© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/04 28. Mai 2004

Kolumne
Rechtsgüter
Heinrich Lummer

Wenn man die Bilder sieht, kommen einem eher Begriffe wie "Mißhandlungen", "Erniedrigungen" und "Verletzung der Menschenwürde" in den Kopf als das recht unbestimmte "Foltern". Was lassen sich die Folterknechte in Orwells "1984" nicht alles einfallen: Als sie erkennen, daß ihr Opfer auf Ratten allergisch reagiert, wenden sie diese "individuelle" Methode an. Was sich US-Folterer ausgedacht haben, steht dem nicht nach. Da müssen die ehemaligen Stasi-Häftlinge an der Einzigartigkeit ihrer Leiden zweifeln. Jetzt werden Bilder um die Welt gehen, die mahnen und anklagen. Und das passiert nicht nur unserem machtpolitischen Hegemon, sondern unserer moralischen Führungsmacht. Ein wahres Desaster. Zugegeben, wir bewegen uns auf vermintem Gelände. Es kann angesichts des weltweiten Terrorismus und der Selbstmordattentate keine einfache Lösung geben. Doch solche Bilder widersprechen jedem Gefühl für Menschenwürde: Nackt zu einer Pyramide aufgeschichtete Häftlinge, ein von einer Soldatin an einer Leine geführter Iraker. Das Bild dieser Soldatin hing kürzlich noch im Wal-Mart ihres Heimatortes an der "Wall of Honor".

Man kann sich zwar "Verhaltensregeln zu Verhören" geben, aber sie werden dem Einzelfall kaum gerecht. Es kommt immer auf eine schwierige Güterabwägung an, weil der typische Fall die Konkurrenz zweier hochwertiger Rechtsgüter ist. Das Leben eines Kindes, wie im Frankfurter Entführungsfall Metzler, ist ein solches Gut. Deshalb braucht man Regeln für den Ausnahmefall - Generalklauseln oder "Gummiparagraphen". Was soll die Genfer Konvention mit ihrer Festlegung, daß Gefangene "weder durch körperliche noch seelische Folterungen" zu Auskünften gezwungen werden können? Diese Worte sind genauso nichtssagend wie etwa eine "Änderung des Speiseplans" oder eines "Schlafentzugs bis zu 72 Stunden", was in Verhaltensregeln des US-Oberkommandos als "erlaubt" für Verhöre mit Gefangenen zu gelten hat.

So verlieren die USA ihre moralische Glaubwürdigkeit. Am 20. Mai hat der irische EU-Parlamentspräsident Pat Cox den Aachener Karlspreis bekommen. Dabei hat nach dem Bericht der fränkischen Reichsannalen in Verden an der Aller auf Befehl des Namensgebers, Karls des Großen, ein Blutbad an 4.500 sächsischen Adligen stattgefunden. Deshalb steht in einem romantischen Gedicht aus dem 19. Jahrhundert: "Die da ziehen mit großem Schalle, Allen klebt ein Mal am Schilde. Und ihr Verden haben alle." Mag die Glaubwürdigkeit der westlichen Welt mit ihrem Hegemon nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen werden.

 

Heinrich Lummer, Berliner Innensenator a. D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen