© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/04 16. April 2004

Karriere nach Elternwunsch
von Martin Ebel

Das Wort "Elite" umgibt eine Aura von Geheimnis. Man denkt an efeuberanktes neo-gotisches Gemäuer unter uralten Bäumen in gepflegten Parks, an bläßliche charismatische Hochbegabtengesichter über dem Windsorknoten der Schuluniform, an distinguierte Professoren im Tweed-Jackett, die Novizen vor dem Kamin ihrer College-Dienstwohnung in die Tiefen der Wissenschaften und Künste einweihen - viel zu tief für Standardstudenten mit ihrer Bildung im Taschenbuchformat an den lauten und überfüllten Universitäten da draußen.

Was Eliteuniversitäten leisten können, und was daran einfach Legendenbildung ist, kann zunächst mit Blick auf die schon bestehenden Privatschulen und Internate gefragt werden, die sich beinahe durchweg als elitäre Einrichtungen ansehen.

Die private "Elitebildung" ist zuallererst Bildung gegen Geld. In der Selbstdarstellung der Privaten ist immer alles Sendung, pädagogischer Geniestreich, fachliche Hochkompetenz, Vision. Daß das alles mit immensem Geldaufwand zu tun hat, davon soll möglichst nicht die Rede sein. Der Preis, den man bei einer Beratung beispielsweise im Internat Salem am Bodensee genannt bekommt, ist so hoch, daß er dem Normalverdiener rein abstrakt erscheint.

Darin gleicht das "internationale Eliteinternat" den übrigen Instituten dieser Prägung: Es handelt sich um Schulen für Bürgersöhnchen und -töchter, die sich sieben oder acht Jahresbeiträge in fünfstelliger Höhe bis zum Abitur leisten können. Das Eintrittsbillett in die Elitebildung mit all ihren wohlklingenden Attributen wie Mitmenschlichkeit, Sozialkompetenz und Verantwortung ist für die meisten schlicht unbezahlbar.

Der Staat selbst betreibt Internatsschulen mit ähnlichen Verheißungen - und mit ähnlichen Preisen: Schulpforta in Thüringen und Sankt Afra in Sachsen zum Beispiel. Oft genug landen so an den Elite- bzw. Privatschulen eben nicht die Begabten, sondern in der Regel ein Durchschnitt, der den hervorragenden Wirkungsgrad des Unterrichts in kleinen Klassen nötig hat, weil er in den staatlichen Gymnasien das Leistungsmaximum nicht erreichte. Das Abitur wird nicht erkauft, aber doch bezahlt. Mit den Feinheiten von Abrechnung und Abwahl ganzer Fächer und im Beherrschen des landläufigen Jonglierens mit dem Etikettenschwindel von Grund- und Leistungskursen ist man privat noch cleverer als staatlich.

Was wird geboten? Die Hochglanzprospekte mit harmonischer Landschaft verheißen eine Bildung und Erziehung, deren Qualität alles Staatliche und Schulübliche in den Schatten stellt. Große Fotos vermitteln eine heile Welt und erzeugen den Eindruck, als handele es sich bei den Schulen um Ferienparadiese. Hinterfragt man jedoch kritisch, so verbirgt sich hinter den andauernd ventilierten Schlüsselwörtern Leistungsorientierung und Begabtenbildung vor allem ganztägige Betreuung in Unterrichts-, Hausaufgaben- und andauernden Nachhilfezeiten, ein An-die-Hand-nehmen und Pauken in kleinen Klassen im Geschmack des latenten Förderunterrichts.

Die Klientel der Privatschulen verlangt rein pragmatisch, daß der Schüler möglichst glatt, zügig und komplikationslos zum und durchs Abitur geführt wird, so daß dem Studienplatz der Wahl, also vor allem dem Start in Medizin-, Jura-, BWL/VWL-Profilen, nichts mehr im Wege steht. Es geht darum, die Bahn freizubekommen für die Karriere nach Elternwunsch. Freundeskreise und Seilschaften von Ehemaligenverbänden helfen dabei und kaschieren den abgestimmten Eigennutz mit einem pseudoaristokratischen Dünkel von Standesdenken und Korpsgeist.

Die attraktive Lage der Privat- beziehungsweise Eliteschulen in den schönsten Gegenden Deutschlands ist nicht allein aus ästhetischer oder gar ökologischer Sicht gewählt. Achtung vor der Arbeit und Erlebnisse in der Natur liegen nicht im Mittelpunkt des Interesses. Eher sollen die behüteten Söhne und höheren Töchter derer, die sich zuerst selbst als Elite verstehen, herausgehalten sein aus der gesellschaftlichen und vor allem der sozialen Wirklichkeit. Diese Schulen bilden ein fast exterritoriales Gebiet, weil sie Orte eines verschwenderischen Wohlstands sind, dessen Besserverdienerkultur in diesen Exklaven von den Insassen als normal, zumindest als verdienter und angemessener Standard angesehen wird. Die Schüler der Privat- und Eliteinstitute wissen: Da draußen gibt es eine Welt, die nach anderen Regeln funktioniert, aber gerade weil diese Regeln nicht unsere und schon gar nicht nach unserem Geschmack sind, befinden wir uns hier - als Elite - unter uns.

Daß Wohlstand mitunter ein trauriges Gesicht hat, muß dabei hingenommen werden: wenig authentische und elementar prägende Erlebnisse, noch weniger frische Luft, kein Baumhaus, keine Rangelei auf dem Bolzplatz. Dafür der Lebenswandel eines Jungrentiers, Medienfixiertheit, Repräsentation, Golf in Spanien, Tennis in England und im Winter das Edelpistenmallorca von Sölden. Unter Ganztagsbetreuung - auch dies neuerdings ein bildungspolitisches Zauberwort - versteht man vor allem das Anwerfen einer Projektmaschinerie am Nachmittag, der sich alle zuzuordnen haben: Unterricht light.

Mittlerweile bezahlt sogar der Steuerzahler immer mehr Schülern die Internatsplätze und bringt so Kinder weniger solventer Elternhäuser in die Gesellschaft von Großbürgertum und Adel - abgesehen davon, daß gemäß der Recherchen des Politik-Magazins der ARD auch reiche Eltern kluge Eltern sind und sich gern von öffentlichen Geldern aushelfen lassen. Wer den Jugendämtern über psychologische Gutachten nachzuweisen versteht, daß sein Sprößling wegen psychischer Auffälligkeiten oder Hochbegabung nur an einem der Internate optimal gefördert werden kann, für den trägt - gemäß Paragraph 35 a Sozialgesetzbuch VIII - der Staat die Kosten der Eliteeinrich-tung.

Da sowohl Hochbegabung wie auch das hyperkinetische und Aufmerk-samkeitsdefizitsyndrom so inflationär diagnostiziert werden, wie etwa das Medikament Ritalin und seine Varianten verschrieben werden, stiegen die Ausgaben der öffentlichen Hand für den Paragraph 35 a innerhalb der letzten Jahre von 200 auf 400 Millionen Euro an. Weil die Jugendämter das Geld pünktlich und korrekt überweisen, sind die staatlich alimentierten Schüler bei den Privaten gern gesehen. Der Rentabilität der Unternehmen kommt es ferner entgegen, daß bis zu 80 Prozent der Lohnkosten für Lehrer gemäß den Schulgesetzen des Landes ebenfalls staatlich zugeschossen werden.

Auf schulische Ausstattung kommt es so sehr nicht an, denn in den kleinen Klassen funktionieren selbst fade Didaktik und Methodik ohne Pfiff meist effektiver als manch interessanter Ansatz draußen. Beflissen wird der gebotene Stoff übernommen und in Kontrollen artig zurückgespielt. Egoistische Bezogenheit auf das eigene Resultat gilt als Leistungsorientiertheit; echte Selbständigkeit, die Widrigkeiten zu überwinden gelernt hat, kann so nicht entstehen. Von der Achtung gegenüber Arbeit, Ressourcen und Natur steht nichts in den Prospekten.

