© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/04 18. Juni 2004

Gekaufte Sehnsucht, teure Träume
von Ulrich Beer

Am 1. Juli 2004 tritt das "Gesetz zur Verbesserung des Schutzes junger Menschen vor Gefahren des Alkohol- und Tabakkonsums" in Kraft. Es bedeutet die Einführung einer Sondersteuer auf alkoholhaltige Süßgetränke (Alkopops).

Seit einigen Jahren finden in der warmen Jahreszeit Limonaden mit einem Alkoholgehalt von 5 bis 6 Volumenprozenten besonders bei Jugendlichen und Kindern reißenden Absatz. In bunten Farben bieten sie im Regal einen lockenden Anblick und haben nicht den typischen Alkohol-Geschmack, der Kindern meist unangenehm ist. Die Wirkung des Alkohols allerdings genießen auch sehr junge Käufer und geraten dadurch leicht in die Gefahr des Alkoholismus. Der Verführungskraft dieser neuesten "Einstiegsdroge" sind Jugendliche nicht gewachsen. Daher will der Staat die Hemmschwelle durch einen höheren Preis verstärken. Für Erwachsene indes sollen die fertigen Mixgetränke "bezahlbar" bleiben. Daher werden sich die Kosten nur um etwa einen Euro pro Flasche erhöhen. Ob dies eine ausreichende Abschreckung ist, wird sich in diesem Sommer erstmals zeigen. Erfahrungsgemäß sind die Taschengeldbeträge heute ansehnlich, dazu kommt die Möglichkeit, sich Geld durch Jobs zu verdienen - oder die Flaschen zu klauen.

Die "Alkopops" demonstrieren den Zwiespalt jeder modernen Drogenpolitik. Einerseits ist der Konsum von Genußmitteln aller Art immanentes Ziel unserer ganzen Gesellschaft. Andererseits geht derjenige zugrunde, der das Maß überschreitet. Das verbreitete Übergewicht bei Kindern ist ein weiteres Zeichen für diese gefährliche Ambivalenz. Die Werbung sucht alles möglichst schmackhaft darzustellen, und vom Kunden wird Disziplin verlangt, wenn er nicht zum Opfer des Angebots werden will. Verzicht und Disziplin wollen jedoch gelernt sein. Sie hängen ab von einer ausgereiften Persönlichkeit. Die Industrie bemüht sich hingegen, Kinder schon auf dem Weg dorthin "abzufangen" und zum idealen Konsumenten zu formen - in vielen Fällen zum Süchtigen.

Wir können Sucht definieren als die Vereinfachung und Vereinheitlichung eines umfassenden Suchens nach Sinn. Als Sehnsucht ist die fundamentale Unzufriedenheit des Menschen das Motiv jeder höheren Kulturleistung.

Jeder Sucht ist gemeinsam, daß sie aus einer verzweifelten Einsamkeit herausführen und Ich-Grenzen sprengen soll, daß sie Freiheit verspricht und doch in paradoxer Umkehr immer mehr Abhängigkeit schafft. Dabei enthält die Sucht im verzerrten Spiegelbild oder einer Fata Morgana das, wonach die gesunde Seele sich sehnt. Sucht ist halbierte Sehnsucht. Wahre Sehnsucht richtet sich aufs Ganzsein, sucht etwas Fehlendes, dessen wir zur Ergänzung noch bedürfen. Sehnsucht ist Hoffnung, daß das Leben für uns noch etwas unglaublich Wichtiges bereithält. Menschen werden mit der Fähigkeit zur Sehnsucht geboren, nur so können wir uns das durch alle Jahrhunderte andauernde Suchen nach einer höheren Existenzform erklären.

Sehnsucht ist die Kraft, die uns aus der Unzulänglichkeit unserer Existenz herausführt, das "Prinzip Hoffnung", das über die jeweilige Wirklichkeit, das Hier und Jetzt, hinausweist: in die Zukunft, ins Jenseits, in eine bessere Welt. Ohne dieses Streben wären menschliche Kultur und der stete Drang nach Verbesserung aller Verhältnisse, wäre menschlicher Fortschritt ebensowenig erklärbar wie Religion und das tiefe Sehnen und Seufzen der Menschheit nach Erlösung und Heil. Eben weil er sich als unheil, unvollkommen, unzulänglich empfindet, sucht und sehnt sich der Mensch nach mehr, nach der vollkommenen Ergänzung in einem liebenden Gegenüber oder einem heilenden Gott.

Wenn der Mensch in diesem Glauben lebt und von dieser Hoffnung sich bewegen läßt, erfährt er sich als geboren, getragen von einem höheren Sinn. Wenn er dagegen diese Spannung zwischen Himmel und Erde nicht aushält, sondern die Befriedigung auf der Erde ungeduldig schon jetzt sucht, halbiert sich die namenlose Sehnsucht zu einer Sucht, die viele Namen hat. Während der von Sehnsucht erfüllte Mensch wie ein Pfeil ist, auf die Sehne gespannt und auf ein Ziel gerichtet, ist der von Sucht getriebene oder gezogene wie ein Treibholz im Strudel. Er entbehrt des Zieles, und er erfährt keinen Sinn, sondern nur den Gleichtakt von Hunger und Befriedigung. Wirkliche Sehnsucht macht ihn zu Größerem fähig, hält ihn eingespannt in den Zusammenhang zwischen Gestern und Morgen, zwischen Himmel und Erde, Geist und Natur.

Die Sucht wirft den Menschen auf sich selbst zurück und nimmt ihm damit die Kompaßnadel der Orientierung. Wir können Sucht definieren als die Vereinfachung und Vereinseitigung eines umfassenderen Suchens nach Sinn. Sucht ist eine unerfüllte Liebe, sie verspricht mehr, als sie beinhaltet, und nicht nur mehr, als sie geben will, sondern auch, als sie geben kann. Wie Liebe macht sie blind.

Der Süchtige und der Gegenstand seiner Leidenschaft sind auf unerklärliche Weise zusammengekettet, er ist "addicted", das heißt, er widmet sich, ja, weiht sich dieser einen Leidenschaft. Je weniger Phantasie der Mensch hat, desto empfänglicher und abhängiger ist er von der vermeintlichen Fülle dieses einen anderen Menschen und dieser einen Passion. Je mehr er seine eigenen Kräfte nur in den Dienst dieses Verlangens stellt, um so stärker erscheinen ihm die Kräfte des Gegenstandes seiner Leidenschaft. Er fühlt sich frei in Raten, um alsbald wieder neu in den Käfig seiner Abhängigkeit zu geraten.

Die Sucht entspricht der Situation des Gefangenen, der durch einen Zaun von der Freiheit getrennt wird; sein Ausbruchsversuch konzentriert sich auf die Stelle, an der die morscheste Latte sitzt. Dort gelingt ihm auch der Durchbruch, aber mit dem Anfangserfolg verstärkt sich seine Meinung über das Geleistete, Überwundene. Zunächst glaubt er, den ganzen Zaun aus der Welt geschafft zu haben, erkennt aber später, daß es wirklich nur eine morsche Latte war. Der nächste Zaun wird noch unüberwindlicher; der Mensch hat es nicht gelernt, sich etwas zuzutrauen, er haftet aus Schwäche an dem Erlebnis, die Latte überwunden zu haben.

So kommt es nie zu einer Sinnerfüllung. Süchte haben Ersatzcharakter. Der Gefangene hat eine Ersatzfreiheit erlangt, als er das Gefühl hatte, den ganzen Zaun gesprengt zu haben, und doch nur in den nächsten Käfig gelangte. Statt seine Begrenzung zu akzeptieren und so innerlich alle Zäune zu überwinden, hat er sich Unbegrenztheit vorgespiegelt und ist in neue, oft größere Abhängigkeit gelangt.

Wie entsteht eigentlich die Verengung im Sog der Sucht, die uns schließlich unfrei macht? Beim ersten Versuch erleben wir einen Anfangserfolg. Die erste Zigarette erzeugt einen kleinen Rausch, der erste Wein, mit Freunden getrunken, eine Euphorie. Die erste Autoraserei läßt uns die Verstärkung eigener Kraft durch PS erfahren. Da jeder Erfolg eine verstärkende Wirkung hat, regt er zur Wiederholung an. Wird der Inhalt unserer Sucht unerreichbar, empfinden wir einen starken Mangel, den wir stillen wollen. Dieses Vakuumerlebnis führt dann ganz sicher tiefer in die Sucht. Es entsteht eine Schraubenbewegung, die den Süchtigen gewaltsam in seine Sucht hineinzwingt. Er kommt nicht frei, da er keine anderen Leidenschaften hat neben dieser einen. Irrtümlich nimmt er den Teil für das Ganze. Er überfrachtet seine Erwartung nach Befriedigung und Befreiung und erlebt sie stellvertretend für alle übrigen. Damit betrügt er sich selbst.

Die trügerische Sehnsucht führt weg von der Wirklichkeit; die Würde der Realität wird leichtfertig verspielt für eine ferne Wirklichkeit, so als hätte man beim Flug zum Mond bewußt kein Rückflugticket gelöst.

Auch dieses Bild weist ins Transzendente. Und die Organisationen, die sich der Suchtbekämpfung widmen - wie Guttempler, Blaues Kreuz oder Anonyme Alkoholiker - haben die religiöse Dimension durchaus erkannt. Sie wissen, daß die nahezu totale Abhängigkeit des Suchtkranken nur durch die noch größere, noch tiefere Bindung an eine höhere Macht - an Gott - zu überwinden ist. Erst der abgefallene und darum verfallende Mensch, der Maß und Orientierung verloren hat, ist aus dem Sehnsuchtszusammenhang mit dem, dem er fern ist, den er nicht sieht und nach dem er sich doch sehnt, herausgekommen. Er ist gefangen im Teufelskreis der Süchte, ohne daß er die Gefangenschaft spürt. Ihm muß die neue größere Gemeinsamkeit vor Augen geführt werden; er muß daran erinnert werden, daß wir auch in der Sucht suchen.

Suchen gehört zu Menschen. Wir alle suchen den Sinn, das Glück, den richtigen Weg und den, der uns die Richtung zeigt. Darum ist das Bekenntnis der glücklich Glaubenden auch immer ein Ausblick aus dem Verfallensein: "Du tust mir kund den Weg zum Leben, vor dir ist Freude in Fülle." (Psalm 16,11) Wir sind Menschen auf der Suche und dabei immer in Gefahr zu vergessen, welches Ziel wir suchen und wohin wir unterwegs sind, in der Gefahr, abzufallen, zu verfallen all den Ersatzerfüllungen, den Rauschmitteln, aber auch Ehrgeiz, Macht und Eigensucht - statt der wahren Vollkommenheit, dem wirklichen Wohl und Heil, das wir nur allzu leicht und gern vergessen. Gerade der Einsame ist von diesem Vergessen nie weit entfernt. Das Vergessen ist eine der größten Qualitäten des Lebens und zugleich eine der gefährlichsten Gaben für den Menschen überhaupt. Es ist schwer zu entscheiden, ob eine gütige oder eine böse Fee ihm diese Gabe in die Wiege legte.

Es gibt das heilsame Vergessen: Wir haben die Eigenart und die Neigung, mit bösen Erinnerungen auf die Weise fertigzuwerden, daß wir sie einfach vergessen. In der Erinnerung vergoldet sich unsere Vergangenheit. Die Kindheit - die keineswegs immer die sorgloseste und schönste Zeit war - gewinnt in der Rückschau heitere Farben, und wir sehnen uns nach ihr zurück, möchten noch einige Tage, Monate oder Jahre wiederholen können. Dabei haben wir die vielen Schmerzen vergessen, die mit Einsamkeit, Zurücksetzung, Verlassensein, Unterdrückung, Bevormundung und vielen anderen unausgesprochenen oder ausgesprochenen Kinderleiden verbunden waren: heilsames Vergessen, das die Voraussetzung eines unbelasteten Lebens und wohl auch eines späteren Glücks ist.

Wie entsteht der Sog, der immer tiefer in die Sucht hineinführt? Beim ersten Versuch erleben wir ein Gefühl des Glücks und der Befreiung. Man glaubt damit alles gewonnen zu haben - und verfällt der Wiederholung.

Aber wer das Heil selbst vergißt, wer auch das Schwere, das Leid vergessen will, kann jenen Abgründen der Existenz verfallen, die kein heilsames, gesundes Vergessen bereithalten. In Wahrheit vergessen wir nicht wirklich, sondern verdrängen nur, was uns unangenehm ist. Die Ursache dafür ist der Undank. Denn wenn wir des Guten gedenken, das wir erfahren haben, können wir auch das Negative, das Leid ertragen. Es tritt dann von selbst in den Schatten und bekommt eine untergeordnete Rolle. Auch die Einsamkeit wird positiver erlebt, wenn wir uns an das Gute erinnern, als wenn wir in Verbitterung nur an das Schwere denken, das uns zugefügt wurde.

Die Kraft des positiven Denkens, der Hoffnung und des Optimismus, die jene anderen, erfreulichen Zeitgenossen ausstrahlen, rührt auch daher, daß sie Negatives vergessen und Positives um so intensiver bewahren und um so deutlicher wahrnehmen können.

Dazu gehört, daß sie zu danken vermögen, weil ihnen das Gute, das sie erfahren, nicht selbstverständlich ist. Sie vergessen es nicht einfach und erinnern sich deswegen auch derer, denen sie das Gute verdanken, und vor allem des Gebers aller guten Gaben, von dem der Psalm 103 sagt: "Vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat!" Und auch dieses Vergessen ist uns aus der Bibel nur gut zu bekannt. Von den zehn geheilten Aussätzigen kam nur einer zurück, um dem Heiland zu danken. Von den Jüngern, die im Garten Gethsemane wachen sollten, erinnerte sich offenbar keiner. Alle schliefen und wurden von Müdigkeit und Vergeßlichkeit übermannt.

Im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung vom April 2004 wird eine "Kultur des Hinsehens" gefordert. Die Drogenbeauftragte Marion Caspers-Merk bezeichnet die Suchtprobleme gerade bei Kindern und Jugendlichen als eine "Aufgabe für die ganze Gesellschaft". Vor allem die verbreitete "Gleichgültigkeit" wird von Drogenpolitikern angeprangert und "Einmischung" gefordert: "Je später der Einstieg in den Konsum von Suchtmitteln vollzogen wird, desto geringer ist das Risiko, eine Suchterkrankung zu entwickeln. Am besten ist es natürlich, wenn der Einstieg in den Suchtmittelkonsum nicht nur hinausgezögert wird, sondern überhaupt nicht stattfindet."

Solche sorgenvollen Beteuerungen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Staat und Gesellschaft zur Zeit keinerlei Wertesystem anzubieten hat, das den einzelnen von einer direkten Konfrontation mit gefährlichen Versuchungen aller Art zu beschützen vermag. Wenn ein junger Mensch sich heute gegen Drogen und für produktive Tätigkeit entscheidet, dann tut er es nicht aufgrund religiöser oder metaphysischer Orientierung, sondern im eigenen wohlverstandenen Interesse. Insofern können wir schon stolz darauf sein, wie viele Jugendliche zu dieser Entscheidung in der Lage sind. Von Eltern und Lehrern ist höchstens ein Angebot alternativer Möglichkeiten der Freizeitgestaltung sowie harte Fakten und Informationen zum Thema Drogen zu erwarten.

Eine individualistische Gesellschaft kann den Menschen nicht mehr bindend vor sich selbst bewahren, weil sie ihm sonst auch die Freiheit nehmen würde. Die Steuerung über den Preis ist eine Notlösung. Doch Predigten nimmt den heutigen Erziehern ohnehin keiner ab - am wenigsten ihre skeptisch gemachten Schüler.

 

Prof. Dr. Ulrich Beer, Jahrgang 1932, ist Psychologe und Journalist. Einem breiten Publikum bekannt wurde er als sachverständiger Berater der langjährigen Fernsehsendung "Ehen vor Gericht".

Foto: "Alkopops" in der Hand von Schülern und Schülerinnen: Der Alkohol dient häufig als Stimulator für pubertäre Größenphantasien.


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