© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/04 09. April 2004

Vor Selbsthaß verstummt
Linguistik: Warum Wolfgang Thierses Forderung nach einer Quote für deutschsprachige Musik zu kurz greift
Doris Neujahr

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat eine Quote für deutschsprachige Musik im Rundfunk gefordert, weil er um die "zarten Pflänzchen" der deutschen und europäischen Kultur fürchtet.

Künstler aus Deutschland und Europa müßten größere Chancen bekommen "gegen die Allmacht des amerikanischen Kulturimperialismus". Er verwies auf Frankreich, wo 40 Prozent der im Rundfunk gespielten Titel französischsprachig sind (JF 15/04).

Als studierter Germanist sollte Thierse über Sprache und Kommunikation ein bißchen Bescheid wissen. Der Schweizer Linguist Ferdinand de Saussure hat Anfang des vergangenen Jahrhunderts die Sprache als etwas Gemeinsames, Wesentliches, Soziales definiert. Sie umschließt Bewußseinsinhalte, ist Gedächtnisspeicher und gesellschaftlicher Konsens. Die Kommunikation - Saussure unterschied zwischen Sprechakt (parole) und Sprache (langue) - war dessen individuelle Realisierung.

Die moderne Linguistik hat dieses Modell verfeinert und den dialektischen Charakter von Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen betont. Kommunikation ist nicht nur der Vollzug von etwas Gegebenem, sondern auch Tätigkeit, Auseinandersetzung mit der Umwelt und Reaktion auf sie.

Aus dieser Perspektive müßte man, um ernsthaft argumentieren zu können, darüber nachdenken, was die Flucht aus der eigenen Sprache bedeutet und welche Ursachen ihr zugrunde liegen. Man würde darauf stoßen, daß der Vergleich mit Frankreich genauso in die Irre führt wie Thierses kruder Antiamerikanismus.

Man würde nämlich - unter anderem - einen Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Verzicht auf die deutsche Sprache und dem deutschen Selbsthaß feststellen. Dieser macht es von vornherein unmöglich, kulturellen Widerstand gegen die globalen Marktgesetze zu mobilisieren, deren "Allmacht" Thierse beklagt.

Thierse sollte sich an die eigene Nase fassen. Denn tagsüber definiert er die Identität seines Landes aus dessen größter Schande, arbeitet er daran, diese in Beton zu gießen und ins Herz der Hauptstadt zu pflanzen, und am Abend echauffiert er sich: Huch, die Deutschen lieben ihre eigene Sprache und Kultur nicht mehr!

Es gibt dafür nur eine Erklärung: Unsere politische Elite - ein Begriff, der eigentlich in Anführungszeichen gehört - weiß wirklich nicht, was sie tut. Vergebung und Mitleid verdient sie deswegen noch lange nicht.


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