© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/04 07. Mai 2004

Der Nachkriegs-Visionär
Porträts des 20. Juli 1944 (II): Der ehemalige Leipziger Bürgermeister Karl Friedrich Goerdeler war als Reichskanzler vorgesehen
Thorsten Hinz

Hätte die Bombe am 20. Juli 1944 Hitler in Stücke gerissen, wäre er ihm als Reichskanzler nachgefolgt: Carl Friedrich Goerdeler, geboren am 31. Juli 1884 in Schneidemühl (Provinz Posen). Goerdeler war ein Konservativer, ein politischer Stratege und Taktiker, ein unermüdlicher Organisator, ein Mann, "der nicht 'meckert', sondern handeln will" (Ulrich von Hassell). Der promovierte Jurist war 1920 für die Deutschnationale Volkspartei Zweiter Bürgermeister von Königsberg geworden, 1930 kam er als Oberbürgermeister nach Leipzig. Er erwarb den Ruf eines überaus fähigen Verwaltungsfachmanns. Die Brüning-Regierung ernannte ihn 1931 zum Reichskommissar für Preisüberwachung. Schon damals war Goerdeler als Reichskanzler im Gespräch.

Für Deutschland arbeitend und auf Hitlers Ende hoffend

Goerdeler glaubte zunächst, man müsse und könne die NS-Bewegung "zähmen". Hitler wiederum wollte Goerdelers Sachverstand nutzen. 1934/35 wurde ihm erneut die Preisüberwachung im Reich übertragen. Er sprach ein entscheidendes Wort mit bei der Neufassung der Gemeindeordnung. Auf den Gebieten der Wirtschaftspolitik, der Devisenbewirtschaftung und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war sein Rat ebenfalls gefragt. Schnell wurde die Kluft zwischen dem verantwortlich handelnden Politiker und den Hasardeuren sichtbar. Goerdeler warnte vor wachsender Staatsverschuldung, stellte sich gegen Autarkiepläne und die Favorisierung von Ersatzrohstoffen. Ihm schwebte ein gemeinsamer europäischer Wirtschaftsraum vor, in dem Deutschland eine angemessene Rolle spielte.

Der grundsätzliche Konflikt zwischen Konservativen und Nationalsozialisten war damit akut geworden. Goerdeler wollte die Revision des Versailler Vertrages auf friedlichem Wege und mit dem Ziel eines europäischen Ausgleichs erreichen. Die Repressionen gegen Juden, Kirchen und Freimaurer waren ihm zuwider. In der Hoffnung, Hitler wäre in dieser Frage wenn schon keiner moralischen, dann einer politisch-taktischen Argumentation zugänglich, wies er darauf hin, daß das internationale Ansehen Deutschlands und seine Handlungsfähigkeit durch sie geschmälert würden.

Er fiel jedoch in Ungnade, was auch seine Stellung in Leipzig schwächte. Dort wehrte er, der den Eintritt in die NSDAP verweigert hatte, sich erbittert gegen die Entfernung des Denkmals für den Komponisten Mendelssohn-Bartholdy. Die Nationalsozialisten nutzten eine seiner Auslandsreisen, um die antisemitische Aktion trotzdem durchzuführen. Goerdeler nahm seinen Abschied. Von diesem Zeitpunkt an, schreibt sein Biograph Gerhard Ritter, "fügt sich die Lebensgeschichte Carl Goerdelers in den weiteren Zusammenhang des deutschen Widerstands ein".

Er hielt Kontakt zu hohen Militärs wie Ludwig Beck, arbeitete politische Konzepte aus und knüpfte Fäden ins Ausland. Dafür unternahm er ausgedehnte Reisen, die von deutschen Industriellen finanziert wurden. Nach Ausbruch des Krieges sondierte er über die Schweiz weiter die Friedensmöglichkeiten mit Großbritannien. Noch im Herbst 1943 hoffte er, nach dem Sturz des Diktators für Deutschland den Gebietsstand von 1914 aushandeln zu können, vermehrt um Österreich, das Sudetenland und Südtirol. In Elsaß-Lothringen und Nordschleswig sollte eine gerechte Sprachgrenze ermittelt werden. Doch das waren längst Illusionen. Im britischen Außenministerium war schon Anfang 1940 entschieden worden, daß es in diesem Krieg nicht nur um den Sieg über Hitler ging, sondern um die Schwächung Deutschlands und die Zerschlagung seiner politisch-ideellen Grundlagen, die Goerdeler wie kaum ein anderer verkörperte.

Innenpolitisch waren Goerdeler die Wiederherstellung des Rechtsstaates und die Rekonstruktion der Ethik in der Politik am wichtigsten. Seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen waren liberal, gleichzeitig hielt er starke Gewerkschaften für nötig. Seine Pläne über den Staatsaufbau enthielten demokratische wie autoritäre Elemente - sein Mißtrauen gegen die Massendemokratie saß tief. So sollte einem eingeschränkt befugten Reichstag ein korporatistisches Ständehaus zur Seite gestellt werden.

Seit dem 17. Juli 1944 wurde er von der Gestapo mit Haftbefehl gesucht. Von seiner zentralen Rolle im Widerstand erfuhr sie jedoch erst nach dem Attentat. Goerdeler tauchte unter, nächtigte bei Bekannten, irrte durch das Land. Am 12. August wurde er in Westpreußen erkannt, denunziert und verhaftet. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn am 8. September zusammen mit dem Diplomaten Ulrich von Hassell und anderen zum Tode. Seine Hinrichtung wurde erstaunlicherweise aufgeschoben. Kreise aus Justiz, SS und Beamtenschaft, die sich über die Kriegs-aussichten keine Illusionen machten, wollten offenbar seine Kompetenz für die Zeit danach erhalten. Und Himmler hoffte wohl, Goerdelers Verbindungen nach England könnten seinen eigenen, vagen Pläne für einen Separatfrieden nützlich sein. In der Todeszelle verfaßte Goerdeler Denkschriften zum Wiederaufbau, zu Siedlungs-, Finanz-, Rechtsfragen, zur Reichs- und zur Verwaltungsreform. Er schwankte zwischen tiefster Verzweiflung und der Hoffnung, das Dritte Reich doch noch zu überleben. Es war ihm nicht vergönnt. Am 2. Februar 1945 wurde er in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Fotos: Goerdeler vor dem Volksgerichtshof: Demokratisch und autoritär

Ines Reich: Carl Friedrich Goerdeler. Ein Oberbürgermeister gegen den NS-Staat. Böhlau Verlag, Köln 1997, 302 Seiten, Abbildungen, broschiert, 34,50 Euro

Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1954, vergriffen

Sabine Gillmann, Hans Mommsen: Politische Schriften und Briefe Carl Friedrich Goerdelers. Zwei Bände. Saur KG Verlag, München 2003, gebunden, 1.295 Seiten, 48 Euro

In dieser Reihe erschien bisher das Porträt von Generalquartiermeister Eduard Wagner.


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