© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/04 09. April 2004

Das Vierte Gebot
von Richard Baumann

Da hilft nur noch beten! Mit diesem Stoßseufzer drücken wir unsere Resignation aus. Einem Christen jedoch eröffnen sich im Gebet Perspektiven, die neue Hoffnung in schwierigen Situationen - auch denen eines Landes - eröffnen können. Rückschläge bei den Reformbemühungen, demographische Hor-rorszenarien, Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Furcht vor extremistischen Gewalttätern, Kopftuch- und Kruzifix-Diskussion, fehlendes Augenmaß bei den Denkmälern und Verewigung deutscher Schuld - die Liste nimmt kein Ende. Worüber soll man da mehr Traurigkeit empfinden, über das lautlose Verschwinden und Verdunsten des Christentums oder über die fehlende Bindungskraft unserer nationalen Identität? Was ist für unser Gemeinwesen gefährlicher?

Oder könnte es sogar sein, daß es für beide Arten des Niedergangs eine gemeinsame Wurzel gibt? Ein Blick auf unsere Nachbarländer zeigt: Glaube an Gott und Bekenntnis zum Vaterland sind dort kein Gegensatz, vielmehr stützen sie einander und speisen sich aus gleicher Quelle. Nicht nur die Polen, auch die Spanier, Iren und Amerikaner praktizieren Christentum und Patriotismus gleichermaßen. Uns Deutschen scheint beides weithin abhanden gekommen zu sein.

Wer als Christ lebt, wird eine besondere Beziehung auch zu seinem Land entwickeln. Und wer sich als Patriot versteht, der erkennt an, daß andere Gläubige viele seiner Ideale und Maximen teilen. Nicht nur aus gemeinsamen Zielen, auch in der Wahrnehmung gleicher Gegner definiert sich eine Partnerschaft. Der Zerfall der Familie und die übersteigerte Bedeutung materieller Bedürfnisbefriedigung sowie die kulturelle Verflachung bedeutet für Christen und Patrioten gleichermaßen eine Gefahr.

Das Vierte Gebot ist heute vergleichsweise schlecht angesehen. "Du sollst Vater und Mutter ehren" - es bedarf keiner großen exegetischen Fachkenntnis, dies so zu interpretieren, daß sich Christen der Sorge und der Verantwortung für ihr Land nicht entziehen dürfen. Zunächst sind Vater und Mutter konkrete Personen, und das Lebensglück eines Menschen hängt eng damit zusammen, welcher Art und Tiefe die Beziehung zu den eigenen Eltern ist. Längst hat die moderne Psychologie dies anerkannt und betont. Das Gebot meint aber auch Eltern im weiteren und weitesten Sinne. Es umfaßt die Ahnen und die Sippe, es meint die Tradition, das geschichtlich Überlieferte und den Lebensschatz unserer Vorfahren.

Die Menschen sollen als kostbar erachten, was lange vor ihnen war, und was sie unweigerlich an Erbe und Auftrag in sich tragen. Wer um diese Dimension seines Daseins weiß, wird das Land seiner Väter niemals verdammen können. Solche, die mit einem haßerfüllten "Deutschland, verrecke!" ihre eigene, meist verkrachte Existenz zu bewältigen suchen, gibt es heute mehr denn je. Das ist verletzend und zerstörend - vor allem aber widerspricht es Gottes Geboten. Jesus selbst war kein Kosmopolit, sondern in den Sitten des alten Israel tief verwurzelt. Über die Hartherzigkeit seines Volkes weint er, aber verurteilt und richtet es nicht.

Das Sich-bewußt-Werden seiner eigenen Herkunft kann die persönliche Situation anders beleuchten und geduldige Achtsamkeit und Gelassenheit schenken. Es darf einmünden in eine frohe Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer und neuen Mut: Dankbarkeit für den unermeßlichen Reichtum seiner Natur. Millionen von Tierarten und Pflanzen hat er, so ist die Überzeugung aller Christen, für das Wohlergehen und zur Freude seines Abbildes über Jahrmillionen ins Dasein gerufen. Von so hoher Meinung ist die Bibel über den Menschen als Krone der Schöpfung. Und auch in diesem Abbild begegnet uns eine wunderbare Vielfalt und Unterschiedlichkeit, eine Menge von Stämmen, Rassen, Völkern und Nationen, von denen jede ihre eigene Geschichte und ihren angestammten Platz auf dem Globus hat und von dort ihre eigene Dynamik entfaltet. Christen nehmen den Schatz der Schöpfung wahr, erkennen sich als Teil davon und schöpfen Kraft und Demut daraus. Beides braucht es, um gut, gerecht und froh auf Gottes Erde leben zu können und den nachfolgenden Generationen Lebensräume und Chancen zu erhalten.

