© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/04 02. Juli 2004

Frontalangriff auf die liturgische Verinnerlichung
Erinnerungskultur: Der Unionsvorstoß für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen beruft sich auf einen antitotalitären Konsens, den es längst nicht mehr gibt
Doris Neujahr

Der Antrag für ein "integrales Gedenkstättenkonzept", den CDU und CSU in den Bundestag eingebracht haben, zielt tendenziell in die richtige Richtung. Danach soll der Bund ausgewählte Gedenkstätten von nationaler Bedeutung in seine Obhut und zugleich auch ihre Finanzierung übernehmen. Neben den Gedenkstätten für NS-Opfer werden auch jene dazu gerechnet, die an die Gewaltherrschaft der Sowjets, an die SED-Diktatur und an die deutsche Teilung erinnern. In der Begründung wird zudem gefordert, auch der Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung zu gedenken.

Am Abend des 17. Juni fand dazu im Plenum eine erste, halbstündige Debatte statt. Der Antrag wurde vom CDU-Abgeordneten Günter Nooke eingebracht. Nooke, der der DDR-Bürgerrechtsbewegung entstammt, beklagt schon seit Jahren, daß die Erinnerung an die zweite deutsche Diktatur im bundesdeutschen Gedenkdiskurs als eine regionale bzw. sekundäre Angelegenheit abgetan wird. Ähnliches gilt für die deutschen Kriegs- und Vertreibungsopfer. Es stimmt erst einmal hoffnungsvoll, daß die Unionsfraktion sich seinen Bemühungen angeschlossen hat, eine Änderung herbeizuführen. Vielleicht haben CDU und CSU begriffen, daß es nicht ausreicht, 2006 die Bundestagswahlen zu gewinnen. Um erfolgreich zu regieren, brauchen sie ein gesellschaftspolitisches Gesamtkonzept, das in Deutschland aus einsichtigen Gründen unmittelbar an die Deutung der Vergangenheit gekoppelt ist.

An einen Erfolg des Antrags glaubt die Union natürlich selber nicht. Dafür fehlt es, erstens, an einer parlamentarischen Mehrheit. Neben Rot-Grün hat sich auch die FDP dagegen ausgesprochen. Ihr kulturpolitischer Sprecher, Hans-Joachim Otto, äußerte gleich im ersten Satz seine "Betroffenheit" über den Unionsantrag. Vom politischen Liberalismus in Deutschland ist außer dem Kampf für die Privatisierung der Krankenversicherung und historischer "Betroffenheit" nicht mehr viel übrig. Der parlamentarische Widerstand könnte 2006 allerdings gebrochen werden, falls die Union die absolute Mehrheit erringt.

Der Antrag hat aber einige weitere Makel. Er atmet, zweitens, den Geist der Bürokratie und Staatsgläubigkeit. Kein Parlamentsbeschluß, kein staatlicher Voluntarismus ist in der Lage, eine über dreißigjährige gesellschaftliche Fehlentwicklung zu stoppen oder gar rückgängig machen. Der Antrag beruft sich auf Voraussetzungen, die längst nicht mehr existieren. Die Union hat in der Vergangenheit zuviel geschichtspolitisches Terrain geräumt, um jetzt aus dem Stand in die Offensive gehen zu können. Ihre Schwäche spiegelt sich, drittens, unmittelbar im Gesetzestext wider. Er ist derart widersprüchlich und inkonsequent, daß man nicht glaubwürdig für ihn kämpfen kann.

Eine erste Fassung war nach Kritik zurückgezogen worden

Die einseitige Gedenkkultur in Deutschland, gegen die der Antrag zielt, hat sich sukzessive nach 1968 herausgebildet. Den "antitotalitären Konsens", auf den das Unionskonzept sich beruft, gibt es längst nicht mehr. Der einseitige "Antifaschismus", gegen den es sich ausspricht, ist schon bis weit in das Unionslager hinein bestimmend. Er äußert sich nicht zuletzt in der Schändung, Zerstörung und Beseitigung von Denkmälern für deutsche Opfer.

Wer auf einer Gedenkveranstaltung für den Terrorangriff auf Dresden 1945 "Do ist again, Bomber Harris!" skandiert, kann mit der Duldung von Behörden und Justiz und der Zustimmung der Presse rechnen. Daß Deutschland bis heute außerstande ist, des Verlustes von einem Viertel seines staatlichen Territoriums und der Vertreibung von rund 15 Millionen Deutschen würdig zu gedenken, ist ein weiteres Symptom für das neurotische und amoralische Klima in dieser Gesellschaft.

Bei dem Entwurf handelt es sich um eine korrigierte Fassung. Eine erste war Anfang des Jahres nach massiver Kritik unter anderem des Zentralrats der Juden in Deutschland zurückgezogen worden. Dieser hatte die "Gleichsetzung" der braunen und der roten Diktatur moniert. Die Union hat deshalb in der Präambel einen Satz eingefügt: "Das nationalsozialistische Regime hat mit dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden ein singuläres Verbrechen begangen, das immer ein spezielles Gedenken erfordern wird." Wenig später heißt es aber: "Der Umgang mit der 'doppelten Vergangenheit' bildet eine besondere Herausforderung."

