© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/04 18. Juni 2004

Wer Menschheit sagt, . . .
. . . will betrügen: Jürgen Habermas, Präzeptor und Gouvernante, wird 75
von Günter Maschke

Im Gegensatz zu seinen im Detail oft bestechenden Analysen sind Jürgen Habermas' Ausgangspunkte, orientierende Überlegungen und Schlüsselbegriffe von verblüffender Naivität. Des Charmes ermangelnd, der diese Eigenschaft schmücken sollte, und von einem ressentimentüberwältigten Beleidigtsein vergiftet, scheinen sie auf so bequeme wie drastische Weise von den Frühnachrichten widerlegt zu werden.

Was ist davon zu halten, unterstellt einer, bedeutende politische Fragen seien lösbar durch einen normativen Vernunftkonsens auf der Basis verallgemeinerungsfähiger Interessen, wenn doch Interessen ausschließlich geschichtlich geprägt sind? Verdient eine Theorie, welche das Risiko politischen Handelns für diskursfähig hält, auch nur die geringste Aufmerksamkeit und das Habermas' Denken grundierende Ziel, die Einheit von Ethik und Wissenschaft herzustellen, mehr als ein Achselzucken? Scheitert Habermas' Unterstellung, daß jeder Mensch die Fähigkeit habe (haben müsse?), auf vernünftige Gründe vernünftig zu reagieren und gute von schlechten Argumenten zu unterscheiden, nicht bereits daran, daß die ideale Sprechsituation (die, wie Habermas selber einräumt, meist eine kontrafaktische Annahme ist), geht es um Fragen der Macht und um letzte existentielle Gegensätze, eine Fata Morgana bleibt und allenfalls im persönlichen Ich-und-Du möglich ist, nicht jedoch in der Senkgrube, die man "Öffentlichkeit" heißt und in der die Sprache vor allem dazu dient, die Gedanken zu verbergen oder zu verbergen, daß man keine hat?

Liegt nicht alles menschliche Denken und Sprechen im großen Schatten der Derivationen: daß wir alle dazu verurteilt sind, dem Nicht-Logischen einen logischen Sinn zu unterschieben - ein Sachverhalt, den wir theoretisch zuweilen anerkennen, praktisch aber fast nie respektieren? "So oft die Vernunft gegen den Menschen ist, so oft wird der Mensch gegen die Vernunft sein", wußte nicht erst der große Thomas Hobbes. Vor allem aber: Mentalitäten trennen mehr als Systeme, und überzeugt werden durch Redeheilkunst kann nur derjenige, der bereits überzeugt ist, wobei im vorliegenden Falle alle Habermas' Auffassung von "Vernunft", "Gerechtigkeit", "Demokratie", "Rechtsstaat" und wie die erhaben-geheimnisvollen Entitäten sich nennen mögen, teilen müßten.

Und: Ist der Glaube an den Diskurs mehr als ein Machtanspruch derjenigen, die ihre Stärke im Argumentieren erblicken, in der Diktatur des Sitzfleisches, und den härteren Kampfformen ausweichen wollen?

Die aficionados unseres Geburtstagskindes, das längst als verehrungheischendes Doppelwesen, sowohl Präzeptor wie Gouvernante, über der kleindeutschen Büßergemeinschaft thront, werden ob solcher Einwände höhnisch lachen. Da sei ja die altbekannte Vulgärkritik, die eine hochkomplexe und in Jahrzehnten immer verzweigtere Theorie so lange fälschend vereinfache, bis der gesunde Menschenverstand, bekanntlich der ärgste aller Metaphysiker, wähnt, sie aburteilen zu können.

