© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/04 14. Mai 2004

Ohrenbetäubende Stille
Belgien: Vor den Regional- und EU-Wahlen gibt es Turbulenzen um den Vlaams Blok und die Wahlkreise
Irmhild Boßdorf

Nur wenige Rechtsparteien in Europa haben in den vergangenen Jahren so kontinuierlich in der Wählergunst zugelegt wie der Vlaams Blok (VB). Seit ihm am "Schwarzen Sonntag" im November 1991 die spektakuläre Verdreifachung seiner Stimmenzahl gelang, befinden sich die belgischen Parteien in einem Zustand permanenter Verunsicherung.

Mit einem "Cordon Sanitaire" versuchen sie ihn bis heute von der Teilhabe an jeglicher politischer Macht fernzuhalten: Jede Form der politischen Zusammenarbeit mit dem VB ist stigmatisiert, nicht einmal taktische Absprachen zu Sachfragen auf Kommunalebene dürfen getroffen werden. Insbesondere in der Stadt Antwerpen kann man seit Jahren erleben, um welchen Preis sich alle etablierten Parteien - ungeachtet ihrer ansonsten konträren Standpunkte - zu einem irgendwie regierungsfähigen Bündnis zusammenraufen müssen, nur um die größte Fraktion (der VB erhielt im Oktober 2000 33 Prozent) von der politischen Macht auszuschließen.

Auch andere Städte wie Gent oder Mechelen (25,6 Prozent) stehen vor einem ähnlichen "Problem". Bei den belgischen Parlamentswahlen im Mai 2003 konnte der VB erneut Erfolge verbuchen: Mit 11,68 Prozent, (+1,72 Prozent) stellt der VB nun 18 Abgeordnete im Brüsseler Zentralparlament, obwohl er nur in Flandern kandidierte. Im Wahlkreis Antwerpen blieb der VB mit 24,09 Prozent (+3,22 Prozent) weiterhin stärkste Partei. Selbst im zweisprachigen Brüssel ist der VB mit 5,93 Prozent inzwischen die stärkste flämische Partei. Daher schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis eine Lockerung des Cordon Sanitaire - zumindest auf lokaler Ebene - möglich sein könnte.

Solche Überlegungen dürften nach dem Urteil, das nun in Gent mittelbar gegen den VB ergangen ist, bis auf weiteres auf Eis gelegt sein. In ihm werden drei Vorfeldorganisationen der Partei als "rassistische Gruppierungen" eingestuft und zu mehr als nur symbolischen Geldstrafen verurteilt. Angestrengt wurde ein derartiges Verfahren ganze sieben Jahre lange durch das Brüsseler Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung sowie die Liga für Menschenrechte des Paters Leman. Alle in der Vergangenheit angerufenen Gerichte hatten sich allerdings für unzuständig erklärt, über die politischen Leitlinien der inkriminierten Organisationen und den Stil ihrer Kampagnen zu urteilen, bis sich nun ein Berufungsgericht in Gent der Sache annahm.

Zwar ist es in Belgien nicht möglich, eine Partei wegen Verfassungswidrigkeit zu verbieten, das Antirassismusgesetz läßt aber vergleichbares zu. Gelingt es dem VB nicht, juristisch gegen das Urteil vorzugehen, ist er in seiner Existenz bedroht. Man würde an ihn jene Maßstäbe anlegen, die durch das Urteil gegen seine Vorfeldorganisationen Rechtskraft erhalten hätten. Diese, so die Genter Richter, versuchten, Immigranten als Kriminelle, Räuber und Profiteure des belgischen Sozialstaates darzustellen und sie für alle gesellschaftlichen Probleme verantwortlich zu machen. Zudem beweise ihre Forderung nach einer Rückkehr der Immigranten in ihre Herkunftsländer, daß sie nicht in der Kategorie der Staatsangehörigkeit, sondern in jener der ethnischen Zugehörigkeit dächten.

Die anwesende Parteispitze verließ noch während der Urteilsverkündung den Sitzungssaal und erklärte auf einer improvisierten Pressekonferenz, daß der Gerichtsentscheid weniger eine Niederlage des VB, sondern eine der freien Meinungsäußerung und der Demokratie darstelle. Der Vorsitzende Frank Vanhecke rief alle flämischen Bürger auf, bei den Wahlen am 13. Juni "tatkräftig auf das Urteil zu reagieren".

Der VB geht in die Berufung und kann so zumindest seine Teilnahme an den anstehenden Regional- und Europawahlen gewährleisten. Falls das Urteil allerdings bestätigt werden sollte, droht ihm die Streichung der Parteienfinanzierung für mindestens ein Jahr. Darüber hinaus müßten alle Druckereien, Werbeagenturen und Medien, die mit ihm zusammenarbeiten, befürchten, selbst gerichtlich belangt zu werden, da sie helfen würden, seine Ansichten zu verbreiten. Selbst die Post hätte damit zu rechnen, daß man sie für die Beförderung von Informationsmaterial des VB zur Rechenschaft zöge.

Während die politischen Parteien und die Medien das Urteil zunächst spontan begrüßten, stellt sich unterdessen Katerstimmung ein. Man befürchtet nun, daß der VB mit dem Urteil in genau jene Märtyrerrolle gedrängt werde, in der er sich selbst ohnehin schon lange sehe.

"Ohrenbetäubende Stille" sei deshalb, so heißt es in Zeitungskommentaren, mittlerweile unter den flämischen Parteichefs eingekehrt. Sie hätten erkannt, daß das Urteil, aus dem man politisches Kapital zu schlagen hoffte, genau zum falschen Zeitpunkt gekommen sei. Nach Umfragen halten mehr als die Hälfte der Flamen das Urteil gegen den VB für politisch motiviert, mehr als zwei Drittel der Wähler sind davon überzeugt, daß es der Partei Stimmengewinne bringen wird. Diese selbst hat angekündigt, das Recht auf freie Meinungsäußerung zum Hauptwahlkampfthema zu machen. Es dürfte daher die innenpolitischen Auseinandersetzungen der nächsten Wochen prägen.

Zusätzlich angeheizt wird der Wahlkampf durch den seit Monaten schwelenden und sich nun zuspitzenden Streit um die Teilung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde. Zwar ist schon seit über 40 Jahren die Sprachgrenze in der Mitte dieses Gebietes festgelegt, dennoch können die Bürger in einigen als flämisch anerkannten Gemeinden nur wallonischen Parteien ihre Stimme geben. Eine skurrile Note erhält der Disput durch das Phänomen, daß der in diesem Wahlkreis liegenden Ortschaft Lennik bislang die Stimmen der im Ausland lebenden Belgier zugerechnet wurden.

Aus der flämischen Gemeinde wurde dadurch eine wallonische Wählerbastion. Etliche flämische Bürgermeister aus Brüssel-Halle-Vilvoorde drohen sogar mit einem Boykott der Wahlen, sollte ihre Forderung nicht bereits zum 13. Juni erfüllt sein. Rückendeckung erhalten sie dabei nicht nur vom flämischen Parlament, sondern auch von Bürgermeistern aus Nachbarwahlkreisen.

Der angedrohte Wahlboykott ist nicht zuletzt deswegen so brisant, weil es in Belgien eine sogar mit einem Bußgeld belegte Wahlpflicht gibt. Deren Aufhebung wird allerdings in den letzten Jahren immer wieder diskutiert - als ein Weg, den VB einzudämmen. Würde sie abgeschafft, so die Argumentation, wären Unzufriedene nicht länger an die Urne gezwungen. Und Protestwähler wählen nun mal Protest - was in Flandern meist heißt: Vlaams Blok.

Foto: Parteiveranstaltungen des Vlaams Blok: Kampf für die Unabhängigkeit Flanderns und für Rückkehr der Immigranten in ihre Heimat


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen