© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/04 09. Juli 2004

50-Stunden-Woche
Die Kapitäne sind ratlos
Andreas Wild

Gerade hat sich die Öffentlichkeit an den Gedanken gewöhnt, daß die Deutschen künftig wieder vierzig Stunden pro Woche werden arbeiten müssen, da bringen Wirtschaftsexperten schon die Fünfzig-Stunden-Woche aufs Tapet. Es gibt in der Diskussion um die Arbeitszeit offenbar kein Halten mehr, und das ist lediglich Ausdruck für die wirkliche Situation, die im Lande herrscht.

Aus Furcht, andernfalls den Arbeitsplatz zu verlieren, rabotten unzählige Arbeitnehmer bereits jetzt faktisch rund um die Uhr, wenn es "die Auftragslage erfordert". Sie können über die verbalen Scheingefechte der Expertenrunden in den Medien nur verächtlich lachen. Die Lage ist längst "frühkapitalistisch", es gibt faktisch keine allgemeine, staatlich fixierte Arbeitszeit-Regelung mehr, vielmehr ist ein Grad von "Flexibilität" erreicht, der an sich jedes neoliberale Herz höher schlagen lassen müßte.

Dennoch hat sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht verbessert. Die soeben veröffentlichten Zahlen signalisieren im Gegenteil, daß heuer nicht einmal von einer "saisonbedingten Entspannung" während des Sommers die Rede sein kann. Trotz aller neuen Bilanzierungstricks liegen die offiziellen Arbeitslosen-Zahlen nach wie vor weit über vier Millionen, und Kenner rechnen mit real sechs bis sieben Millionen Erwerbsuchenden zur Zeit in Deutschland.

Die von der rot-grünen Regierung betriebene "neoliberale Öffnung" ist voll gescheitert. Die Arbeitszeit der in Lohn und Brot Stehenden steigt und steigt, aber gleichzeitig erhöhen sich die Arbeitslosenzahlen. Keine der in den Medien wie saures Bier herumgereichten Theorien vermag diese Konstellation aufzuhellen, geschweige denn, daß die aus den Theorien abgeleiteten Rezepte für Besserung sorgten. Nun rächt sich die willentliche Ausblendung aller nationalen und regionalen Gesichtspunkte aus der Wirtschaftspolitik hierzulande, das blinde Herumreiten auf einigen wenigen (Schein-)Argumenten, denen zufolge man sich einzig nach dem international jeweils billigsten Anbieter der Ware Arbeitskraft zu richten habe, weil die "Globalisierung" angeblich keine Alternativen zulasse.

Daß die Gewerkschaften so jämmerlich dastehen, daß sie weder für Mehrarbeiter noch für Arbeitslose als ernst zu nehmende Ansprechpartner in Frage kommen, ist ein weiterer beklemmender Aspekt der Misere. Eigentlich müßten die Gewerkschaften jetzt mit dem ganzen Pathos ihres traditionellen Anspruchs, leidenschaftliche Interessenvertreter der Arbeitnehmer zu sein, in den Betrieben und in der Öffentlichkeit agieren, mit überzeugenden Konzepten und Strategien aufwarten. Doch davon kann keine Rede sein.

Es gibt keine Gewerkschafts-Theoretiker mehr, und es gibt keine herausragenden Kapitäne mehr, schon gar keine mit nationaler Ausstrahlung. Das Schiff fährt in die falsche Richtung und hat zudem schwere Schlagseite. Da hilft auch keine Fünfzig-Stunden-Woche. Die Crew muß ausgewechselt werden, in den Partei- wie in den Gewerkschaftsbüros.


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