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27/04 25. Juni 2004
Zurück zu den Quellen Was gibt es bei Hitler überhaupt noch zu forschen? Ist nicht bereits alles über ihn gesagt oder gar zuviel? Wo endet das Forschungsergebnis, und wo beginnt die Dichtung, die Halbwahrheit, die Legende oder gar die Fälschung? Maser schreibt in seinem Vorwort, daß der Historiker, der nicht allein der Wahrheit verpflichtet sei, sich und seine Zunft beschädige. Man sollte meinen, daß der genannte Anspruch selbstverständlich sei. Doch bei genauem Hinsehen wird ersichtlich, daß das Ethos vieler Historiker heute nicht in der Wahrheitssuche, sondern im Verkünden neuer Thesen und billigen Urteilen aufgeht. Suche nach neuen Quellen, Auswertung und Interpretation, Vergleich mit dem aktuellen Forschungsstand oder gar eine naheliegende Korrektur des Geschichtsbildes? Wozu denn diese Mühe? Wozu nach neuen Quellen suchen, wenn doch schon alles über das Dritte Reich gesagt ist? Das haben doch andere längst besorgt, oder nicht? Unter dem Aspekt der Beschädigung müßte der Zeitgenosse vor einer riesigen Ruine stehen, dem schwer lädierten Haus der Historie, das einzustürzen droht. Doch selbst jemand, der einen guten Einblick in die Überfülle an Gedrucktem über das Dritte Reich, Hitler und Stalin besitzt, tut sich schwer, seriöse Forschung von Legendenbildung zu unterscheiden. Interpretation und schwungvolle Deutung steht im Mittelpunkt, nicht Quellenforschung. Dazu kommt der moralische Anspruch, aus der scheinbar überlegenen Sicht der Nachwelt Urteile zu fällen, ohne gründliche Sachkenntnisse erworben zu haben. Man wird an die treffende Frage erinnert: "Wie oft wird Hitler noch besiegt?" Maser bedient sich seines reichen Wissens über die Biographie Hitlers, um anhand von zahlreichen Details eine inzwischen produzierte Legende nach der anderen bloßzustellen. Es handelt sich um Behauptungen, die oft in effekthascherischer Manier erhoben wurden, um die Neugier eines bestimmten Publikums zu befriedigen. Darunter fallen: Hitler als Milliardär, Hitler als Judensproß, Hitler als Homosexueller, Hitler als Liebhaber seiner Nichte Geli Raubal, Hitler und sein "Alräunchen", Hermann Rauschnings frei erfundene "Gespräche mit Hitler". Die vielleicht bekannteste Fälschung bestand in den angeblich von einem Stern-Reporter 1983 entdeckten Tagebüchern Hitlers, auf die sogar ein so prominenter Historiker wie Gerhard L. Weinberg hereinfiel. Indem Maser alle diese Legenden widerlegt, erfährt der Leser zahlreiche Details, die eine ausgewogene Abschätzung der Persönlichkeit Hitlers erlauben. Schon namhafte Zeitgenossen wie Carl von Ossietzky haben frühzeitig die Licht- und Schattenseiten des Diktators beschrieben, ohne in eine Schwarzweiß-Malerei zu verfallen. Maser präsentiert somit zahlreiche Facetten, die es erlauben, dem "Menschen Hitler" auf die Spur zu kommen. Das hat nichts mit Verharmlosung zu tun, sondern mit Faktenkenntnis. Man gewinnt den Eindruck, daß selbst scharfe zeitgenössische Gegner des Nationalsozialismus die Person Hitlers mit mehr Einsicht beurteilt haben, als es heutzutage der Fall ist. Auch der psychoanalytische Ansatz, wie ihn etwa Erich Fromm verfolgte, blendet Tatsachen aus, die nicht in das gewählte Schema passen. So war der junge Hitler in seiner Wiener Zeit keineswegs ein mittelloser, "schmarotzender Taugenichts", sondern verfolgte ernsthaft seine Berufspläne. Der "Männerheimschläfer" war sogar Gast in vornehmen Häusern. Eine zusätzliche Dimension gewinnt das Buch durch den Vergleich zwischen Hitler und Stalin und die Interpretation des deutsch-sowjetischen Krieges ab dem 22. Juni 1941. Maser stellt unter anderem das Geschenk Stalins an Hitler anläßlich des Staatsbesuches von Molotow in Berlin im November 1940 vor. Es handelt sich um ein russisches Gemälde aus der Eremitage, das ein Thema aus dem apokryphen Buch "Tobit" aufgreift: Der junge Tobias heilt seinen erblindeten alten Vater Tobit. Damit wurde eine mehr als deutliche Anspielung auf die Führerrolle Stalins gegenüber dem "sehend" gewordenen Hitler gemacht. Daß die hochgesteckten Forderungen Molotows eine wichtige Weichenstellung von der bisherigen Partnerschaft hin zur militärischen