© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/04 09. Juli 2004

"Hartz IV reicht nicht"
Der Arbeitsrechtler Werner Scherer über die Unzulänglichkeit der Arbeitsmarktreformen
Jörg Fischer / Moritz Schwarz

Herr Dr. Scherer, letzten Freitag hat der Bundestag das sogenannte Hartz-IV-Gesetz beschlossen - die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer neuen einheitlichen Grundsicherung. Warum reichen Ihnen die darin enthaltenen Maßnahmen nicht aus?

Scherer: Schon deshalb, weil die Trägerschaft und Hauptverantwortung nicht den Kommunen, sondern der ohnehin schon überforderten Bundesagentur für Arbeit (BA) übertragen wurde. Natürlich wird Hartz IV für eine gewisse Bewegung in puncto Beschäftigung sorgen, doch für die "Wende am Arbeitsmarkt", von der Wirtschaftsminister Clement spricht, reicht das neue Gesetz in der Tat noch lange nicht aus.

Die Regierung verspricht durch Hartz IV 400.000 Menschen wieder in ein Arbeitsverhältnis zu bringen.

Scherer: Es sind immer noch die Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, nicht die Regierung und auch nicht die Bundesagentur für Arbeit. Die BA kann ihre Effizienz bei der Vermittlung bereits vorhandener Arbeitsplätzen verbessern, entscheidend aber ist, daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Es geht Ihnen also um die Lohnnebenkosten?

Scherer: Eben, es reicht nicht. Die Lohnnebenkosten bleiben von Hartz IV unberührt - vor allem da aber muß etwas passieren! Die Politik muß Rahmenbedingungen schaffen, die Unternehmer wieder zu Investitionen anreizen: Lohnnebenkosten runter, Steuerlast erleichtern, bürokratische Hemmnisse - Stichwort Kündigungsschutz - abbauen und endlich wieder Verläßlichkeit herstellen.

Durch Hartz IV werden ab Anfang nächsten Jahres 2,3 Millionen Langzeitarbeitslose zum Teil drastische finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Sozialverbände wie etwa der Arbeitslosenverband Deutschland (ALV) warnen vor dramatischen Folgen.

Scherer: Wir müssen uns wieder klarmachen, daß es sich bei der Arbeitslosenhilfe um eine Fürsorgeleistung - also um eine Leistung für Bedürftige, finanziert aus Steuermitteln - handelt. Diese Tatsache haben wir in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten ignoriert: Fürsorgeleistungen sind an Bedürftigkeit gekoppelt!

Der stellvertretende Vorsitzende des ALV, Rüdiger Mikeska, warnt im Interview mit dieser Zeitung (siehe unten), diese Argumentation klinge "in der Theorie sozial vertretbar", könne aber "in der Praxis ziemlich häßlich sein". Ein Beispiel: Ein 55jähriger unverschuldet arbeitsloser Industriemeister, der 40 Jahre lang gearbeitet hat und nie arbeitslos war, muß nun nach einem Jahr seine finanziellen Verhältnisse offenbaren: Dummerweise hat er ein Zweifamilienhaus als Altersvorsorge, 150 Quadratmeter Wohnfläche, Lebensversicherung - alles muß nun "unter den Hammer".

Scherer: Ich gebe zu, daß es dabei in Einzelfällen natürlich auch zu Härten kommen kann - ich betone aber: nur in Grenzfällen. Das ist bei einer solch umfangreichen Reform kaum zu vermeiden.

Gehen Sie nicht ein bißchen leichtfertig über solche "Einzelfälle" hinweg? Der 55jährige hat schließlich keinerlei Chance mehr, denn in diesem Alter stellt ihn niemand mehr ein!

