© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/04 14. Mai 2004

Die eigene Sicht erhalten
Zeitgeschichte: Mit der schriftlichen Fixierung ihrer Lebensgeschichte tragen viele ältere Autoren zum Verständnis zwischen den Generationen bei
Sarah Schaschek

Daß Opa schon immer der beste Geschichtenerzähler war, ist klar. Daß Oma an der Käsetheke gerne mal ausschweifend an die mageren Kriegjahre erinnert, ist ebenfalls kein Geheimnis. Daß es allerdings einen Trend zur gedruckten Version ihrer Lebensrückblicke gibt, ist eher eine neuere Erscheinung.

Immer mehr Menschen greifen mit zunehmendem Alter zur Feder oder fortschrittlich zur Computertastatur und lassen schwarz auf weiß ihr Leben Revue passieren: die publizierte Autobiographie. Erfüllt wird dieses Bedürfnis von Verlagen, die auf Selbstkosten des Autors dessen Bücher verlegen. So können die Enkel später beliebig ein Stück Familienchronik aus dem Regal ziehen, auch wenn sie für Großvaters Schoß zu schwer geworden sind.

Enkel regen Großeltern oft zum Buchschreiben an

Bewahren, bewältigen oder berichtigen - das Fixieren der eigenen Lebensgeschichte kann viele Beweggründe haben. Für manche ist es ein Akt des Konservierens von Erinnerungen, ein Geschenk an Familie und Freunde. Der Familie etwas von sich hinterlassen, seine Geschichten weitergeben und damit auf eine gewisse Weise "unsterblich" werden - "das ist ein Ur-Bedürfnis", weiß Eric Schmitt vom Institut für Gerontologie an der Universität Heidelberg. Indem man in Gedanken noch einmal zurückwandert, stellt man die im Laufe des Lebens abgerissenen Verbindungen wieder her, erlebt Beziehungen noch einmal, bereinigt Konflikte, die auf der Strecke geblieben sind. Gerade Kindheits- und Jugend-Idyllen bekommen in der Retrospektive klare Konturen, und "vor allem Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten Deutschlands spüren ihre Verbundenheit zur Scholle", sagt Erik Schumann, Autor und Verleger.

Für ältere Menschen kann das Schreiben außerdem ein Weg sein, mit jüngeren zu kommunizieren. "Die eigenen Kinder, die rebellischen 68er, wollten nicht mehr zuhören", hat Schumann festgestellt, der die Geschichten vieler älterer Leute kennt. "Deshalb sind es meist die Enkel, die ihren Großeltern vorschlagen, ein Buch zu schreiben." Die Schüler werden im Geschichtsunterricht aufgefordert, möglichst viele Fragen zu stellen, solange die Zeitzeugen noch antworten können. Bei diesem Drang nach Dialog kommen sich die Generationen entgegen. Schließlich entsprechen die in der Schule vermittelten Daten nicht immer den persönlichen Erlebnissen jedes einzelnen. Gerade die zwanziger und dreißiger Jahrgänge haben völlig unpolitische Erinnerungen an die erste Liebe, an Freundschaft, an die Probleme des Erwachsenwerdens. Ihre Geschichten beginnen oder enden nicht mit Hitler - sie gehen weit über Krieg und Holocaust hinaus. Diese Ereignisse sind trotzdem Teil ihrer Biographie; und sie liegen mittlerweile weit genug zurück, um ausgesprochen zu werden.

Die Schreib-Motive sind so unterschiedlich wie die Autoren selbst. Was für einige eine Art Zurechtrücken von Fakten bedeutet, ist für andere eine Forderung nach mehr Verständnis und weniger Verurteilung. "Manchmal kann es auch ein Versuch der Rechtfertigung sein, vor sich selbst und anderen", bestätigt Eric Schmitt der JUNGEN FREIHEIT. "Aber eigentlich muß eher selten ein verdrängter Schuldkomplex aufgearbeitet werden." Der 81jährige Will Seelmann-Eggebert, der bislang zwei Bücher veröffentlicht hat, streitet jegliche innerlich nagende Belastung ab: "Ich muß mir nichts von der Seele schreiben. Das hat nichts mit Vergangenheitsbewältigung zu tun."

