© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/04 09. Juli 2004

Schlüssel zum Systemwechsel?
Sozialpolitik: Die Zahl der Leistungsempfänger wird trotz Hartz IV weiter ansteigen / Die wachsende Unzufriedenheit könnte die kleinen Parteien stärken
Paul Rosen

Es ist wenig übriggeblieben von den Hartz-Reformen, mit denen Bundeskanzler Gerhard Schröder monatelang durch die Lande tingelte. Als letztes der Hartz-Projekte kam jetzt die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe durch die parlamentarischen Gremien. Sie könnte tiefgreifende Veränderungen in Gesellschaft und Politik auslösen.

Schon schwärmt Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) von einer "Zeitenwende auf dem Arbeitsmarkt". Allein die bessere Vermittlung könne die Arbeitslosigkeit um 15 bis 20 Prozent senken. Der Pferdefuß ist unübersehbar: Es gibt zu wenig offene Stellen, so daß die Clement-Prognose mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eintreffen wird.

Unter den parlamentarischen Parteien hat sich seither die Auffassung festgesetzt, daß die hohe Arbeitslosigkeit in erste Linie ein Problem der schlechten Vermittlung ist. Von Reisen kamen Politiker wie der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) mit leuchtenden Augen zurück. Koch hatte im US-Bundesstaat Wisconsin Projekte gesehen, wo Empfänger staatlicher Sozialleistungen gezielt wieder in den Arbeitsmarkt gebracht wurden - durch gute Betreuung und Überwachung.

Wisconsin-Modell als Wahlkampfschlager

Ehe das Wisconsin-Modell zum Wahlkampfschlager der bürgerlichen Parteien werden konnte, konterte Rot-Grün mit den Hartz-Reformen. Einig war man sich aber von vornherein in der Zielsetzung, daß die kommunale Sozialhilfe mit der von der Bundesagentur für Arbeit gezahlten Arbeitslosenhilfe zu einem neuen Arbeitslosengeld II (ALG II) zusammengelegt werden soll.

Die Überlegungen von CDU-Chefin Angela Merkel und ihrer Führung sind offenkundig: Hätte man Hartz IV blockiert, hätte die Bundesregierung der Opposition die Verantwortung für die weiter hohe Arbeitslosigkeit zuweisen können. Das wollte Merkel nicht. Außerdem ist es ihr nur recht, wenn diese Bundesregierung unpopuläre Kürzungsmaßnahmen durchsetzt. Denn das, was Gerhard Schröder jetzt regelt, braucht eine Kanzlerin Merkel 2006 nicht mehr zu machen, so die Überlegung.

Hartz IV ist jedoch nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern dürfte das Sozialgefüge in Deutschland schwer durcheinanderbringen. Scheitern dürfte der Versuch, mehr Arbeitslose in Stellen zu bringen, weil es diese Stellen nicht gibt oder die Arbeitslosen nicht ausreichend qualifiziert sind. Die gesellschaftlichen Auswirkungen dürften viel gravierender sein. Wer heute kurz vor dem 50. Lebensjahr seinen Arbeitsplatz verloren hat, weil die Firma nach Tschechien oder Polen verlagert wird, hat so gut wie keine Chance mehr auf einen Ersatzarbeitsplatz. Diese Menschen fallen vom Januar nächsten Jahres an in das ALG II, das bei der Anrechnung von Vermögen etwa der heutigen Sozialhilfe entspricht. Das bedeutet: Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben und ohne eigenes Verschulden nicht mehr arbeiten können, müssen auf ihr Erspartes, ihre Lebensversicherung und selbst auf Haus- und Grundbesitz zurückgreifen, weil die Behörden das verlangen.

Dies kommt einer faktischen Enteignung gleich. Die Betroffenen werden es als Gipfel der Unverschämtheit empfinden, daß selbst ihre Riester-Renten-Erträge, die der Aufstockung schrumpfender Rentenansprüche im Alter dienen sollen, zum Teil für den laufenden Lebensunterhalt verwendet werden müssen.

Demgegenüber sind diejenigen, die Arbeit schon immer mit Dummheit gleichgesetzt und Sparen für überflüssig gehalten haben, fein raus: Wer nichts hat, muß auch nichts an die Ämter abgeben.

Auch die Ausländerproblematik wurde von Regierung und Opposition übersehen. Der Anteil von Ausländern unter den Sozialhilfeempfängern ist drei- bis viermal so hoch wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Daß hier ein Teil des Problems der zu hohen Sozialausgaben in Deutschland zu suchen ist, hat bisher noch nicht einmal die Opposition begriffen.

Und selbst die reduzierten ALG II-Ansprüche sind immer noch so attraktiv, daß es weiterhin zu einer Einwanderung von Ausländern in das deutsche Sozialsystem kommen wird. Die erhofften Spareffekte werden also nicht eintreten, weil die Zahl der Leistungsempfänger wachsen wird.

Möglicherweise gibt es ein Arbeitslosenheer

Es wird ein möglicherweise millionenstarkes Heer von arbeitswilligen deutschen Arbeitslosen entstehen, die vom Staat weitgehend enteignet wurden. Dies wird zu einem massiven Vertrauensverlust für den demokratischen Staat führen. Und daß dies mit einer Änderung des Stimmverhaltens bei den kommenden Wahlen einhergehen kann, ist den Volksparteien nicht bewußt.

Die SPD ignoriert standhaft, daß sie dabei ist, das Projekt 18 zu realisieren. Die Union gibt sich dem Trugschluß hin, die Schwäche der SPD sei wie in früheren Zeiten ihre Stärke. Daß schon bei der Europawahl Kleinparteien massiv zulegten, wird geflissentlich ignoriert.

Hartz IV könnte, von seinen Erfindern sicher nicht gewünscht, der Schlüssel für die Tür zu einem anderen Parteiensystem werden. Die von Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement erwartete Zeitenwende könnte kommen, aber nicht für den Arbeitsmarkt, sondern für die politische Klasse.


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