Zwischen beiden Sätzen besteht ein Widerspruch. Der Begriff "doppelte Vergangenheit" setzt die prinzipielle Gleichwertigkeit beider Elemente voraus. Wenn das eine aber "singulär" sein soll, kann ihm nichts Gleichwertiges zur Seite gestellt werden. Insofern führt auch die Bezeichnung "integratives Gedenkstättenkonzept" in die Irre. Wer die Opfer der NS-Diktatur als "singulär" ansieht, kann alle anderen Opfer: die der SED-Diktatur, der Bomben, der Vertreibung, der russischen Massaker usw. konsequenterweise nur als nachgeordnet anerkennen. Auch die Bundestagsdebatte litt unter diesem Widerspruch: Die Sprecher von Rot-Grün warfen der Union vor, die "Singularität" der NS-Diktatur zu bestreiten, Vertreter der Union bestritten dies empört.

So kann man keine geschichtspolitische Auseinandersetzung gewinnen. Die Union ist nicht mehr in der Lage, ihre Positionen intellektuell zu unterfüttern. Der Bundestag, wenn er um die "deutsche Vergangenheit" streitet, gleicht dem "Narrenschiff" Sebastian Brants (1494). Die Redner handeln nach dem Motto: "Im Narrentanz voran ich geh, / Weil ich viel Bücher um mich seh, / Die ich nit les und nit versteh."

Den nichtgelesenen Büchern Brants entsprechen die hehren, aber unreflektierten Begriffe. Einer davon lautet "Singularität" bzw. "Einzigartigkeit". Er besagt, daß das NS-System aus allen menschlichen Verstehenszusammenhängen herausfällt. Für Norman Finkelstein dagegen bedeutet er lediglich ein intellektuelles Armutszeugnis. Ihm kommt kein wissenschaftlicher Erkenntniswert zu, sondern er ist ein zum Tabu geronnenes politisches Glaubensbekenntnis, das sich erst mit dem "Historikerstreit" von 1986/87 durchgesetzt hat.

Die bisher umfassendste Untersuchung dazu hat Steffen Kailitz, ein Schüler des Chemnitzer Zeitgeschichtlers Eckard Jesse, in seinem Buch "Die politische Deutungsmacht im Spiegel des 'Historikerstreits'" (Wiesbaden 2001) vorgelegt. Kailitz stellt unmißverständlich fest: "Eine Form der Tabuisierung von Kritik ist die Immunisierung bestimmter Thesen. Grundlage ist wiederum die Ansicht, die Infragestellung der Deutung sei politisch gefährlich. Als Tabus innerhalb der Diskussion erwiesen sich die Negierung der Westbindung, die Ablehnung der Einzigartigkeitsthese und die Vertretung von Noltes These, die deutschen Verbrechen seien auch eine Reaktion auf die sowjetischen. Nur linke Demokraten waren - wegen ihrer zahlenmäßigen, nicht ihrer argumentativen Überlegenheit - in der Lage, Tabus durchzusetzen. Das linksdemokratische Spektrum ist daher als Inhaber der politisch-kulturellen Hegemonie in der Bundesrepublik anzusehen." (Herv. im Orig.)

Dieser Hegemonie hatte auch Helmut Kohl sich schnell gebeugt. In der veröffentlichten Meinung wurde eine "Schweigespirale" (Elisabeth Noelle-Neumann) in Gang gesetzt, die bis heute wirksam ist. Die Anhänger einer Meinung werden nämlich schweigsam und vorsichtig, wenn ihnen das Gefühl vermittelt wird, sie seien gesellschaftlich in der Minderheit. Dadurch verstärkt sich der Eindruck der Schwäche, was die Zurückhaltung potenziert. Das Ergebnis ist der Untergang dieses Meinungslagers. Die Vorherrschaft eines Deutungsmusters ist erreicht, wenn Alternativen nicht geäußert werden können, ohne daß Sanktionen zu befürchten sind. Selbst eine numerische Überzahl ändert nichts an der öffentlichen und politischen Machtlosigkeit. In dieser Situation befindet sich die Union. Das hat Günter Nooke instinktiv erfaßt, als er auf das Argument der grünen Abgeordneten Claudia Roth, "alle" relevanten Kräfte lehnten das Unionskonzept ab, rief: "Sie haben Diktatur nicht erlebt. Wenn sich alle einig sind, bedeutet das nicht, daß alle recht haben." Womit er implizit ausdrückte: Eine Meinungsdiktatur haben wir in Deutschland bereits!

Die Deutungsmacht linker Intellektueller ist - so Kailitiz weiter - "keineswegs nur eine symbolische Macht. Dem Druck der linksdemokratischen politischen Hegemonie mußte sich auf dem Feld der Geschichtspolitik auch die rechtsdemokratische Parlamentsmehrheit beugen. Kein Politiker von Rang würde angesichts dieser Erfahrungen öffentlich die These der Einzigartigkeit des Genozids an den Juden explizit ablehnen oder umgekehrt der These Noltes zustimmen, der Archipel GULag sei ursprünglicher als Auschwitz."

Es geht dabei nicht um Wissenschaft, nicht um historische Wahrheit und auch nicht um Opfergerechtigkeit, sondern, wie der Frankfurter Volkspädagoge Micha Brumlik offen einräumt, um ein "symbolisch liturgisches Gedächtnis", um die "liturgische Verinnerlichung" im "kollektiven Gedächtnis". Das "Tätervolk" soll sich jeden Tag vergegenwärtigen, daß es ein Tätervolk ist! Der Antrag der Union, würde er umgesetzt, liefe auf einen Frontalangriff gegen diese Liturgie hinaus. Darüber müssen CDU/CSU sich im klaren sein.

Die Deutschen sind als "Tätervolk" festgeschrieben

Und es sind längst nicht mehr nur innenpolitische Widerstände zu überwinden. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum hat die Union aufgefordert, ihr Konzept zurückzuziehen, weil es "die Opfer des Nationalsozialismus und des Kommunismus auf eine Stufe" stelle. Sein Leiter Efraim Zuroff erklärte: "Der Wunsch nach Gleichsetzung des Gedenkens bedeutet eine Gleichsetzung der Verbrechen und der Opfer, welche nicht den historischen Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts entspricht." Dies sei ein "Schritt zur teilweisen Leugnung des Holocaust". Das ist nur eine Äußerung unter vielen. Die aufgeschreckte CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat umgehend mit dem Jüdischen Weltkongreß telefoniert und den früheren Ministerpräsidenten Bernhard Vogel als Emissär vorgeschlagen.

Es ist vollbracht: Nachdem die habermastrunkenen "Eliten" die Deutschen über Jahrzehnte als symbolisches "Tätervolk" denunziert haben, sind sie als solches global festgeschrieben. Aus dieser Symbolik folgt eine politische und finanzielle Fügsamkeit. Deutschland hat sich lange Jahre in der Rolle des dummen August und weltweiten Zahlmeisters gefallen. Aus der Sicht der Nutznießer ist gar nicht einzusehen, warum man es jetzt aus dieser Stellung entlassen sollte!

Diese Widerstände lassen sich nicht ignorieren, man kann aber, in einer ersten Phase, eine widerständige, couragierte Haltung dazu entwickeln. Wenn man sich jedoch die stromlinienförmigen Biographien der meisten Unionsabgeordneten ansieht, weiß man, daß sie nicht die Kraft haben, dem jetzt aufkommenden Gegenwind zu trotzen.

Für die Zukunft würde es schon reichen, wenn die Union dort, wo sie regiert, sich an die Gesetze hält und Meinungs-, Wissenschafts- und Gedankenfreiheit garantiert, anstatt denjenigen, die diese Rechte in Anspruch nehmen, zusätzlich in den Rücken zu fallen. Dann käme ganz schnell eine Entwicklung in Gang, an deren Ende ein ganzheitliches Geschichtsbewußtsein, eine Gerechtigkeit für alle Opfer und eine kulturelle Hegemonie der anderen Art steht. Dann braucht es überhaupt kein spezielles, hyperbürokratische Gedenkstättengesetz mehr, weil das Gedenken sich von selbst versteht.

Foto: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Es geht nicht um Wissenschaft, nicht um historische Wahrheit und auch nicht um Opfergerechtigkeit, Gefängniszelle in Berlin-Hohenschönhausen: Neurotisches Klima

 

Orte der Erinnerung

- Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stauffenbergstr. 13/14, 10785 Berlin

- Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Heinrich-Grüber-Platz 1, 16515 Oranienburg

- Gedenkstätte Buchenwald, 99427 Weimar-Buchenwald

- Gedenkstätte Mittelbau-Dora, Kohnsteinweg 20, 99734 Nordhausen

- Stiftung Gedenkstätte Hohenschönhausen, Genslerstr. 66, 13055 Berlin

- Forschungs- und Gedenkstätte Normannestraße, Normannestr. 22, 10365 Berlin

- Gedenkstätte Bautzen, Weigangstr. 8a, 02625 Bautzen

- Geschlossener Jugendwerkhof Torgau, Fischerdörfchen 15, 04860 Torgau

- Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Marienfelder Allee 66-80, 12277 Berlin

- Gedenkstätte und Dokumentationszentrum Berliner Mauer, Bernauer Str. 11, 13355 Berlin

- Deutsch-deutsches Museum Mödlareuth, Mödlareuth 13, 95183 Töpen


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