Tatsächlich sind solche Einwände billig zu haben und mögen als konservatives oder reaktionäres Griffekloppen bezeichnet werden - sie haben jedoch gegenüber allen bereits ebenfalls ältlich gewordenen Schwungradvorstellungen aus der Perückenzeit die Geschichte und die leidvolle Erfahrung für sich. Ein intellektuelles System, das unterhalb des Niveaus eines Alltagsverstandes zu liegen kommt, der die ernsten Wiederholungen der Geschichte vielleicht nicht begreift, doch immerhin konstatiert, ist kaum mehr als eine aufgetakelte Nichtigkeit. Die banalité supérieure (André Gide) hat gegenüber den stolzen Phrasen auf Stelzen (etwa: "Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bestimmen das normative Selbstverständnis der Moderne nach wie vor" - als sei dieses "normative Selbstverständnis" etwas anderes als Selbstbetrug) immerhin die schmerzensreiche Evidenz für sich, und daß die Erde nur ein ungeheurer Altar ist, auf dem ohne Unterlaß geopfert wird, und sie sich mit dem Blut der Schuldigen nicht zufriedengibt, ist der Lage des Menschen wohl angemessener als eine Utopie, die zu ängstlich ist, sich als solche zu bekennen und an deren Schluß das beklemmende Idyll droht, daß jeder jedem auf die Schulter klopft.

Das Erstaunliche an Habermas ist jedoch nicht sein Werk, in dessen ausgedehnt-unübersichtlicher Landschaft zähe Lederstrümpfe einige Perlen finden mögen, das Erstaunliche ist sein Erfolg, der wohl gerade auf seiner Wirklichkeitsferne und auf seiner eher nur scheinbaren, zunächst jedoch einschüchternden Kompliziertheit beruht. Ohne Zweifel ist Habermas der erfolgreichste deutsche Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, und die Gesamtauflage seiner Schriften dürfte die Max Webers übertreffen, von Troeltsch, Georg Simmel, Werner Sombart, Gehlen, Adorno, selbst von Niklas Luhmann oder Herbert Marcuse zu schweigen.

Der Erfolg mag auch darin begründet sein, daß er der "organische Intellektuelle" einer sich in den letzten Jahrzehnten herausbildenden und rasch zunehmenden Schicht ist, der keine wirkliche gesellschaftliche Funktion zukommt und deren Machtanspruch nie ganz erfüllt wird: der geistes- und sozialwissenschaftlichen Intelligenz der heutigen Massenuniversität und des sich aus ihr rekrutierenden Personals der "Belehrung, Betreuung, Beplanung" (Schelsky).

Der von hohen Auflagen verwöhnte wie mit Ehrungen überschüttete Autor, dessen Leistungsfähigkeit nur von seiner letztlich mysteriös bleibenden Erfolgsfähigkeit überboten wird, fühlt sich trotz allem noch verfolgt und geriert sich als ein Widerständler de luxe. Habermas' eigentümliche Gereiztheit und Aggressionsbereitschaft trägt sogar die Male des "autoritären Charakters": Der Feind ist klein, häßlich, dumm, widerlegt, ohnmächtig, perspektivlos, aber ungeheuer gefährlich! Ein anderes Muster ist das guilty by association: X (zum Beispiel Roman Herzog) kennt Y (zum Beispiel Ernst-Wolfgang Böckenförde) der von Z (zum Beispiel Carl Schmitt) geprägt wurde. Z aber ist die bête noire schlechthin, ergo ist X usw. usf.!

Lassen wir derlei von großem, wenn auch unbeabsichtigtem Humor zeugenden Auslassungen beiseite, so darf man Habermas' umfangreiches und stetig wachsendes Werk als eine Großbaustelle erachten, auf der unentwegt erneuert, revidiert, erweitert und auch repariert wird: Dem hier umherstolpernden Kritiker schallt ständig das triumphierende "Ik bün all hier" entgegen. Diese Variante der Immunisierungsstrategie hat es in sich.

Doch der hartnäckigste Vereinfacher und der dem gröbsten Holzschnitt gewogene Simplifikateur ist Habermas selbst; man lese nur zwei frühe, bereits 1962 formulierte Sätze: "Demokratie ist nicht eine Staatsform wie irgend eine andere; ihr Wesen besteht vielmehr darin, daß sie die weitreichenden gesellschaftlichen Wandlungen vollstreckt, die die Freiheit der Menschen steigern und am Ende vielleicht ganz herstellen können. Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr."

