© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/04 04. Juni 2004

An der Seite der Sieger
In der Normandie steht Schröders Geschichtsverständnis auf dem Prüfstand
Doris Neujahr

Schon aus seinem Selbstverständnis als Medienkanzler heraus kann Gerhard Schröder sich diesen Termin nicht entgehen lassen. Am 6. Juni, dem 60. Jahrestag der Landung der Alliierten in Westeuropa, wird er sich an den Normandiestränden im Kreis der Mächtigen dieser Welt zeigen, mit Bush, Blair, Chirac, Putin und weiteren Staats- und Regierungschefs. Die Bilder sollen dem Publikum zu Hause signalisieren, daß Deutschland von einem weltweit geschätzten Staatsmann regiert wird. Eine Woche vor der Europawahl kann das nicht schaden.

Es gibt aber auch strengere, politische Gründe für die Reise. Schröder wird versuchen, gemeinsam mit Chirac und Putin, die ebenfalls den Irak-Krieg ablehnten, ein Gegengewicht zu Bush und Blair herzustellen, die diese Jubelfeier nutzen wollen, um ihren mißratenen Feldzug durch die historische Analogie zu legitimieren. Mit einem spöttischen Lächeln, einer ironischen Volte - keine Frage, so etwas beherrscht Schröder meisterhaft -lassen sich solche Bemühungen konterkarieren. Schröder kann zeigen, daß weder die USA noch das "neue Europa" ohne das "alte" zurechtkommen. Vielleicht gibt es sogar Gelegenheit für politische Gespräche.

Aber reicht das aus, um die Bedenken zu zerstreuen, die Schröders Vorgänger Helmut Kohl 1984 und 1994 veranlaßten, die Einladungen zu den "D-Day"-Jubiläen abzulehnen? "Es ist für den deutschen Bundeskanzler kein Grund zum Feiern, wenn andere ihren Sieg in einer Schlacht begehen, in der Zehntausende Deutsche elend umgekommen sind" - das war eine Geste der Demut und des Stolzes. Schröder aber glaubt, diesen Tag symbolpolitisch umwidmen zu können: Die Einladung an ihn besage, daß der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit vorbei seien. Aus der Perspektive des politischen Pragmatismus ist das eine Banalität, geschichtspolitisch aber liegen die Dinge komplizierter. Schröders Medienprofessionalismus stößt hier an seine Grenzen bzw. verliert sich im Unverbindlichen. Es sei daran erinnert, daß er in einem vorangegangenen Wahlkampf ein Foto seines Vaters, der als Wehrmachtssoldat gefallen war, auf seinem Schreibtisch plazierte und dafür sorgte, daß die Öffentlichkeit davon erfuhr. Eine folgenlose Geste: Auf deutliche Worte des Kanzlers zur Wehrmachtsausstellung wartete man vergebens.

Schröder glaubt, daß er den Vertretern der Siegermächte in der Normandie auf gleicher Augenhöhe begegnen kann. Das ist aber nur scheinbar und nur so lange der Fall, wie er sich auf die Ebene begibt und die Voraussetzungen akzeptiert, welche die anderen vorgegeben haben. Um echte Souveränität zu demonstrieren, müßte Schröder nachweisen, daß sein Geschichtsbewußtsein weiter reicht als das in den Liturgien verkündete. Gerade strahlt das ZDF eine Doku-Serie des Medienzampanos Guido Knopp über die letzten Kriegsmonate aus, die apodiktisch "Befreiung" heißt. Ein deutliches Zeichen, daß Deutschland dabei ist, ein voluntaristisches Geschichtsbild zu verinnerlichen, in dem es als die mythisierte Verkörperung des Bösen fungiert, das von gütigen Siegern erlöst werden mußte. Das kommt - drastisch gesprochen - einem geistigen und geschichtspolitischen Nachvollzug der bedingungslosen Kapitulation von 1945 gleich. Natürlich kann ein Kanzler die Mystifikationen der Sieger nicht unwirksam machen. Er könnte aber dazu eine Position beziehen, die deutlich zu erkennen gibt, daß geschichtliche Wahrheit und politische Kräfteverhältnisse nicht dasselbe sind.

Sukzessive wird Abschied genommen von einer Formel, die der erste Bundespräsident Theodor Heuss zum 8. Mai 1945 geprägt hat: "Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für uns. Warum? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind." Heuss war ein entschiedener Hitler-Gegner, doch ihm war gegenwärtig, daß der Zweite Weltkrieg nicht primär als Kampf zwischen widerstreitenden moralischen Prinzipien ausbrach, sondern aufgrund längerfristiger Konflikte, machtpolitischer Konstellationen und geopolitischer Gegebenheiten. Er ging nicht einfach auf einen "deutschen Irrweg" zurück, der in Hitler seinen konsequenten Vollstrecker gefunden hatte.

Nicht umsonst sprach Winston Churchill von einem Dreißigjährigen Krieg, der 1914 ausgebrochen war, und dekretierte die von US-Präsident Truman im Mai 1945 unterzeichnete Direktive JCS 1067, Deutschland sei nicht zum Zwecke seiner Befreiung besetzt worden, sondern als besiegter Feindstaat. Die gängigen Standardwerke deutscher Großhistoriker bieten kein annähernd vollständiges Bild der komplexen Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Grundsätzliche Informationen werden unterschlagen, wenn sie die monokausale Deutung durchbrechen könnten. Die dauernden polnischen Pressionen gegen Danzig, die Übergriffe gegen die deutsche Minderheit, die hybriden Drohungen aus Warschau, siegreich in Berlin einzumarschieren - um nur diese Beispiele anzuführen - kommen gar nicht vor oder werden als Goebbels-Propaganda abgetan. Der deutsche Widerstand wollte die Selbst-Befreiung Deutschlands und dadurch das Ende des Krieges und der Greuel herbeiführen. Er wollte das Reich aber auch als politisches Subjekt erhalten und barmte um die Zusicherung erträglicher Friedensbedingungen, um in Deutschland die Basis für einen Umsturz verbreitern zu können. Die Antwort war negativ, es blieb bei der Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation", weil es um die Ausschaltung Deutschlands als machtpolitischen Faktors ging.

Die Alliierten waren danach lernfähig. Sie erkannten, daß Europa ohne den Beitrag der westlichen Besatzungszonen nicht gegen den Kommunismus zu verteidigen war, und veranlaßten die Gründung des Bonner Separatstaats, der für das ganze Deutschland sprechen sollte. Als Datum für die Verkündung des Grundgesetzes wurde der 23. Mai 1949 bestimmt. Dieser Termin sollte den 23. Mai 1945 neutralisieren, an dem sie die letzte Reichsregierung unter Großadmiral Karl Dönitz in Flensburg verhaftet hatten, wodurch die deutsche Staatlichkeit unterbrochen worden war.

Die westlichen Sieger von 1945 waren also klug genug zu sehen, daß die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie sich behaupten sollte, nicht aus der "Befreiungs"-Retorte zu erschaffen war, sondern in ihre historische, politische, kulturelle und rechtliche Kontinuität eingesetzt werden mußte, die jenseits von Hitler bestand. Hinter diesen Stand zurückzufallen, bedeutet Selbstpreisgabe. Schröder muß also aufpassen, daß er keinen falschen Kniefall begeht und die Uhren symbolpolitisch hinter den 23. Mai 1949 zurückdreht.

Foto: Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944: "Erlöst und vernichtet in einem" (T. Heuss


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