passing of the Great Race" von Madison Grant gelesen, das 1925 in deutscher Übersetzung bei einem Verleger herauskam, der 1923 den Marsch auf die Feldherrnhalle mitgemacht hatte. Grant schrieb unter anderem, daß man vom "sentimentalen Glauben an die Heiligkeit des menschlichen Lebens Abstand nehmen müsse und dazu übergehen, sowohl behinderte Neugeborene zu töten wie auch solche Erwachsenen zu sterilisieren, die eine Belastung für die Gesellschaft seien. Die Naturgesetze verlangen die Vernichtung der Untauglichen, und menschliches Leben ist nur von Wert, wenn es der Gemeinschaft oder der Rasse dient."

Diese Formulierungen klingen nun wirklich bekannt. Damit aber nicht genug, hat Hitler sie tatsächlich von dieser Stelle übernommen. Black zeigt, daß einige Stellen in "Mein Kampf" weitgehend Paraphrasen aus Grants Buch sind, so etwa die Behauptung, kein Neger oder Chinese werde Deutscher, nur weil er Deutsch spreche und einen Anzug trage. Grant hatte fast wortwörtlich Gleiches geschrieben bezüglich der Möglichkeit, Amerikaner zu werden. Eines Tages bekam Grant daher Post aus Deutschland, in der ein Bewunderer zum Ausdruck brachte, Grants Buch sei "seine Bibel". Dieser Bewunderer war Adolf Hitler.

Blacks neues, aufwendig recherchiertes Buch gibt einen Einblick in die letzten Folgen, die zu gewärtigen sind, wenn der Mensch in den Augen sozial- und machtpolitischer Funktionsträger seine Würde und Heiligkeit einbüßt und statt dessen mit letzter Konsequenz zum reproduzierbaren Objekt und Wirtschaftsfaktor reduziert wird. Der Autor macht aus seiner Verachtung dieser Denkart keinen Hehl. Daß er meint, dies durch einen unablässigen und vielfältigen Gebrauch des Adjektivs "Nazi" ausdrücken zu müssen, bleibt ein eher marginaler Kritikpunkt. Es ist ein lesenswertes Buch zu den Übeln jener Art, wie sie von der Philosophie nicht immer gestoppt werden können. Daß in der westlichen Welt heute sogar nichtbehinderte ungeborene Menschen wegen der materiellen Folgen ihrer bevorstehenden Geburt legal getötet werden dürfen, spricht der Autor nicht eigens an. Allerdings entwickelt er im Schlußabschnitt eine düstere Vision der Folgen von Abtreibungen behinderter Föten, von gentechnisch konstruierten Designerbabies und der vereinzelt bereits jetzt bestehenden versicherungstechnischen Diskriminierung natürlich Geborener. Eugenik ist Gegenwart.

Edwin Black: War against the weak: Eugenics and America´s Campaign to create a Master Race. Four Walls Eight Windows Press. New York 2003, 552 Seiten, 27 Dollar.


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