© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/04 04. Juni 2004

Pankraz,
W. Knörzer und der Wert solider Halbbildung

In der neuen Nummer der Sezession (2/2004) findet Pankraz eine scharfe Kritik an Theodor W. Adornos "Theorie der Halbbildung" (Frankfurt/M. 1979), aus der Feder von Winfried Knörzer. Bei der Lektüre ist man zunächst irritiert über die Wucht von Knörzers Anklage, denn Adorno tut ja nichts weiter, als was vor ihm schon zahlreiche andere, meistens erstrangige Geister, von Seneca bis Goethe, von Thomas Mann bis Karl Jaspers, getan haben. Sich verächtlich und herablassend über den "Halbwisser" zu äußern, ihn noch weit unter den totalen Nichtwisser zu stellen und ihm alles Schlechte zuzutrauen, gehörte seit jeher zum guten Ton deutscher (und nicht nur deutscher) Intellektueller. Der Halbwisser hatte immer eine schlechte Presse.

Er galt und gilt als eitler Tropf, als Angeber, der mit unverdauten Lesefrüchten herumprotzt und dabei alle Fremdwörter falsch ausspricht. Er lernt nicht richtig, sondern er "schnappt auf", um sich mit dem Aufgeschnappten soziale Vorteile zu verschaffen und in Schichten einzudringen, in die er nicht hineingehört, ein Parvenü reinsten Wassers. Seine Lieblingslektüre ist Reader's Digest, wo die Kultur zu kleinen Häppchen zurechtgeschnitten und mit der Soße des "Ist-im Grunde-alles-ganz-einfach" übergossen wird.

Für Adorno ist der Halbwisser nicht nur ein Parvenü, sondern ein Schmarotzer, ein Parasit. "Die Halbbildung umklammert den Geist und stutzt ihn nach ihren Bedürfnissen zurecht. Dadurch hat sie nicht nur parasitär an seinem zunächst ungeminderten Prestige teil, sondern beraubt ihn der Distanz und des kritischen Potentials, schließlich selbst des Prestiges."

Knörzer hält solche Äußerungen selber für eitel und parvenühaft. Welcher Geist, welche Kultur sei denn gemeint? Doch wohl die Kultur des gehobenen Bildungsbürgertums des neunzehnten Jahrhunderts, der Adorno entstammte, der er sich aber keineswegs mehr sicher war. Er tue so, als seien die Kultur, das Wissen, der Geist für alle da, und gleichzeitig beschimpfe er diejenigen, die sich ihren Teil holen wollen, ohne "dazuzugehören", d.h. ohne den Kanon des Bildungsbürgertums durch privilegierte Herkunft und Erziehung gleichsam mit der Muttermilch eingesogen zu haben.

Knörzers Zorn ist letztlich verständlich. Aber Bürgertum hin, Adorno her, Pankraz fragt sich, ob nicht doch etwas dran ist an der ziemlich verbreiteten Überzeugung, daß man stets irgendwo "dazugehören" muß, um am Geist teilnehmen zu dürfen und nicht als Halbwisser beschimpft zu werden, Sicher, das Reich des Wissens ist unendlich, es gibt unzählige Kulturen und kulturelle Variationen, und angesichts der Fülle bleiben wir alle Halbwisser, müssen schon froh sein, wenn es uns gelingt, den Rang einer soliden Halbbildung zu erklimmen. Doch das ist eben nur die eine Seite.

Die andere wird sichtbar, wenn man beobachtet, wie in faktisch allen Breiten und zu faktisch allen Zeiten gewissermaßen das Pedigree des Wissenserwerbs hochgehalten wird. Es genügt nicht, etwas zu wissen und mit dem Wissen professionell umzugehen, man muß auch möglichst oft erzählen, wo man das Wissen her hat, wer es einem beigebracht hat und welche Beglaubigungen man eventuell vorweisen kann. Schulen, Universitäten, Elitezirkel, zu denen man Zugang hat, Diplomatenlaufbahnen, Geheimlogen - alles spielt eine Rolle.

Selfmademänner des Wissens, reine Autodidakten haben es schwer. Auch wenn sie noch so brillant und erfolgreich sind, bleiben ihnen viele Türen verschlossen. Man mißtraut ihnen einfach, und zwar keineswegs immer nur, weil sie keinen Stallgeruch haben, sondern auch, weil ihnen vielleicht wirklich etwas Wichtiges fehlt, eine gewisse Fähigkeit zur Rücksichtnahme und zur Anpassung, die Einsicht, daß es im Leben nicht nur auf das "Daß" und das "Was" ankommt, sondern auch auf das "Wie".

Wissen (das ist es wohl, was Adorno empfunden hat und ausdrücken wollte) ist niemals nur und nicht einmal in erster Linie ein "Wissen wofür ...", kein Instrumentarium, das man einsetzt, um etwas anderes zu erreichen, sondern es steht von vornherein am Ende der Sehnsuchtskette, es ist das eigentliche Ziel unserer Bestrebungen und deshalb im Kern nicht instrumentalisierbar.

"Wissen ist Macht", verkündete am Anfang der Neuzeit Francis Bacon; der Spruch wurde später, im neunzehnten Jahrhundert, zum Schlachtruf der aufstrebenden Arbeiterbewegung. Die Parteifunktionäre riefen dazu auf, "die Höhen der Kultur zu erobern", um endlich die "Definitionshoheit" zu erringen und dadurch an die Futternäpfe der Macht zu kommen. Und auch heute wieder ertönt landauf, landab, von Professor Biedenkopf bis zum gelernten Pflastermaler Joschka Fischer, die Mahnung, daß das Wissen unsere "wertvollste Ressource" sei. Ressource wozu?, hätte Adorno gefragt, und zwar vollkommen zu Recht.

Natürlich müssen wir viel wissen, um dies und das richtig tun zu können. Wenn sich aber unser Anspruch ans Wissen in dieser bloßen Funktionalität erschöpft, dann gehören wir nicht zu den glücklichen Wissenden, dann sind wir jene Halbwisser, gegen die sich der Spott der Molière und Goethe und Thomas Mann so beißend richtete. Nicht die schiere Fülle des Wissens markiert die Grenze zwischen Bildung und Halbbildung (obwohl es nie schaden kann, viel zu wissen), sondern die Art und Weise, wie wir mit dem Wissen umgehen, wie wir es hegen und glänzend halten.

Ein Regenwurm spult sein Programm ab, sein Wissen ist sein Programm, über das er sonst gar nichts weiß. Der Halbwisser ist vom Regenwurm nicht allzu verschieden. Er ist ein besserer, bewußterer Programmierer, doch nicht unbedingt ein besser Wissender. Erst wenn wir Freude am Wissen haben, ohne es gleich ins Programm einspeisen zu wollen, wenn wir uns an ihm selber freuen, gehören wir dazu.


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