© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/04 04. Juni 2004

Invasion ins soziale Netz
Eine neue EU-Richtlinie könnte den Sozialtourismus massiv ansteigen lassen
Kurt Zach

Der "D-Day" für unsere sozialen Sicherungssysteme ist da: In diesen Tagen wird die EU-Richtlinie zur Regelung der Freizügigkeit von Wanderungen innerhalb der Union in Kraft gesetzt. Absehbare Folge: Eine "massive Einwanderungswelle osteuropäischer Sozialhilfeempfänger nach Deutschland", prophezeite Hans-Werner Sinn, Chef des ifo-Instituts letzte Woche in der Süddeutschen. Eine Invasion, die für Deutschland einschneidendere Folgen haben wird als der unausgegorene "Zuwanderungskompromiß" - und vor allem schnellere.

Jahrelang hatte man verhandelt, um mit den Beitrittskandidaten Beschränkungen für den Arbeitsmarkt auszuhandeln - und gleichzeitig wird die Tür weit aufgemacht für alle EU-Neubürger, die zur Einwanderung in die Sozialfürsorge gar nicht erst den Umweg über den Arbeitsmarkt nehmen wollen. Wer als Arbeitnehmer nicht reingelassen wird, kommt eben als Schwarzarbeiter oder "Scheinselbständiger".

Das Desaster war absehbar. Alle einschlägigen Sozialabkommen - vom 1953 unterzeichneten Europäischen Fürsorgeabkommen über die Sozialcharta von 1961 zur Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 - zielen darauf, jedem EU-Bürger, der sich rechtmäßig in einem anderen EU-Land aufhält, auch gleichberechtigten Zugang zu den Sozialleistungen zu geben. Damals war der Kreis freilich noch überschaubar und einigermaßen homogen. Die Erweiterung der EU um viel ärmere Mitglieder im Blick, wurde das Prinzip in der Europäischen Grundrechtecharta vom Dezember 2000 nicht etwa restriktiver gefaßt, sondern bekräftigt.

Bisher freilich bezog sich das Recht auf freie Niederlassung und volle Teilhabe am Sozialstaat auf abhängig Beschäftigte. Nach der neuen Richtlinie, die bis zum 1. Juli 2005 in nationales Recht umgesetzt werden muß, hat jeder EU-Bürger das Recht, in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Einzige Bedingung: der Nachweis einer Krankenversicherung und "geeigneter Existenzmittel". Wenn diese laue Klausel nicht sowieso dem Diskriminierungsverbot zum Opfer fällt, wird sie sich leicht umgehen lassen. Geld kann man bei Landsleuten oder "Einwanderungshelfern" borgen - ist es weg, fliegt man ja nicht gleich wieder raus aus dem warmen Sozialstaatsnest.

Die Bedürftigen im "Neuen Europa" werden sich das nicht zweimal sagen lassen. Nichtarbeiten in Deutschland bringt einer vierköpfigen Familie fünfmal mehr ein als Arbeiten in der Slowakei. An diesem Gefälle wird sich auch so schnell nichts ändern. Das Wanderungspotential ist immens: Schätzungsweise anderthalb Millionen Zigeuner sind seit einem Monat EU-Bürger. Bei einer Sozialhilfequote von fast hundert Prozent sitzen allein in der Slowakei 400.000 Roma auf gepackten Koffern, seit die Regierung in Preßburg vor dem EU-Beitritt die Unterstützung um die Hälfte gekürzt hat. Investoren werden mit Niedrigsteuersätzen ins Land gelockt, die eigenen Armen dagegen mit drastischen Leistungskürzungen zur Auswanderung ins "alte Europa" ermuntert - wo kriselnde, aber immer noch komfortable Sozialsysteme bereitstehen.

Sinn schlägt vor, für Sozialleistungen das Herkunftslandprinzip in der EU-Verfassung zu verankern: Adressat für Sozialleistungen soll prinzipiell das Heimatland des EU-Bürgers sein. Warum sollten aber die neuen Mitgliedstaaten dem zustimmen? Vor der Osterweiterung wäre Zeit für eine solche Regelung gewesen. Jetzt gilt: Drin ist drin, und nachher ist zu spät. Den wohlhabenden Sozialstaaten Westeuropas wird nichts übrigbleiben, als sich bei der Kürzung ihrer Leistungen gegenseitig zu überbieten, um Wohlfahrtswanderer abzuschrecken. In Berlin hat man noch nicht begriffen, daß nationale Einwanderungsdebatten Makulatur sind, wenn man dabei nicht im Blick hat, was von Europa kommt. Deutschland braucht kein "Zuwanderungsgesetz", um seine sozialen Sicherungssysteme ein für allemal zu ruinieren: Die Folgen der dilettantisch übers Knie gebrochenen EU-Osterweiterung reichen völlig aus. Unter diesen Umständen auch 2007 noch Bulgarien und Rumänien sowie später die Türkei aufnehmen zu wollen, grenzt an methodischen Wahnsinn.

Wären Regierung und Opposition in Deutschland ehrlich mit den Bürgern, müßten sie ihnen offen sagen, was auf sie zukommt. Daß der kleiner werdende Sozialkuchen mit immer mehr Hungrigen geteilt werden muß. Daß die "Agenda 2010" erst der harmlose Anfang der Abwärtsspirale war. Daß der "Zuwanderungskompromiß", der die Türen für Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten ein bißchen weiter öffnen soll, ein Pappenstiel sein wird gegen die Massenimmigration, die uns EU-Richtlinien zur Freizügigkeit, zu Asylharmonisierung und zur Familienzusammenführung bescheren werden.

Man kann nachvollziehen, daß in Wirtschaftskreisen Freude herrscht, wenn der Sozialstaat demontiert wird und eine industrielle Reservearmee von Lohndrückern einwandert. Daß die Gewerkschaften immer Beifall klatschen, wenn Einwanderungsbeschränkungen fallen, ist praktisch Klientelverrat. Die spannende innenpolitische Frage lautet demnächst: Wird es Widerstand gegen die einwanderungsbedingte Schleifung des Sozialstaats geben, und wer wird ihn anführen?


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