Alles, was wir heute an sozialen Errungenschaften kennen und schätzen, entspringt seinem Wesen nach dem christlichen Erbe, auch wenn es viele glaubwürdige Beispiele von religions-freien Humanisten gibt, die sich die (primär) biblischen Werte von Solidarität und Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die Stellung der Familie, die recht verstandene Emanzipation der Frau, der Schutz für alle Schwachen, Hilfsbedürftigen, Kranken und Sterbenden sind unverzichtbare Bausteine christlicher Moral. Wer sich seinem Volke nicht nur zugehörig weiß, sondern auch die eigene Verantwortung für dessen Heil und Zukunft bejaht, wird an diesen Eckpunkten menschlichen Zusammenlebens nicht vorbeikönnen. Letztlich findet das Vierte Gebot im universelleren Gebot "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" (treffender noch wird der Urtext der Bibel übersetzt: Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du!) seinen tieferen Sinn und seine bleibende Bedeutung. Christen geben je nach ihrer Situation diesem "Nächsten" ein Gesicht: das Gesicht des (Ehe-)Partners, des Kindes, des Nachbarn, des Arbeits- oder Wohnsitzlosen - oder des Landsmanns.

Auch Christen ist es schmerzlich bewußt, wie weit wir oft von diesem Ideal entfernt sind. Doch gläubige Menschen wissen auch, daß für Krieg und Elend unter den Völkern nicht ein fehlerhafter Plan Gottes verantwortlich zu machen ist, sondern daß das Leid aus einer falsch gebrauchten Freiheit der Menschen resultiert.

Dem Christen ist die Achtung des Fremden aufgetragen, dem man mit besonderer Aufmerksamkeit begegnen soll. Weniger bekannt ist heute die Mahnung der Bibel, daß auch Fremde die Gebote des gastgebenden Landes einhalten sollen, keine lästerlichen Äußerungen tun und sich den Sitten und Gebräuchen der Einheimischen anpassen sollen. Max Weber hat gesagt: Der biblische Wertekanon ist kein Fiaker, in den man beliebig ein- und aussteigen kann. Hier ist für viele Sozial-Christen ein heikler Punkt, weil ihre Auffassung von "Fernstenliebe" sich biblisch nicht einseitig begründen läßt.

Die Akzeptanz sowohl für das Christentum als auch für einen gemäßigten Patriotismus ist in diesem Land wohl auch deshalb begrenzt, weil deren Vertreter persönlich nicht überzeugend auftreten. Wer sich nicht traut, über Gott zu sprechen und sich als Betender und Jesusanhänger offen zu bekennen - "outen", wie man heute sagt -, der wird ähnlich übersehen werden wie einer, der die Interessen seines Volkes nicht offensiv vertritt, wenn ihm der scharfe Wind des Gegners ins Gesicht bläst. Authentizität und Glaubwürdigkeit haben in beiden Fällen ähnliche Bedeutung.

Doch es gibt auch Grenzen des Engagements: Für Christen ist die freie Entscheidung des Gegenübers stets höher zu bewerten als die Absicht zu missionieren. Und für Verantwortungsbewußte endet der Patriotismus dort, wo das eigene Volk herrschend über andere gestellt wird. Ein solcher Nationalismus bedeutet eine Abkehr von der sittlich gebotenen Vaterlandsliebe. Überzeugte und überzeugende Christen könnten Brückenbauer zwischen den Nationen sein, immer auf der Grundlage geschichtlicher Wahrheit und politischer Unabhängigkeit.

Das Christentum erschien gerade uns Deutschen als Quelle der Kraft und des geistigen Neuanfangs nach der nationalen Katastrophe. Ob nach dem Dreißigjährigen Krieg oder nach 1945: Man stand zusammen in dem Bewußtsein, Schlimmes und Schlimmstes durchlitten zu haben und aus den Lehren der Vergangenheit einen Neuanfang gestalten zu wollen - gestützt auf Männer wie Martin Luther, Friedrich II. oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Wenn dieser Held starb mit den Worten auf den Lippen "Es lebe das heilige Deutschland", dann ist das Erbe und Verpflichtung. Daß uns in den öffentlichen Äußerungen zum 20. Juli diese Worte nicht übermittelt werden, entspricht der Auffassung der Medien.

Mit einem schwierigen Thema umzugehen, heißt Gefahr zu laufen, daran zu scheitern. Nicht ohne Grund hat die Union die laut angekündigte Patriotismus-Debatte nach dem Fall Hohmann feige ausfallen lassen. Denn sie hätte ja das Resultat haben können, daß das Thema Deutschland in der "christlichen" Union der Merkels und Stoibers nicht gut aufgehoben ist.

Paul Gerhardt hat das wunderschöne Lied verfaßt, in dem es heißt: "Er (Gott) lasse seinen Frieden ruhn auf unserm Volk und Land." Und in einem anderen Kirchenlied heißt es: "Wach auf, wach auf, du deutsches Land." Allmählich dämmert es nun, was wir durch Schläfrigkeit zu verlieren drohen: Halt und Orientierung, die geistige und geistliche Heimat, aus denen sich das sittliche und soziale Verhalten unserer Vorfahren jahrhundertelang gespeist hat. Trotzdem leben wir nicht in einer aufgeklärten, religionslosen Zeit: Fortschritts- und Marktgläubigkeit, Jugendwahn und Coolness haben sich auf den verlassenen Altären inthronisiert. Auch Sekten haben verstärkten Zulauf.

