© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/04 16. Juli 2004

Der lachende Dritte
Aus Sicht der Alliierten wurde mit den Verschwörern des 20. Juli das gefährliche, das preußische Deutschland beseitigt
Alfred Schickel

Wenn die westlichen Staatsarchive, insbesondere die britischen und die amerikanischen, bestimmte Geheimdokumente ihrer Regierungen über die Sperrfrist von 25 bis 30 Jahren hinaus unter Verschluß halten, haben ihre schwerwiegenden Gründe. Das gilt für die englischen "Heß-Papiere" ebenso wie für die amerikanischen "Tyler-Kent-Akten", welche bekanntlich allesamt bis in das 21. Jahrhundert hinein geheimgehalten werden sollen. "Schutz der persönlichen Ehre lebender hochgestellter (politischer) Persönlichkeiten" und berechtigtes "Staatsinteresse" sind die meistgenannten Gründe für diese lange Sperrfrist. Aber auch andere Gesichtspunkte, wie das zu befürchtende Offenbaren begangener großer politischer Fehler, können die Verantwortlichen in den Regierungen dazu veranlassen, bestimmte Akten und Dokumente über die herkömmliche Geheimhaltungsfrist hinaus der öffentlichen Einsichtnahme zu entziehen.

Hitlers Überleben sei ein Glücksfall für die Aliierten

Ein solcher Fall schien bei der Zurückhaltung eines Berichtes des amerikanischen "Office of Strategic Services" vom 30. Juli 1944 gegeben zu sein, der erst sehr spät der Zeitgeschichtsforschung zugänglich gemacht wurde.

Unter der Überschrift "Das beste Ergebnis des Hitler-'Wunders'" überliefert der Report die freimütige Einschätzung der Lage Deutschlands und der Alliierten nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler durch die maßgeblichen Experten der Anglo-Amerikaner.

Danach sprachen "die Leute, welche Deutschland und die Deutschen am besten kennen, über das glückliche Entkommen Hitlers" und kamen zu der Überzeugung, daß Hitlers Überleben ein "Glücksfall für die Alliierten" gewesen sei. Und zwar deswegen, weil den "konspirierenden Generälen", die sich gegen Hitler erhoben hätten, danach keine Möglichkeit mehr offengestanden habe, den verlorenen Krieg allein Hitler anzulasten und selber bereits einen Revanchefeldzug vorzubereiten - oder wie es wörtlich in dem Geheimreport heißt: "Außer ihrem Bestreben, die Wehrmacht vor einer völligen Zerstörung und Niederlage zu retten, beginnen die konspirierenden Generäle, die zweifellos hoffen, die Schuld am Kriege den Nazis anzulasten, bereits den neuen Krieg vorzubereiten."

In dieser Lagebeurteilung befanden sich die anglo-amerikanischen Deutschlandexperten im Einklang mit der Auffassung des britischen Unterstaatssekretär Lord Robert Vansittart, der bereits mehrere Monate zuvor, im April 1944, über die sich abzeichnende deutsche (Militär)-Opposition gegen Hitler den bissigen Fünfzeiler verfaßt hatte: "Little Hans in a tight corner / Wondered what next he could try / So to look even littler / He humped off his Hitler / And said 'What a good boy am I'". Nach dem Mißlingen des Anschlags auf Hitler war jedoch diese Hoffnung auf ein Davonkommen vor der Verantwortung für Hitler, Nationalsozialismus und Krieg für die Deutschen zerronnen und mußte das deutsche Volk nach Meinung der Westalliierten vollauf für den Zweiten Weltkrieg und seine Schäden einstehen.

Diese Verantwortlichkeitserklärung beinhaltete die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutschlands ebenso wie die Berechtigung, gegen die deutsche Zivilbevölkerung einen schonungslosen Bombenkrieg zu führen; ging man doch in London wie in Washington nunmehr davon aus, daß "die Nazis jetzt fest im Sattel sitzen und der Mythos von den 'edleren Deutschen' täglich unglaubwürdiger wird", wie es wörtlich im Geheimbericht vom 30. Juli 1944 hieß.

