© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/04 25. Juni 2004

Irrweg wird fortgesetzt
Deutschland definiert sich endgültig als Einwanderungsland
Alexander Griesbach

Wir haben die Tür für Zuwanderung geöffnet, aber ganz vorsichtig", ließ sich die CDU-Politikerin Rita Süssmuth, die eine Regierungskommission zum Thema geleitet hat, in einem Interview über den jetzt von Innenminister Otto Schily (SPD) mit führenden Unionspolitikern ausgehandelten Zuwanderungskompromiß vernehmen. Weil so etwas wie "Gütekriterien" für Zuwanderer definiert worden seien, wird laut Frau Süssmuth "mehr zukunftsbezogene Migration" möglich - und das nach über dreißig Jahren unregulierter, millionenfacher Zuwanderung nach Deutschland.

Bejubelt wird vor allem die Erleichterung der Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften, die durch das Gesetz möglich werden soll. Deren Zuwanderung soll "flexibel" nach den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes gesteuert werden. Nicht-EU-Ausländer sollen nur dann in Deutschland arbeiten dürfen, wenn für eine freie Stelle weder ein Deutscher noch ein EU-Ausländer zur Verfügung steht. Hochqualifizierte sollen auf Dauer bleiben können. Doch was ist mit den vielen hochqualifizierten deutschen Wissenschaftlern, die scharenweise das Land verlassen, weil sie in Deutschland keine geeigneten Perspektiven vorfinden? Wäre es nicht sinnvoller, wenn sich die Politik Gedanken darüber machte, wie diese teuer ausgebildeten Spitzenkräfte auf Dauer in Deutschland gehalten werden können?

Den vielen Zuwanderungslobbyisten unter den Gewerkschaftsvertretern geht der sich abzeichnende Kompromiß indes noch nicht weit genug. So jammerte das DGB-Vorstandsmitglied Heinz Putzhammer, daß das Zuwanderungsgesetz Einwanderung keineswegs gestalte, sprich: die Tore immer noch nicht weit genug geöffnet werden. Der Anwerbestopp mit seinen kaum nachvollziehbaren Ausnahmen bleibe bestehen.

Ob Putzhammer auch einen Gedanken an die Millionen von deutschen Arbeitslosen und Niedriglohn-Beschäftigten verschwendet, die bei einer Aufhebung des Anwerbestopps einem entsprechenden Verdrängungswettbewerb ausgesetzt würden?

Aber nicht nur Gewerkschafts-, sondern auch Arbeitgebervertreter tun sich als Wortführer für mehr Zuwanderung hervor. Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), befürwortet Zuwanderung, "um unsere Wachstumschancen für die Zukunft zu wahren". Hat sich Rogowski einmal dazu geäußert, was sein Verband zu tun gedenkt, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, die mehr deutschen Ehepaaren die Möglichkeit eröffnen könnte, sich für ein Kind zu entscheiden? Wäre das nicht auch eine Option, mit der die Zukunft "gewahrt" werden könnte? Und dies alles ohne überbordende Integrationskosten!

Hellhörig müssen folgende Bestandteile des Kompromisses machen: Der Aufenthaltsstatus von Opfern nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung soll "verbessert" werden. Diese "Opfer" können als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden. Wer die extensive Auslegungspraxis der bundesdeutschen Ausländerbehörden kennt, weiß, daß dies in der Konsequenz zu einem Mehr an unerwünschter Zuwanderung führen wird.

Die Altersgrenze für den Kindernachzug soll überdies nicht von 16 auf zwölf Jahre abgesenkt werden. Im Gegenteil: In "bestimmten Fällen" soll ein Nachzugsanspruch bis zum 18. Lebensjahr eingeräumt werden. Wer sich die in weiten Teilen mißlungenen Integrationsbemühungen zum Beispiel bei muslimischen Zuwanderern vor Augen hält, bei denen anstatt Integration häufig Reethnisierungstendenzen erkennbar werden, weiß, welche Probleme eine derartige Regelung in sich birgt.

Von der Papierform her klingt es gut, wenn die in der Bundesrepublik lebenden Ausländer, die "Integrationsdefizite" aufweisen, bei einer Weigerung, an Integrationskursen teilzunehmen, entweder ihren Aufenthaltsstatus oder eine Kürzung der Sozialleistungen um zehn Prozent riskieren. Ob das jedoch in die Praxis umgesetzt werden kann, bleibt angesichts der Laxheit deutscher Behörden gegenüber Ausländern abzuwarten.

Dies gilt auch im Hinblick auf die Regelung, daß Ausländer bei einer entsprechenden "Gefahrenprognose" abgeschoben werden können. Konkret ist hier die Vermutung eines "terroristischen Hintergrundes" gemeint. Die geistigen Brandstifter in den bundesdeutschen Moscheen können "auf Ermessen" der Ausländerbehörden abgeschoben werden.

Wie groß dieser "Ermessensspielraum" ist, zeigt der Eiertanz um die Abschiebung des Islamisten Metin Kaplan. Die rot-grüne Bundesregierung ist nicht sonderlich daran interessiert, daß mit derartigen Gestalten "künftig kurzer Prozeß" gemacht wird, wie es CSU-Chef Edmund Stoiber vollmundig ausdrückte. Stoiber kündigte an, daß er den Kompromiß nur unterschreibe werde, wenn "Haßprediger" wie Kaplan künftig ausgewiesen werden könnten. Daraufhin sprach die SPD-Innenpolitikerin Cornelie Sonntag-Wolgast von "Fahrlässigkeit" und "Drohgebärden".

Zuwanderungslobbyisten wie die Bündnisgrüne Marieluise Beck wollen selbst "geduldeten Flüchtlingen", sprich Ausländern, die eigentlich längst abgeschoben gehörten, ein Aufenthaltsrecht zuerkennen. Sie hätten sich "faktisch integriert", behauptet Beck. Das Rechtsverständnis, das Beck hier an den Tag legt, ist bezeichnend: Ausländer, die sich einen Aufenthalt in Deutschland erschlichen haben, sollen dafür auch noch mit einem Aufenthaltsrecht belohnt werden.

Bezeichnend ist, daß maßgebliche Kreise in Deutschland den Weg zum "Einwanderungsland" in dem Moment zementieren wollen, in dem zum Beispiel im "klassischen Einwanderungsland" USA gegenläufige Tendenzen sichtbar werden. Selbst liberale Amerikaner wie der Politologe Arthur M. Schlesinger haben inzwischen zugestanden, daß der pluralistische Glaube ein Luxus war, den sich Amerika leisten konnte, solange die angelsächsische Kulturhegemonie allgemein anerkannt war. Mehr denn je stehen die USA heute vor der immer schwieriger zu lösenden Aufgabe, wie aus dem Vielen eine Einheit gemacht werden kann.

Der Weg vom melting pot zur salad bowl sei gescheitert, stellte Schlesinger 1998 in seinem programmatischen Buch "The Disuniting of America. Reflections on a Multicultural Society" fest. Neue Zuwanderer pflegen ihre ethnische Herkunft als Abgrenzung und konstruieren Kollektividentitäten, die Integration verhindern. Diese Phänomene sind mehr oder weniger in allen Einwanderungsländern erkennbar. Dennoch soll jetzt in Deutschland genau dieser Weg beschritten werden.

Foto: Türkisches Fest vor dem Brandenburger Tor in Berlin: Ethnische Herkunft wird zur Abgrenzung gepflegt


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