"Das menschliche Mitteilungsbedürfnis nimmt mit dem Alter zu", weiß der Senioren-Experte Schmitt. Die kürzer werdende Lebenszeit zwingt zur Reflektierung und teils auch nachträglichen Sinngebung eines mehr oder weniger erfüllten Lebens. Dabei muß man davon ausgehen, daß unser Gedächtnis aus Schutzgründen Erinnerungen selektiert und Positives favorisiert; alterspsychologisch gesehen sind Memoiren also größenteils Rekonstruktionen, besonders, da solchen Biographien selten Tagebücher zu Grunde liegen.

Trotzdem, da sind sich die Senioren-Autoren einig, sind ihre Geschichten ehrlich, denn "ein Opa möchte schließlich nicht seine Enkel beschwindeln" (Seelmann-Eggebert). "Ich habe einfach alles in meinem Kopf", lächelt Helga Krüger, deren Familie kaum glauben konnte, an wie viele Details sie sich erinnerte. "Es gibt Leute mit einem erstaunlichen Registrationsvermögen", staunt auch der Gerontologe Schmitt. Außerdem hat niemand den Anspruch, mit seiner Biographie ein Geschichtsbuch zu ersetzen.

Gibt es aber überhaupt einen Markt für Bücher solcher Art? Wollen außer den neugierigen Enkeln und begeisterten Freunden auch andere Menschen über Einzelschicksale lesen? Das Bonner Institut für Markt-Analyse und der Deutsche Buchhandel konnten auf JF-Anfrage keine genauen Zahlen nennen. Doch die Verlage äußern sich positiv. "Von allen Büchern, die wir verlegen, sind die Biographien älterer Menschen das, was am besten und regelmäßigsten läuft", so Anne-Meike Holland-Cunz vom Karisma-Verlag.

Wer viel zahlen kann und will, hat alle Möglichkeiten

Daß die Nachfrage nach Autobiographien von Zeitzeugen groß ist, beweisen nicht zuletzt die großen Erfolge wie Hans J. Massaquois "Neger, Neger, Schornsteinfeger" aus dem Jahr 2002 bis zu den "Erinnerungen 1930 bis 1982" des Altkanzlers Helmut Kohl vom März 2004. Um die eigene Lebensgeschichte aufzuschreiben, muß man allerdings nicht prominent sein. Viel wichtiger ist die Authentizität des Erzählten - das wissen auch die Verlage. Lektorate sollen möglichst minimalistisch ausfallen, denn es geht weniger um literarische Höchstleistungen als um Zeitzeugnisse, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen. Dies geschieht allerdings in verschieden großem Umfang: Wer zu zahlen bereit ist, kann diverse Werbemöglichkeiten wahrnehmen, von Buchmessen über den normalen Buchhandelvertrieb bis hin zur Homepage fürs eigene Buch. Der "MeinBuch"-Verlag bietet komplette Servicepakete an, die von der Standard- bis zur Deluxe-Version eine individuelle Gestaltung je nach Geldbeutel erlauben. Professionelles Layout, Hardcover oder Taschenbuch-Format, Korrektorat (zur Vermeidung von "Mischmasch-Manuskripten" aus alter und neuer Rechtschreibung), Druck, Farbabbildungen - der Verlag kümmert sich um alles, und der Phantasie des Autors werden keine Grenzen gesetzt.

Die Angebote schwanken zwischen 2.250 und 5.000 Euro, je nach Auflage, Seitenumfang und Extrawunsch. "Da jedes Manuskript individuell bearbeitet wird, ist es schwer, Durchschnittspreise zu nennen", so Zdenka Hruby vom Berliner Frieling-Verlag.

Bei unseriösen Anbietern kann man allerdings leicht bis zu 15.000 Euro loswerden, ohne dafür die versprochenen Leistungen zu empfangen. "Ich bin an einen Ganoven-Verlag geraten. Sie haben ohne mein Wissen einfach Passagen herausgekürzt und nicht pünktlich geliefert. Als ich mein Buch zum ersten Mal in Händen hielt, war mir der Umschlag völlig fremd, und 200 Seiten fehlten." Der unzufriedene Günter Gregorg zog mit seiner Klage schließlich sogar vor Gericht. Auch Helga Krüger warnt davor, voreilig einen Vertrag zu unterschreiben. Sie mußte eine Weile suchen, bis sie ein angemessenes Preis-Leistungs-Verhältnis fand: "Der erste Kostenvoranschlag war einfach zu hoch. Ich habe dem Verlag geschrieben, daß ich mit meinem Buch nicht reich werden wollte, aber auch nicht arm - und bin gegangen."