Hatten bisher immer noch Bedenken bestanden - besonders unter jüdischen Emigranten in den Vereinigten Staaten -, das deutsche Volk unterschiedslos mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen und alle Deutschen für die Untaten der NS-Machthaber haftbar zu machen, schienen diese Hemmungen seit Hitlers ideologischer Politisierung der Wehrmacht und der Zivilbevölkerung nach dem mißlungenen Attentat überholt. Folgerichtig konnten die Deutschland-Experten in ihrem Geheimbericht vom 30. Juli 1944 erklären: "Wir bekämpfen jetzt die Nazis, die Deutsche sind, und die Deutschen, die Nazis sind", um dann festzustellen: "Der Weg ist jetzt klar für die alliierte Besetzung Deutschlands auf nicht weniger als 25 Jahre - vielleicht soll sie 50 Jahre dauern". Um Deutschland ein für alle Mal an einem neuen Krieg zu hindern, war die "bevorzugte Schlußfolgerung ein harter Friede und eine lange Okkupation", wie es abschließend in dem Geheimbericht heißt. Eine Aussage, die sich für die Deutschen nachmalig als geradezu prophetisch erwies.

Kriegsverlängerung durch Unterwerfungsverlangens

Neben diesem mißtrauischen Vorurteilen der Anglo-Amerikaner gegenüber der deutschen Militäropposition und den schon ins Auge gefaßten Besatzungszielen spielten auch weitere Gesichtspunkte eine Rolle, die bislang weitgehend ungewürdigt geblieben sind. Unter ihnen besonders die Vorstellungen, welche der Widerstandskreis um Graf Stauffenberg über das künftige Deutschland und seine Stellung in Europa hegte. Sie begann schon mit der Erwartung des "sofortigen Einstellens des Luftkrieges" und der "Aufgabe der (alliierten) Invasionspläne" und reichten über das "Vermeiden jeder Besetzung" bis zur "Reichsgrenze von 1914 im Osten". Ende Juni 1944 gab man den Engländern noch den Wunsch zu verstehen, "daß Österreich beim Reich bleibt".

Diesen Wünschen und Visionen standen die Deutschlandpläne der Alliierten diametral entgegen. Das deuteten bereits die Aussagen des sogenannten "Washington Paktes" vom 2. Januar 1942 an, die Deutschland und seine Verbündeten als "wilde und brutale Kräfte" bezeichneten und ihnen das "gemeinsame Niederringen durch die United Nations" ankündigten. Die "Casablanca-Erklärung" vom 26. Januar 1943 mit der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation der "Achsenmächte" machte dann vollends klar, mit welchem Ergebnis die Alliierten den Krieg zu beenden gedachten. Für die Annahme oder gar Verwirklichung der von der Berliner Militäropposition vertretenen Deutschlandpläne blieb da kein Verhandlungsspielraum mehr.

Das erkannte im übrigen auch voller Sorge Papst Pius XII. und suchte die Westalliierten von ihrer "Unconditional Surrender"-Forderung abzubringen, indem er auf das Ungewöhnliche eines derartigen "Unterwerfungsverlangens" hinwies und vor seinen kriegsverlängernden Folgen warnte. US-Präsident Roosevelt ließ daraufhin dem römischen Pontifex ausrichten, daß die geforderte "bedingungslose Kapitulation" der "Nazi-Armee" keineswegs gegen das deutsche Volk gerichtet sei, sondern nur der Absicht diene, "der Welt zu zeigen, daß die Deutsche Wehrmacht nicht unbesiegbar" sei. Es dürfe sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht, "die Fehlannahme von 1918 wiederholen, nach welcher der deutsche Soldat im Felde unbesiegt geblieben" sei, woraus sich dann bekanntlich die "gefährliche Dolchstoßlegende" entwickelt habe. Pius XII. wünschte sich zur Bekräftigung dieser Erklärung eine einschlägige Botschaft an das deutsche Volk. Roosevelt entzog sich jedoch einer solchen öffentlichen Kundgebung. Stattdessen versicherte er seinem alten Freund General John Pershing, im Ersten Weltkrieg US-Generalstabschef und erklärter Deutschenfeind "den Zweiten Weltkrieg so beenden zu wollen, wie die USA den Ersten hätten nach dem Willen Pershings zu Ende führen sollen", nämlich "bis nach Berlin durchzumarschieren und ganz Deutschland zu besetzen".