Solche Verlautbarungen könnten von einem pfingstlich verzückten AStA-Sprecher stammen und zeigen, "wie sehr emotional besetzte Wörter geeignet sind, den Verstand zu verzaubern" (Wittgenstein). Demokratie ist nichts weiter als der Kratos eines Demos, die Herrschaft eines (politischen) Volkes, und was dieses politische Volk, das zum Beispiel nur aus erwachsenen, waffenfähigen Männern oder nur aus formal gleichberechtigten Angehörigen einer bestimmten Rasse bestehen kann und sich nicht deckt mit einer "Bevölkerung", mittels der vereinbarten Prozeduren beschließt, kann niemals undemokratisch sein, und wenn es darum ginge, daß alle Rothaarigen guillotiniert werden sollen.

Demokratie ist nur eine Methode, und sie kann durchaus auf ein régime de canaille (Voltaire) hinauslaufen, auf eine Terrorbrüderlichkeit oder darauf, daß das Volk mit dem Knüppel des Volkes geschlagen wird - in aller Regel ist sie eine Plutokratie und eine "Herrschaft durch Lüge" (Schumpeter), die sich gerne mit dem Flittergold humanitärer Deklarationen schmückt. Mit "Freiheit", die nur etwas für Mutige ist (auch ein Wort, das immer etwas anderes bedeutet und stets die gleichen Gefühle provoziert), hat Demokratie nichts zu tun, es sei denn, man ordne ihr (naturrechtlich-menschenrechtlich begründete) liberale Prinzipien vor.

"Menschheit" endlich ist ein zoologischer Begriff, und weil sie kein Volk ist und auch keinen Feind hat, kann sie keine Demokratie bilden, sie kann sich allenfalls in Demokratien aufgliedern oder auseinanderfallen. Was "Selbstbestimmung" sein soll, die ohne Abgrenzung und gar ohne Ausschließung denkunmöglich ist, mag dahingestellt bleiben.

Fingiert wird hier, alle Einzelnen könnten sich zwar selbstbestimmen, das Ergebnis würde jedoch in eins fallen mit der friedlichen Selbstbestimmung der Gattung. Das wäre entweder eine Suggestion mit totalitären Folgen oder liefe daraus hinaus, daß alle, die aufeinander zugehen sollen, aufeinander losgehen: bellum omnium contra omnes.

Der Progressive, der die wirklich "radikale Demokratie" (Habermas), gar die "Weltdemokratie" will, ist nie zufrieden, weil es immer noch zu Befreiende bzw. Zu-sich-selbst-zu-bringende gibt.

Die Welt als ein höchstens in einigen Modalitäten zu veränderndes, jedoch grundsätzlich hinzunehmendes Pluriversum zu sehen, ist ein Privileg von Konservativen und sogar von Reaktionären, begnügen sie sich mit Gehorsam und fordern nicht innere Zustimmung. Hier finden sich die eigentlichen Toleranten, während die Progressisten, sind sie auch nur in Maßen konsequent, "von demokratischer Herrschsucht leidenschaftlich zerfressen" (Clausewitz) sind und sich von den im heutigen Sinne Totalitären nur so weit unterscheiden, wie sich ein Ei vom anderen unterscheidet.

Das schon erwähnte Personal der "Belehrung, Betreuung, Beplanung" tröstet sich über die Diskrepanz von Machtansprüchen und Versagungen, indem es die Wirklichkeit flieht, und dies gelingt auch gut, weil es so umfangreich geworden ist, daß es alle seine Erwägungen und Erörterungen bequem innerhalb der eigenen Reihen halten kann. Auch hier ist Habermas ein trefflicher Ratgeber und Begleiter, leuchten doch aus seinen Schachtel- und Bandwurm-sätzen Tausende und Abertausende von "Wenns" und "Danns" und "Müßte" hervor, ein nicht enden wollender Reigen von irrealen Forderungen und Bedingungssätzen und verwandten Konstruktionen, die in einer umfänglichen Anthologie zu präsentieren wären.