Wer sich nicht sicher ist, wie groß die Auflage sein soll, und sein Manuskript druckfertig bearbeitet hat, für den gibt es "Books On Demand": Eine gewünschte Auflage des Buches wird hier zu relativ günstigen Preisen produziert (einmaliger Grundpreis von 370 Euro für Katalogisierung, Projektbearbeitung und ein Exemplar des eigenen Buches, danach pro Buch je nach Seitenzahl und Format ab drei Euro).

Wenn sich lebenserfahrene Menschen nicht zum Schreiben berufen fühlen, so haben sie dennoch oft Lust zu erzählen. Eine Möglichkeit ist dann, seine Geschichte auf eine CD zu sprechen - somit wird zusätzlich auch Opas Stimme konserviert. Anton Fischer hat mit seinem "Lebenslauf für Poesie, Musik und Philosophie" diese preiswerte Variante genutzt, indem er die CD selbst gestaltete und brannte. Wer weniger technisch begabt, aber ähnlich redefreudig ist, kann den professionellen Zuhörer kontaktieren, der anbietet: "Ich schreibe Ihr Buch!" Erik Schumann hat als Autor diese Marktlücke entdeckt und erhält rege Nachfrage: Etwa achtzig Prozent seiner Kunden sind ältere Menschen, die den Erzähl-Kult wahren und ihm ihr Leben beschreiben.

Drittes Reich, Vertreibung und Krieg sind oft die Buchthemen

Dabei stößt er immer wieder auf Schicksale, die im Dritten Reich spielten, Kindheiten, die mit Vertreibungen begannen, bewegende Geschichten von bewegten Zeiten. Schumann, der einen kleinen Verlag betreibt und persönlich die Manuskripte schreibt, geht sensibel mit seinen Kunden um, denn schließlich offenbaren sie ihm viel Persönliches. Um eine möglichst angenehme Atmosphäre zu schaffen, besucht er sie zu Hause, wo Fotos oder andere Dokumente die Erinnerung anregen. In sogenannten "Sitzungen" von drei bis vier Stunden bespricht er dann die Grundstruktur und später die Einzelheiten der Lebensgeschichten, wobei er darauf achtet, eine angemessene Sprache zu finden, damit die Kriegsveteranin nicht wie eine 20jährige klingt. Dialekte und zeitgenössische Redewendungen werden auf natürliche Art in die Texte gewebt, damit sich die Berichtenden später auch wirklich mit ihrem Buch identifizieren können.

Themen sind hauptsächlich Kindheit und Krieg. Besonders Männer widmen ihre Erinnerungen oft ehemaligen, meist gefallenen Kameraden und kreisen in ihren Gedanken um ihre Zeit als Soldaten. Autorinnen dagegen beschränken sich weniger auf ihre Kriegserfahrungen; darüber hinaus beschäftigen sie sich mit Familien-Dramen, Eheleben, dem Alltäglichen. Helga Krüger setzte ihrem verstorbenen Mann mit ihrer "Liebeserklärung an fünfzig Ehejahre" (Haag+Herchen 2002) ein Denkmal. "Er war mein Traumprinz und hätte einfach alles für mich gemacht", erzählt sie im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Nach dem Tod ihres Mannes sah Krüger in dem Schreibprozeß wieder eine sinngebende Aufgabe. Sie selbst betrachtet ihr Werk als "naive Malerei" und will sich nicht mit Kempowski, Brecht oder Hesse vergleichen - obwohl der Absatz ihrer Bücher überraschend groß ist (immerhin 212 Exemplare bis jetzt). Stolz ist sie trotzdem und lächelt verschwörerisch - so wie nur Oma hinter der Käsetheke nach dem kleinen Schwätzchen: "Was Hera Lind kann, kann ich auch."

Konversation zwischen den Generationen: Das menschliche Mitteilungsbedürfnis nimmt mit dem Alter zu.


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