Scherer: Deshalb müssen wir dafür werben, daß die Unternehmen in Deutschland wieder den Wert älterer, aber erfahrener Arbeitskräfte zu schätzen lernen. Notfalls müssen staatliche Anreize geschaffen werden, wie das auch schon passiert. Es wird diesbezüglich in Zukunft bestimmt ein Wandel einsetzen, aber natürlich nicht von heute auf morgen. Im übrigen kennt auch Hartz IV Freibeträge für Vermögen bis 13.000 Euro, Lebensversicherungen, die Riester-Rente, Hausrat und Kraftfahrzeug. All das ist aber nicht neu, sondern schon bisher geltendes Recht. Grundsätzlich aber führt kein Weg daran vorbei, von der Versorgungsmentalität, die wir bislang mit dem Instrument der Arbeitslosenhilfe verbunden haben, Abschied zu nehmen. Es kann nicht oft genug betont werden: Arbeitslosenhilfe - das künftige Arbeitslosengeld II - bedeutet die staatliche Leistung dessen, was man braucht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, nicht um den Lebensstandard, den man hatte, aufrechtzuerhalten. Arbeitslosenhilfe ist wie Sozialhilfe zu betrachten - deshalb ist es gut, daß wir nun beide Fürsorgesysteme synchronisieren.

Speziell die Pflicht zum Kündigen von Renten- und Lebensversicherungen über 13.000 Euro scheint aber problematisch. Einerseits droht den Betroffenen nun Altersarmut. Andererseits werden junge Menschen abgeschreckt, privat fürs Alter vorzusorgen - denn bei Arbeitslosigkeit ist fast alles weg.

Scherer: Das ist in der Tat ein kritischer Punkt. Ich will diese absolute Zahl deshalb auch gar nicht verteidigen - wie hoch dieser Betrag ist, muß die Politik entscheiden. Man muß sich jedoch im klaren darüber sein, daß wir irgendeinen Grenzwert festlegen müssen. Denn wenn wir den Fürsorgecharakter des Ar-beitslosengeldes wieder sichtbar machen wollen, können wir die Altervorsorge nicht in un-begrenzter Höhe für anrechnungsfrei erklären.

Arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger stehen dagegen unter Umständen besser da - ihr Transfereinkommen steigt um etwa 15 Prozent. Eine Familie mit drei Kindern erhält dann inklusive Miete etwa 2.000 Euro monatlich plus Sozialversicherung . Andererseits wird ein "Niedriglohnsektor" propagiert - dort Beschäftigte können von 2.000 Euro nur träumen. Wie paßt das zusammen?

Scherer: Das paßt natürlich gar nicht zusammen - es handelt sich dabei eben nicht um eine ökonomisch vernünftige, sondern um eine politische Entscheidung. Zwischen Niedriglohn und Sozialhilfe muß unbedingt wieder ein deutlich sichtbarer Abstand geschaffen werden - das ist ganz wichtig!

Die Gewerkschaften wollen Niedriglohnempfänger durch einen gesetzlichen Mindestlohn schützen. Nicht nur in den USA, auch in einigen EU-Ländern gibt es ihn bereits.

Scherer: Mindestlöhne bedeuten einen eindeutigen Verstoß gegen die Tarifautonomie, die bei uns bekanntlich verfassungsrechtlich geschützt ist. Zudem hat gerade die "Lohnsockelei" der Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, daß die Unternehmen im Niedriglohnsektor stark rationalisiert haben und dort heute die Arbeitsplätze fehlen.

Ist also Hartz IV nur Stückwerk, muß ein "Bürgergeld" her, wie es die FDP fordert?

Scherer: Beim Modell "Bürgergeld" hat bisher niemand die Finanzierbarkeit dargelegt und nachgewiesen. Bevor das nicht geschehen ist, ist es müßig, darüber zu diskutieren. Es hilft alles nichts, an erster Stelle muß die Debatte um Reformen in der Wirtschaftspolitik stehen. Denn es gilt immer noch der Grundsatz: Eine gute Wirtschaftspolitik ist die halbe Miete für eine tragfähige Sozialpolitik.

 

Dr. Werner Scherer: Der 54jährige Jurist für Arbeits- und Sozialrecht ist seit 1993 Geschäftsführer der Abteilung Arbeitsmarkt und Sozialpolitik der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e.V., einem Trägerverein der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA).

 

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