Typisch sind Sätze wie: "Weil bei humanitären Interventionen immer auch das Leben Unschuldiger auf dem Spiel steht, müßte die erforderliche Gewalt so engmaschig reglementiert sein, daß vorgebliche Aktionen eines Weltpolizisten ihren vorwandhaften Charakter verlieren und als solche weltweit akzeptiert werden können."

Das erinnert an die radikal-liberale Methode der limitativen Aufzählung aller Befugnisse wie aller suspensionsfähigen Rechte im Ausnahmezustand: Mit guten Gesetzen lassen sich alle Situationen voraussehen und alle Maßregeln angeben - nur ist Habermas' Forderung auch angesichts der Wirklichkeit des Krieges, dem es übrigens, wie jedem Chamäleon, gleichgültig ist, ob man ihn Sanktion, Befriedung, humanitäre Aktion oder wie auch immer nennt, noch irrealer als die einiger verfassungstheoretisch tätiger Ultra-Liberaler des 19. Jahrhunderts.

Als Marxist war Habermas noch Realist

Des weiteren erfahren wir, daß "der Gefahr des Despotismus ... einzig durch das republikanische Verfahren eines fairen Meinungs- und Willensbildungsprozesses aller potentiell Betroffenen vorgebeugt werden kann", eine wohl dem Gemeinschaftskundelehrbuch entnommene Vorstellung. Habermas stellt also durchaus Widerstände und Hemmnisse fest, aber sie sind ihm nur atavistische, wenn auch zäh sich durch die Jahrhunderte schleppende Reste, die nicht "ontologisiert" werden sollten und anscheinend keinerlei wirkliche Verankerung in der menschlichen Psyche haben, die doch mit der realen Geschichte in enger Verbindung stehen dürfte.

Zum Schluß erschallt dann eine Drommete wie: "Zur kosmopolitischen Fortentwicklung eines Völkerrechts, das den Stimmen aller Betroffenen gleichmäßiges und gegenseitiges Gehör verschafft (wozu wohl ein besonders großer Knüppel nötig wäre!), gibt es keine Alternative." Unfair ist es aber vor allem, Habermas als Nachfahren der Aufklärer anzusehen, vergegenwärtigt man sich einmal die außerordentliche Skepsis, mit der diese ihre Verbesserungsvorschläge und Wunschträume begleiteten.

Immerhin ist der junge Habermas mit der Wirklichkeit in engeren Kontakt gekommen, als er noch stark von einem Marxismus bestimmt war, der freilich durch den Einfluß Adornos und Horkheimers ziemlich resignativ anmutete. Studien wie "Über den Begriff der politischen Beteiligung" (1961), die Habilitation "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1962) oder die Essaysammlung "Theorie und Praxis" (1963) sind auf eine oft großartige Weise wirklichkeitsgesättigt, und Habermas kommt hier etwa ganz unbefangen zu dem Schluß, daß das Parlament eine Stätte sei, "an der sich weisungsgebundene Parteibeauftragte treffen, um bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen". Das Parlament disputiert nicht, sondern repräsentiert die Parteiwillen nach außen. Damit war das Ende der bürgerlichen Öffentlichkeit da, und ihre Verheißungen hatten sich als Betrug erwiesen.

Habermas war zur kühlen Feststellung dieses Sachverhalts auch deshalb fähig, weil er es nicht verschmähte, sich dabei auf die Parlamentarismuskritik eines Carl Schmitt zu stützen, der den Weg des "jungen Mannes vom Starnberger See" bis in die späten 1970er Jahre verfolgte, und dies keineswegs immer nur ablehnend. Vor allem aber war Habermas zu seiner systematischen Kritik fähig, weil er noch dem Marxismus verbunden war, dem man vieles nachsagen mag, aber nicht, daß er auf bürgerlich-"demokratische" Ideologeme und auf den Parlamentarismus hereinfällt. Man muß zugeben, daß Habermas damals noch zu schreiben wußte, gelegentlich sogar auf eine elegante Manier.