Eine Elite, die diesen Namen verdient, bedarf nicht der Förderung, sondern versteht sich angesichts von Herausforderungen und Widrigkeiten durchzusetzen. Hochbegabung allein ist noch nicht Elite, sondern Elite ist hohe Begabung, die sich mit Hilfe von inhaltlichen und pädagogischen Impulsen eine Idee, ein Wertebewußtsein, eine Haltung und Kontur, kurz eine Kultur zu entwickeln versteht, die Selbstbestimmmtheit ermöglicht, statt auf Betreuung in Isola-tion und Abgeschiedenheit unter ver-zärtelnden Sonderbedingungen angewiesen zu sein. Wer keine Bezahlschule nötig hatte, dürfte mehr Kraft und Kompetenz für ein nichtartifizielles und unkapriziöses Leben voller echter Herausforderungen mitbringen.

Ein Kleinstadtabitur, errungen vor dem Hintergrund eines altersgemäßen Alltags, dürfte abenteuerlicher sein als das vermeintlich elitäre im Internat unter den Bedingungen betreuten Wohnens und andauernder Nachhilfe. Die Schüler der Staatsschulen draußen erleben Urbanität, stehen in einem viel reicheren Spektrum von Eindrücken, werden mit alltäglichen Problemen konfrontiert, die ihnen das Internat dienstleistend aus dem Wege räumt, wo sogar das Pausenbrot im Mensabuffet auf die künftigen Eliten wartet. Schüler der örtlichen Schulen wachsen an problematischen Wirklichkeiten und haben trotz allen kultusministeriellen Blödsinns noch die Chance, zu erkennen statt zu pauken. Hier will nach Wegen gesucht sein, die eben kein Lehrkörper vorher glattgewalzt hat.

Ein normaler Bildungsweg ist - gerade wegen seiner Mängel - echte biographische Arbeit; Talente werden nicht gemacht, sondern setzen sich durch, wenn sie aus sich heraus elitär sind und ihre Wege entdecken. Die Gemeinschaft mit den verschiedenen anderen wirkt dabei als ein Korrektiv, das dem Einzelnen den Platz zuweist, den er sich erarbeitet hat - auch gerade unter Einbeziehung von ethischen Werten und Kompetenzen, die die Privatschulen zwar lautstark benennen, so aber weder entwickeln können noch wollen, weil bei ihnen Schule in einer synthetischen Welt allzu guten Geschmacks stattfindet.

Elitebildung an den privaten Universitäten, an denen viele Privatschüler gern weiter bedient werden, versteht sich ebenfalls zuerst als komprimierte Vermittlung des Wissens. Geworben wird vor allem mit Zeitersparnis. Abschlüsse sind in drei Jahren möglich. Sie sind pragmatisch auf profitable Jobs ausgerichtet. Breitenbildung nach humanistischem Verständnis gilt als antiquiert. Globalisierung verlangt dagegen nach Internationalität; Sprachen sind also wichtiger als andere Grundlagenfächer, verkehrt wird in der "business language" Englisch. Man büffelt intensiver, hat kurze Wege, alles bleibt auf dem Campus und natürlich wieder abgeschottet unter sich: Fitness und Wellness statt Kneipe und Klub, nur nicht zuviel Kurzweil, keine Muße, Laptop und Financial Times statt Cello. Leistung zählt.

Wer von der Privatschule kommt, kennt das Prinzip: straffe Organisation, kleine Kurse und infantilisierende Betreuung sichern in verbraucherfreund-licher Kürze Abschluß und Karrierestart. Für die immense Summe, mit der man sich einkauft, kümmert sich die Uni um großbürgerlichen Komfort und Studienorganisation, hält den Hätschelstuden-ten den Alltag fern, sichert Praktika und wiederum die schon vertraute Nach-helferei, wenn die eigene Orientierung mal schwerfällt oder die Leistungsbilanzen sinken. Quantität ist wichtig: Stundenzahlen, Repetitorien, Praktika in Firmen, Testate und Qualifikationsnachweise, flinke und flotte Abschlüsse im Edelkuvert. All das ist ja bezahlt und deshalb hell, gesund und praktisch angerichtet.