Um dieses Ziel zu erreichen, mußte er folgerichtig die Deutsche Wehrmacht völlig besiegen und Deutschland total unter Kontrolle bringen. Bei einem solchen Kriegsschluß blieb jedoch weder für eine eigenständige deutsche Militärregierung unter einem Generaloberst Beck oder Feldmarschall von Witzleben Platz, noch war an die Beibehaltung der völkerrechtlichen "Anschlüsse" von 1938 zu denken. Die von den opponierenden Militärs gewünschte Weiterexistenz des "Großdeutschen Reiches" war pure Illusion geworden. Damit nicht genug. Präsident Roosevelt wollte nicht nur alle territorialen Revisionen seit 1935 wieder rückgängig machen, sondern dem besiegten Deutschland im Osten auch Gebietsabtretungen auferlegen. Wie Mitarbeiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) jüngst feststellten, regte der amerikanische Staatschef außerdem an, bei der Regelung der deutschen Angelegenheiten eine "Elimination" des Wortes "Reich" ins Auge zu fassen. Ein Vorschlag, der in der Bezeichnung "Bundesrepublik Deutschland" tatsächlich und dauerhaft verwirklicht scheint.

Die Männer des 20. Juli von vornherein abqualifiziert

Bei so vielen Gegensätzen in den verfolgten Zielen erscheint es nicht mehr sonderlich überraschend, daß die Alliierten den deutschen Widerstandskreisen und ihren Anliegen mehr skeptisch als wohlwollend gegenüber standen. Hinzu kamen noch eine ausgeprägte Voreingenommenheit Roosevelts und Churchills gegenüber Preußen und dem vermeintlichen "preußischen Militarismus", als dessen Vertreter sie die meisten Offiziere des "20. Juli" sahen. Das Gespräch der beiden Politiker am 1. Dezember 1943 in Teheran mit Josef Stalin machte dies deutlich. Dort nannte Churchill, "Preußen die Wurzel des Übels in Deutschland" und bekam von Roosevelt bestätigt, daß "sich natürlich das preußische Offizierskorps" besonders von den übrigen Deutschen (negativ) unterscheide. Bekanntlich schlug sich dieses negative Vorurteil über die Preußen nicht nur in der karikierenden Darstellung preußischer Offiziere als bürstenhaarige und monokeltragende Kommißköpfe nieder, sondern führte nach dem Krieg auch zur Auflösung des Staates Preußen. In Washington und in Londen fragte man sich 1943/44 nicht, ob die zum Staatsstreich gegen Hitler entschlossenen Männer wirklich in die Kategorie der preußischen Junker gehörten und deswegen nicht verhandlungswürdig wären, sondern qualifizierte sie von vornherein als inakzeptable Figuren ab.

Bleibt die Frage, ob dies aus Ignoranz geschah oder mit Bedacht betrieben wurde, um das verbreitete Feindbild von Deutschland nicht kritisch hinterfragen und von eingefahrenen Kriegspraktiken wie den Bombenangriffen auf die Zivilbevölkerung Abstand nehmen zu müssen. Die Antwort darauf sollte nicht allein in der Lektüre der Limeric von Lord Vansittart gesucht werden. Eine ausstehende Untersuchung der Archive wird diese genauer beantworten können.

Churchill (M.) feiert mit Roosevelt und Stalin seinen 69. Geburtstag auf der Konferenz von Teheran am 30. November 1943: Preußen und sein Offizierskorps seien die eigentliche Wurzel des Übels in Deutschland

 

Dr. Alfred Schickel ist Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI).


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