Christsein hat mit "Dienen" zu tun, mit dem Bewußtsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, das wertvoller ist als die Summe seiner Komponenten. Nicht anders ist es beim Patriotismus: Wir sind Teil eines Volkes, und der Patriot zeichnet sich dadurch aus, daß er das Ganze in seinen Entscheidungen mitdenkt. Wie aufrechte Christen heutzutage angefeindet werden - denken wir an das Thema Abtreibung oder den Schutz des Sonntags -, werden auch Patrioten ausgegrenzt und verfolgt. Bekennermut ist von beiden verlangt.

Von Martin Luther ist überliefert: Eine Goldkette verliert nicht dadurch an Wert, daß sie am Hals einer Dirne gehangen hat. Das sollte Christen aller Konfessionen den Mut geben, sich für die Sache des Vaterlandes einzusetzen. Auch die schlimmsten Verbrechen, die in deutschem Namen verübt worden sind, rechtfertigen keine Gleichgültigkeit gegenüber der Lage, in der sich Deutschland heute befindet.

Auch die Kirchen haben mit der Preisgabe von Inhalt und Form ihrer Lehren ganz offenbar Kredit verspielt. Noch immer treten jährlich Hunderttausende aus und nehmen Abschied von einer Kirche, die sie nicht mehr anzusprechen, geschweige denn zu begeistern versteht. Gäbe es eine kostenpflichtige Mitgliedschaft auch in Sachen deutscher Nation, so hätten wohl Millionen von Landsleuten diese schon um des lieben Euro willen gekündigt. Weit mehr als finanzielle Erwägungen aber wäre dabei von Bedeutung, was sich die Menschen von einer solche Zugehörigkeit eigentlich versprechen. Und wo der kirchlich distanzierte Mensch sich schwertut mit Kategorien, die über seinen eigenen Nutzen hinausgehen, wird er auch seiner Nation als Rahmen für eigenes Tun und Denken keinen großen Wert mehr einräumen.

Wir stehen kurz vor Ostern, dem Fest der Auferstehung des gekreuzigten Herrn Jesus Christus. Nur ein hingerichteter Wanderprediger aus längst vergangener Zeit - oder doch der menschgewordene Gott als unser Erlöser und Retter der Welt? Können wir uns ein Leben lang an dieser Frage vorbeimogeln, müssen wir nicht doch Farbe bekennen? Im Gottesdienst zu Karfreitag wird in den Großen Fürbitten für die Juden gebetet. Der Blick nach Palästina zeigt uns, wie buchstäblich notwendig dieses Gebet für alle Bewohner des Nahen Ostens heute ist. Warum nicht auch für das eigene Vaterland und seine Zukunft gebetet wird?

Vielleicht fehlt es den Priestern und Bischöfen einfach am Mut.

Christen und Patrioten sitzen in einem Boot. Ihre Situation ist in vielem vergleichbar. Es eint sie die Erkenntnis, daß zum guten Leben eines freien Menschen mehr gehört, als in Zahlen auszudrücken ist. Sehnsucht nach Sinn und Dauer, soziale Gerechtigkeit als Ausdruck der Nächstenliebe und die Achtung der eigenen ethnischen Herkunft könnten harmonische Akkorde ergeben in einer Zeit der schrillen Dissonanzen.

Gerade der Maler Caspar David Friedrich hat an entscheidenden Punkten seines ansonsten landschaftlich orientierten Werkes christliche Symbole eingesetzt. Der nationale Charakter seines künstlerischen Wesens kommt zunächst in der Darstellung einsamer deutscher Landschaften von Rügen bis zum Riesengebirge zum Ausdruck. Das geschichtliche und philosophische Moment bilden einzelne Monumente, wie hier im Bild eine Klosterruine und ein Friedhof, die stets einen verfallenen Eindruck machen. In Trümmer gesunken ist der hochragende gotische Kirchenbau, und das dünngliedrige Skelett des Chores erscheint in der nebligen Luft nur wie eine Vision. Das Bild wirkt düster, aber von oben her dringt ein zartes Licht, für den tiefreligiösen Künstler ein Zeichen für die Hoffnung auf ein ewiges Leben.

Doch zugleich liefert Friedrich mit diesen Kreuzen und Kirchenruinen auch Zeitkritik. Schon im 19. Jahrhundert richtete der Mensch sich immer mehr auf weltliche Belange und verschrieb sich ohne Einschränkung dem Fortschritt. Die religiöse und nationale Tradition wurde vernachlässigt - aber sie verschwand nicht. Auf dem Bild "Huttens Grab" zeigt der Maler eine andächtige Gestalt in der altdeutschen Tracht der Burschenschaften bei dem ebenfalls verfallenen Grab des großen Reformators und Vorkämpfer des nationalen Gedankens. Die Trümmer bewahren den Geist bis zu einem neuen Aufblühen.

Foto: Caspar David Friedrich, Klosterfriedhof im Schnee, Ölgemälde 1819: Vorbild für die Architektur war die Ruine Eldena bei Greifswald. Doch der Maler will nicht nur das Äußere abbilden.

 

Richard Baumann, Jahrgang 1965, ist Betriebswirt und lebt in Ellwangen.


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