Sozialisation, Austausch zwischen verschiedenen Fakultäten, Horizonterweiterungen und eine akademische Alltagskultur vielfältigster Begegnungen, wie sie die staatlichen Universitäten noch immer kennzeichnen, sind unerwünscht und verpönt. Das Studium wird auf sterile Weise geliftet, gezoomt und nach Bausteinprinzip normiert. Wieder wird abends artig gebimst, statt etwa mit subversiven Themen beim Rotwein zu sitzen. Zeit ist Geld.

Bewerber orientieren sich zunehmend an hergeholten Ratings und Bewertungen. Welche Uni ist die beste, welche fördert am geschicktesten? Statt dessen sollte gelten: Nicht zuerst die Uni muß gut sein, was stets nur mehr oder weniger gerechtfertigt sein kann - man selbst muß leistungsfähig sein und sich akademisch durchzubilden und durchzusetzen wissen: per eigenem Anspruch und individueller Orientierungs- und Leistungsfähigkeit.

Interessant wären Untersuchungen, welche und wieviel Leistungsträger und echte Profis tatsächlich aus der polierten Elite-Bildung hervorgingen oder sich doch eher auf den rauhen Wegen der konventionellen Bildung mit all ihren inhaltlichen und Ausstattungsmängeln durchzusetzen und an der störrischen Praxis von Alltagsproblemen und fachlichen Herausforderungen zu bewähren wußten. Größtes Abenteuer ist immer noch das Leben selbst, nicht seine Rekonstruktion im Bildungsmodell der Elite-Schmieden. Die deutschen Physiker und Ingenieure der Jahrzehnte um die vorletzte Jahrhundertwende, die großen Namen des Industriezeitalters, kamen jedenfalls aus den Backsteinschulen der humanistischen und Realgymnasien und bedurften keiner Talentpflege im goldenen Käfig.

Statt auf Eliteuniversitäten zu setzen, sollte man die Strukturen flottmachen, die bereits existieren. Mit Blick auf ihr breites Potential sind die staatlichen Bildungseinrichtungen besser als ihr Ruf und in der Entfaltung ihrer Möglichkeiten nur behindert durch langfristig-strategische Fehlentscheidungen einer politisch verklüngelten und behäbigen Kultusbürokratie, die allzu lange auf eine sklerotische Beamtenkultur setzte, welche unkonventionelle Ansätze und echte Innovationen erschwert. In einem solchen Milieu ist zu wenig Raum für Kreative, die vielleicht nicht alle amtlichen Voraussetzungen und Bescheinigungen mitbringen, aber lebens- und praxiserprobt sind.

Wer maßgeblich die Verkrustungen im öffentlichen Bildungssystem zu verantworten hat, sollte jetzt nicht nach Elitebildung rufen, in der Hoffnung, damit das Zauberwort gesprochen zu haben, sondern neue Beweglichkeiten dort schaffen, wo sich das echte Potential bereits befindet und auf frischen Wind wartet.

Foto: Schüler der Internatsschule Schloß Salem in Baden-Württemberg: 1920 nahm die Schule in dem alten Salemer Zisterzienserschloß ihren Betrieb auf. Hausherr Prinz Max von Baden hatte damals dem Reformpädagogen Kurt Hahn Teile des Anwesens für ein Internat überlassen. - Bundesweit ist die Zahl der Privatschulen gestiegen. Wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden jetzt mitteilte, erhöhte sich die Zahl allgemein bildender Privatschulen von etwa 2.000 im Jahr 1992 auf 2.500 im Jahr 2002. Die Zahl der Schüler, die eine Privatschule besuchen, kletterte von rund 445.600 auf 590.400. Damit erhöhte sich der Anteil der Privatschüler in diesem Zeitraum von 4,8 Prozent auf sechs Prozent.

 

Martin Ebel ist Lehrer an einer Internatsschule in Norddeutschland.


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