Je weiter er sich vom Marxismus entfernte, je mehr er diesen hinter sich ließ, weil er dessen Schwächen und Leerstellen angesichts der Heraufkunft, sagen wir der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" bemerkte, desto schlingpflanzhafter und schablonenartiger wurde seine Sprache, die in seinem wichtigsten Spätwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981) einen monströs zu nennenden Jargon aufwies. Parallel dazu wuchs sein internationaler Ruhm.

Der Rückzug vom Marxismus und von dessen harten Themen: politische Ökonomie, Macht- und Klassenkampf, und die Hinwendung zu weichen Themen wie Diskurs und Kommunikation, sich gewiß auch der Einsicht in das Verschwinden des Proletariats-für-sich verdankend, fanden schon deshalb Anklang, weil man sich jetzt im Ungefähren aufhalten konnte: Mensch sei schlau / bleib im Überbau. Man konnte sich dem Marxismus, dessen Blößen ja kaum zu leugnen waren, überlegen fühlen, sich von der durch ihn zumindest nahegelegten, gefährlichen Pflicht zur revolutionären Tätigkeit dispensieren und obendrein Karriere machen, die man zum (revolutionären) Marsch durch die Institutionen schönte.

Dazu gehörte, daß die marxistische Kategorie der Totalität aufgelöst wurde in "System" einerseits, "Lebenswelt" andererseits. Innerhalb der doch, wie die frühere Analyse etwa eines Adorno aufwies, stark beschädigten Lebenswelt sollten jene Verständigungsverhältnisse entstehen, welche die Versuche des "Systems" zur "Kolonialisierung" der Lebenswelt erfolgreich abwehren, an einem fernen Tage gar beenden sollten.

Das war nur plausibel, wenn der ganze, stets noch wachsende Umfang des "beschädigten Lebens" (Adorno) minimiert wurde und man ein reformistisches, beschränktes Lob des Bestehenden formulierte. In immer neuen Wendungen betonte Habermas jetzt, daß sich in der westlichen Gesellschaft "der Prozeß einer immer weniger selektiven Ausschöpfung der universalistischen Gehalte von Grundrechtsnormen durchgesetzt" habe, vier Jahrzehnte zuvor war er noch fähig, daraus zu folgern, daß sich die Sklaverei bedeutend verfeinern läßt, wenn man ihr den Schein der Freiheit zu geben weiß - und daß sich in diesem "Als-ob" die Bedeutung dieser Freiheiten beinahe schon erschöpft.

Die einstige Rücksichtslosigkeit seiner Analyse gegenüber dem, was ist, wurde futuristisch und kam nur noch zur Geltung gegenüber dem, was eh schon auf dem Wege war, doch noch besser werden sollte: Wenn-dann, wenn-dann. Und daß die bereits brüchig werdende, aber immer noch vorhandene Privilegierung des "Westens" sich, Imperialismustheorie hin oder her, zumindest auch der Ausplünderung und der Kontrolle der entscheidenden ökonomischen und politischen Punkte des "Südens" und den entsprechenden terms of trade verdanken könnte, geriet Habermas aus dem Blickpunkt.

Freilich ist zuzugeben, daß Habermas die Ausplünderung, gesteuerte Zerrüttung und militärische Repression dieser Welt durchaus beim Namen nannte und auf die fortgesetzte Verletzung von Menschenrechten und auf Hunger und Elend hinwies. Doch diese Verhältnisse treten bei ihm nur additiv ins Bild und ändern an seiner relativ positiven Einschätzung des "Westens" nichts. Neben eine immerhin in Maßen erfreuliche, durchaus verbesserungsfähige Welt tritt eine brutale und hoffnungslose: zwar besteht zwischen beiden irgendeine Beziehung, doch eher eine des Nebeneinander als eine der Verschränkung. Daß es sich hier um Erscheinungsformen des einen "gesellschaftlichen Bewegungsgesetzes" (Gerhard Schweppenhäuser) handelt, war für den Marxismus immerhin klar, nicht aber für den Apologeten der "einen" Welt.

