© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/04 02. April 2004

Sandra Kalniete
Frau der klaren Worte
von Carl Gustaf Ströhm

Was Lettlands Ex-Außenministerin Sandra Kalniete während ihres Vortrags aus Anlaß der Leipziger Buchmesse sagte, gehört in den baltischen Staaten zu den Binsenwahrheiten: daß nämlich Nationalsozialismus und Kommunismus in gleicher (oder sehr ähnlicher Weise) totalitäre und damit verbrecherische Regime gewesen sind, die das Schicksal der ihnen unterworfenen Völker im 20. Jahrhundert geprägt haben.

Außerdem sprach die designierte EU-Kommissarin von der Notwendigkeit, daß die europäischen Nationen einander in "gleicher Augenhöhe" begegnen sollten. Diese Formulierungen verursachten allerdings in Deutschland äußerst negative Polemiken - nicht nur von Salomon Korn, Vize des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der Vorfall entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, denn Frau Kalniete weiß, wovon sie spricht.

Sie selber gehörte zu den Opfern des sowjetischen Gulag. 1952 wurde sie in der Nähe von Perm in Sibirien als Tochter eines in die Tiefen der Sowjetunion zwangsverschleppten Ehepaares geboren - ihre ersten Kindheitserinnerungen beziehen sich auf den "Archipel Gulag". Die Tatsache, daß die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler gekämpft hat, dürfe nicht dazu führen, die Verbrechen des Stalin-Regimes zu verharmlosen, meinte die lettische Politikerin unverdrossen.

Ihre eigene Familie hat in der Deportation mannigfache Verfolgung und auch Vernichtung erlitten. Ihre Angehörigen und Verwandten sind entweder in sibirischen Lagern verschollen oder haben jahrelange qualvolle Unterdrückung durch die Sowjetmacht erfahren. Über ihre Lagerjahre als junges Mädchen hat Sandra Kalniete inzwischen ein Buch veröffentlicht: "Mit Ballettschuhen im Schnee Sibiriens". Nachdem die baltischen Staaten dem Hitler-Stalin-Pakt zum Opfer fielen und 1940 von sowjetischen Truppen überfallartig besetzt wurden, kam es zu Massendeportationen "unzuverlässiger" Bewohner, die in Viehwaggons nach Osten abtransportiert wurden. Schon beim Transport gab es unzählige Tote. Zehntausende von Zivilisten - vom Bauern bis zum Professor - kamen so unter furchtbaren Umständen in die Steppen und Eiswüsten des Sowjetreichs um. Viele kehrten nie wieder zurück nach Hause. Sandra Kalniete sah ihre lettische Heimat erst nach dem Tode Josef Stalins wieder.

Zunächst studierte sie Kunstgeschichte und wurde Generalsekretärin des lettischen Künstlerverbandes - eine politische Karriere war ihr versperrt. Doch als das rote System zu wanken begann, schloß sich Kalniete der Unabhängigkeitsbewegung für ein freies Lettland an. Sie wurde Uno-Sonderbotschafterin und hatte mehrere hohe Posten in verschiedenen lettischen Regierungen nach 1991 inne.

Daß ihre Leipziger Rede solch einen Aufruhr auslöste, mag sie erstaunt haben: denn in Lettland sind die meisten Menschen der Meinung, daß sie recht hat.

Dokumentation der Rede auf Seite 6, siehe außerdem Seite 11


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