Konfrontation bewirkten, kann als gesichert gelten. Doch erst die Kenntnis des von Molotow überreichten Gemäldes mit seiner hintergründigen Botschaft läßt einen Schluß auf die Reaktion Hitlers zu: Statt Unterwerfung wählte er die Offensive. Großen Raum nehmen die sowjetischen Kriegsvorbereitungen 1940/41 ein. Maser greift auf seine Aussagen aus dem "Wortbruch" (1994) zurück und ergänzt sie. Er belegt nicht nur die Täterschaft Stalins und Berijas am Massenmord an den polnischen Offizieren und Polizisten im Wald von Katyn im Frühjahr 1940, sondern verweist auf sowjetische Dokumente, die eine Zahl von 21.857 Ermordeten bezeugen. Damit wird die bisher angenommene Zahl von etwa 4.000 bis 5.000 Opfern dramatisch nach oben korrigiert. Maser stellt dann den sowjetischen Kriegsplan vor, wie er von Wassiljewskij ausgearbeitet und von Schukow und Timoschenko am 15. Mai 1941 Stalin mit der Bitte um Genehmigung übergeben worden ist. Entgegen der manchmal anzutreffenden Behauptung, daß Stalin dieses Papier nicht zur Kenntnis genommen habe, findet sich darauf sein Monogramm (J. St.). Entscheidend für die Beweisführung ist aber etwas anderes: Schukow hätte nie gewagt, unmittelbar darauf Aufmarschanweisungen an die vier westlichen Militärbezirke bis zur letzten Division zu erlassen, wenn er nicht das Einverständnis Stalins gehabt hätte. Nebenbei gesagt enthielten diese Weisungen mehrfach den Befehl, sich nach Beendigung des Aufmarsches für Angriffsschläge bereitzuhalten, waren also keineswegs defensiv ausgerichtet. Maser bricht auch eine Lanze für das Verhalten von Generaloberst Paulus nach der Einschließung der 6. Armee bei Stalingrad nach dem 19. November 1942. Der des öfteren als schwach und zaudernd hingestellte General handelte durchaus der Lage entsprechend, nachdem ihm Hitler die Luftversorgung und den baldigen Entsatz in Aussicht gestellt hatte. Für diesen Entschluß trugen aber in erster Linie Feldmarschall von Manstein und Generaloberst Jeschonnek, der Generalstabschef der Luftwaffe, die Mitverantwortung. Der hochgeschätzte Manstein, der die deutsch-rumänischen Truppen im Großraum Stalingrad befehligte, hatte Hitler am 24. November versichert, daß ein Entsatzangriff unter bestimmten Bedingungen Erfolg verspräche; Jeschonnek hatte die Luftversorgung der 6. Armee mit ausreichenden Mengen, wenn auch mit Einschränkungen, für durchführbar bezeichnet. Da Paulus die große Lage nur oberflächlich kannte, erschien es ihm unverantwortlich, den Befehl zum frühzeitigen Ausbruch der 6. Armee zu geben, der auf jeden Fall ein großes Risiko bedeutete. Selbst wenn der Ausbruch nach Westen geglückt wäre, hätte dies die Nordflanke der beiden deutschen Armeen, die tief im Süden im Kaukasus standen, entblößt. Wenn die sowjetische Führung nur halbwegs geschickt handelte, wären diese Armeen mit hoher Wahrscheinlichkeit abgeschnitten und aufgerieben worden. Das Ausharren der 6. Armee bei Stalingrad, so grausam das Los der Eingeschlossenen auch war, band immerhin sieben sowjetische Armeen mehr als zwei Monate lang. Dies ermöglichte letztlich den Rückzug der deutschen Truppen aus dem Kaukasus. Des weiteren begibt sich Maser, indem er Legenden im weiteren Zusammenhang mit dem Judenmord aufdeckt, auf ein mehr als heikles Terrain. Schließlich folgt eine Generalabrechnung mit Guido Knopp, dessen Filme zum Dritten Reich ins Reich der Geschichtsklitterung verwiesen werden. Insgesamt gesehen leistet Maser ein großes Stück Aufklärungsarbeit durch profunde Kenntnis der Quellen und Details. Es sind oft sehr spannende Details, was aber auch heißt, daß man es mit dem Teufel zu tun bekommt, der bekanntlich in ihnen steckt. Werner Maser: Fälschung, Dichtung und Wahrheit über Hitler und Stalin. Olzog Verlag, München 2004, 478 Seiten, Abbildungen, gebunden, 34 Euro
Dr. Heinz Magenheimer ist Historiker und lehrt an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg. Seine Schwerpunkte sind Geopolitik und Militärgeschichte. Seine bekanntesten Publikationen sind "Kriegswende in Europa 1939-1945", München 1995, und "Die Militärstrategie Deutschlands 1940-1945", München 1997. Bild: Röntgenaufnahme von Hitlers Kopf nach dem 20.Juli-Attentat: "Wie oft wird Hitler noch besiegt?" |