Sein Engagement gründet in tiefer Liebe zur Illusion

Immerhin hat der auf eine kompliziertere als die übliche Weise sich anpassende Habermas den zweiten Irak-Krieg mit größter Schärfe verurteilt und die Vereinigten Staaten des massiven Völkerrechtsbruches, der hegemonialen Unverschämtheit und der Lügenmanöver geziehen. Doch auch diesem schätzenswerten Engagement liegt Habermas' tiefe Liebe zur Illusion zugrunde.

Hielt er einst dem tatsächlichen bürgerlichen Parlamentarismus dessen Ideale entgegen, so mochte man das noch, gar nicht unähnlich wie bei Carl Schmitt, als eine Strategie der Delegitimierung verstehen. Danach sprach Habermas von der "idealen Sprechsituation". Diese hielt er immerhin noch für "kontra-faktisch", doch hier sollte das Ideal die bereits geschönte Wirklichkeit aufheben. Jetzt kritisierte er zwar das Verhalten der Vereinigten Staaten, aber betrachtete sie als "guten Hegemon" und bewunderte ihre politische Tradition: die Aktion im Irak war ein Verstoß gegen das eigentliche "Wesen" der Vereinigten Staaten - wenn auch möglicherweise der Auftakt zu weiteren Verstößen dieser Art.

Die Einheit der Welt, die "Weltinnenpolitik ohne Weltstaat", das "Weltbürgerrecht", all dies kann nicht realisiert werden ohne die Vereinigten Staaten, die freilich zu ihren guten Traditionen zurückfinden sollten! Habermas begeistert sich für den Briand-Kellogg-Pakt von 1928, weil dieser den "Angriffskrieg", eines der geheimnisvollsten Wesen schlechthin, ächtete; er vergißt, daß er die "Selbstverteidigung" der damaligen imperialistischen Staaten wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich bedeutend erleichterte und damit auch den "gerechten" Krieg, der stets zum "totalen" tendiert. "Niemals bisher ist ein so umfangreicher Anspruch auf das Recht, Krieg zu führen, anerkannt worden", bilanzierte 1937 der große US-amerikanische Völkerrechtler Edwin Borchard.

Besonders aber hat es Habermas die Erklärung von Franklin Delano Roosevelt vom 11. April 1945 angetan, nämlich daß "wir mehr als das Ende des Krieges wünschen, daß es zu keinen Kriegen mehr kommt". Nun, so groß ist der Unterschied zu dem befreienden, sich selbst verteidigenden und überall die ersehnte Demokratie (= sprich die damit verbundene größere Durchlässigkeit für Einmischungen der USA) einführen wollenden Bush jr. wirklich nicht, dem Habermas vor allem vorzuwerfen scheint, daß ihm im Gegensatz zu seinen Amtsvorgängern noch keine wirklichen "völkerrechtlichen Innovationen" einfielen. Es gibt freilich auch Innovationen, die sich der von Habermas übersehenen US-amerikanischen Tradition des Fallenstellens verdanken.

Das heutige Völkerrecht, dessen Verletzung durch die Vereinigten Staaten Habermas kritisiert, ist ihm, obgleich es doch vom diskriminierenden Kriegsbegriff längst durchsetzt, ja, besessen ist, ein immer noch zu großes Hindernis auf dem Weg zur "Weltinnenpolitik" und zur Verwirklichung der Kantischen Idee eines Weltbürgerrechts. Bei seinen Elogen auf Kants "Zum ewigen Frieden" (1795) vergißt Habermas freilich, daß Kant alle Sanktionskriege deutlich ablehnte, gemäß dem klassischen Völkerrecht für die wechselseitige Amnestie nach Kriegsende eintrat, die "Demokratie" als "Despotismus" kritisierte und statt dessen die "Republik" forderte sowie jeglichen Friedensschluß ablehnte, der neue Kriegsgründe schuf.

Doch Habermas bringt es, wie leider schon viele vor ihm, fertig, Kant (dessen Traktat einigermaßen realitätsblind ist, betrachtet man die 1793 von der Französischen Revolution entfesselten, ideologisierten Kriege) mit dem unseligen Völkerbund in Zusammenhang zu bringen, dem Völkerbund, der vor allem eine Maschine zur Niederhaltung Deutschlands und zur Sicherung des Raubes war.

Es verwundert denn auch wenig, daß Habermas den Kosovo-Krieg, wenn auch mit einigen Bedenken, rechtfertigt. Er ist ihm ein "Vorgriff" auf das Weltbürgerrecht, gar ein Schritt von der Machtpolitik zur Weltbürgergesellschaft, so daß Habermas beinahe gezwungen ist, an die Propaganda von der "chirurgischen Präzision" der Luftangriffe und von der "programmatischen Schonung der Zivilisten" zu glauben und daraus auf eine "Abkehr von einer totalen Kriegführung" zu schließen. Ob die Behauptungen von einer gezielten ethnischen Säuberung durch die Serben wirklich stimmten, ob Milosevic tatsächlich den sogenannten "Hufeisenplan" verfolgte, fragt er sich in seinem Artikel "Bestialität und Humanität", erschienen am 29. April 1999 in der Zeit, nicht. Die Lügen der Befürworter des Kosovo-Krieges und dessen Hintergründe hat zur Gänze erst der frühere Bundeswehrgeneral Heinz Loquai in seinem Buch "Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren Krieg" (2000) in aller Deutlichkeit aufgedeckt; an der degoutanten Leichtgläubigkeit Habermas', die ihn als Aufklärer und moralische Instanz disqualifiziert, ändert das nichts, und auf eine spätere Korrektur seiner Stellungnahmen verzichtete er.

Kosovo-Krieg als Vorgriff auf das Weltbürgerrecht

In Wladimir Solowjews "Kurzer Erzählung vom Antichrist" (1900) erscheint dieser als der Herr der Welt und verkündet unter dem Jubel der Massen Pax et Securitas, Wohlstand für alle, ewigen Frieden, gesichert durch seine übermächtige Weltarmee, Förderung von Humanität und Kultur sowie Trocknung aller Tränen. Die addierte, vorhandene Menschheit, in "Vernunft" geeint, sich selbst verehrend und sich selbst als sterblicher Gott (wenn auch unter Aufsicht) auf den Thron des ewigen Gottes setzend - das ist das Ideal des Jürgen Habermas, dem es gelang, den Brei seines Herzens in die erkaltete, starre Lava seines Wissenschaftskauderwelsch zu rühren. Zur Verwirklichung dieses Ideals wird es freilich noch einiger re-education und des einen und anderen "Vorgriffes" bedürfen.

Die Wahrheit von Proudhons Wort "Wer 'Menschheit' sagt, will betrügen" erweist sich stets aufs neue. Am Vorabend weltweiter, brutaler Verteilungskämpfe, die unter den humanitärsten Losungen sich entwickeln werden, läßt sich vorhersehen, daß, glauben nur genügend Menschen, was Habermas und seine zahllosen Brüder im Geiste verkünden, das Blut selbst aus den harten Felsen sprudeln wird.

Jürgen Habermas, geboren am 18. Juni 1929 in Düsseldorf, Studium in Göttingen, Zürich und Bonn, Promotion 1954 in Bonn, Habilitation 1961 in Marburg, seit 1964 Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt am Main, Gastprofessuren in den USA, zahlreiche Veröffentlichungen und Auszeichnungen.

 

Günter Maschke lebt als Privatgelehrter und Publizist in Frankfurt am Main. Jürgen Habermas nannte Maschke einmal "den einzigen echten Renegaten der 68er". In der JUNGEN FREIHEIT schrieb der Carl-Schmitt-Experte zuletzt über Juan Donoso Cortés (19/03) und Joseph de Maistre (JF 15/03).

 

Fotos: Jürgen Habermas: Seinen Kritikern schallt ständig das triumphierende "Ik bün all hier" entgegen / Jürgen Habermas bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (2001): Apologet der Einen Welt


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