© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/04 23. Juli / 30. Juli 2004

Das Volk wird ignoriert
EU-Verfassung: Der Streit, ob das Gesetzeswerk durch eine Volksabstimmung ratifiziert werden soll, zieht sich durch sämtliche Parteien
Peter Freitag

In der Frage, ob die Deutschen in einem Referendum über die Ratifizierung des "Vertrags über eine Verfassung für Europa" abstimmen dürfen, herrscht derzeit Uneinigkeit quer durch (fast) alle Parteien. Während die rot-grüne Bundesregierung einen Volksentscheid ablehnt, mehren sich in den Regierungsparteien Stimmen, die das ganz anders sehen. Bundeskanzler Gerhard Schröder verkündete bereits mehrfach, daß das Grundgesetz eine Volksbefragung nicht vorsehe und deswegen der Verfassungsvertrag vom Parlament - also Bundestag und Bundesrat - ratifiziert werden müsse. "Wie andere das machen, ist die Entscheidung der jeweiligen nationalen Regierung", kommentierte Schröder die Hinweise auf Plebiszite in Großbritannien und Frankreich. Seinen stellvertretenden Regierungssprecher Hans-Hermann Langguth ließ er am Montag noch einmal die "Verfassungslage", die das "ganz klar" nicht vorsehe, als Hinderungsgrund anführen: Bevor die Bürger zu einem Referendum aufgerufen werden könnten, müsse das Grundgesetz geändert werden; in dieser Frage sei "ein Stück Realismus geboten", so Langguth.

Auch Außenminister Joschka Fischer teilt die ablehnende Haltung des Kanzlers. Seine Bedenken, die er der Parteiführung als Leitlinie mitgeben möchte, sind typisch für das Mißtrauen der europäischen Funktionalisten gegenüber dem Demos: Scheitert der Verfassungsvertrag in nur einem Mitgliedsstaat, so verzögert dies den Integrationsprozeß der gesamten Union. Deswegen drängen er und der Kanzler auch zur Eile. "Ich würde mir wünschen, daß wir das noch in diesem Jahr hinkriegen", sagte Schröder der Financial Times Deutschland. Offensichtlich liegt es in seinem Kalkül, daß Deutschland als erstes Mitglied der EU das Vertragswerk noch in diesem Jahr ratifiziert.

Referendum als ideale Form der Mitbestimmung

Doch diesen Weg scheinen nicht alle Genossen so schnell beschreiten zu wollen. So widersprach etwa Bundestagspräsident Wolfgang Thierse der Weigerung des Regeirungschefs, das Volk zu befragen. Thierse hält ein "europaweites" Referendum für die ideale Form der Mitbestimmung, da so "ein konstitutiver Akt über einen gemeinsamen Verfassungsantrag in allen EU-Ländern" geschaffen werden könnte. Da dies momentan noch nicht machbar erscheine, plädiert Thierse als "realistische Alternative" für nationale Referenden.

Vergleichbare Stellungnahmen kamen auch aus Schröders niedersächsischem SPD-Landesverband. Parteichef Jüttner und der Fraktionsvorsitzende Gabriel sprachen sich "unter dem Eindruck der verheerenden Niederlage bei der Europawahl" für ein deutsches Referendum aus; sie fordern zudem eine Änderung des Grundgesetzes, wenn nur so der Weg zur Volksabstimmung frei gemacht werden könne. Es gehe darum, wie "Europa den Bürgern näher gebracht werden könne", meinte Gabriel.

Auch die saarländischen Sozialdemokraten schlossen sich dem an. "Es ist nur sinnvoll, in dieser wichtigen Frage die Bürger direkt an der Entscheidung zu beteiligen", sagte ihr Vorsitzender Heiko Maas der Berliner Zeitung.

Dagegen hält der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, eine einzelne Volksabstimmung zur EU-Verfassung für nicht sinnvoll. "Mehr Mitbestimmungsrechte der Bürger" seien an der ablehnenden Haltung der Union gescheitert, nun sehe er wenig Neigung, beim Thema EU "einen Einzelversuch zu starten", so Erler. Ähnlich lautete auch der Einwand von Grünen-Chef Bütikofer. Auch er plädiert für eine generelle Entscheidung zum Thema Plebiszite und gegen "Rosinenpickerei".

Kontovers geht es beim Thema EU-Referendum auch in der Union zu. Die CSU spricht sich mit Parteichef Edmund Stoiber an der Spitze mehrheitlich für ein solches aus, bei der Schwesterpartei sind die Befürworter dagegen in der Minderheit - zumindest in der Führungsriege. Stoiber forderte in der Bild am Sonntag den Bundeskanzler auf, endlich das "Mißtrauen gegenüber dem eigenen Volk" abzulegen. Wenn Großbritannien und Frankreich per Volksabstimmung entscheiden ließen, könne "die dritte große Nation der EU nicht länger abseits stehen", so der CSU-Vorsitzende.

Unionsabgeordnete sind gegen eine Volksabstimmung

Auch sein Parteifreund Hartmut Koschyk, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verwies auf das französische Beispiel, das der Debatte in der eigenen Fraktion "Dynamik" verliehen habe. Ebenfalls zu den Befürwortern gehören der Christsoziale Peter Gauweiler und sein CDU-Kollege Dietrich Austermann, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion. Er sieht trotz grundsätzlicher Erwägungen gegen plebiszitäre Elemente dieses Thema für geeignet, da mit der EU-Verfasung "unsere nationale Souveränität deutlich eingeschränkt" werde.

Die CDU-Parlamentarier Peter Altmaier, Peter Hintze und Matthias Wissmann dagegen gehören zu den vehementen Gegnern einer Volksabstimmung. Altmaier lehnte schon im Juni während der Bundestagsdebatte zum FDP-Antrag über ein EU-Referndum dieses mit dem Hinweis ab, "Europa sei kein Spielfeld für Experimente". Hintze, europapolitischer Sprecher der Unions-Fraktion, hält eine Volksabstimmung gar für einen "Irrweg, der in die mückigen Sümpfe von Stimmungsentscheidungen gegen die jeweilige Regierung führt", woran "ein so wichtiges Projekt wie die EU-Verfassung nicht scheitern" dürfe. Und Wissmann ergänzt, die Komplexität des Themas mache es ungeeignet für ein Referendum. Dagegen spricht sich der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) - angeregt durch die Vorbilder anderer EU-Mitglieder - für eine Volksabstimmung aus; er wolle diese Forderung auch dem Präsidium und Vorstand der CDU unterbreiten. Einheitlich für eine Volksabstimmung bezieht nur die FDP Stellung. Nach dem Willen von Parteichef Guido Westerwelle soll es dazu nach der Sommerpause einen Antrag seiner Fraktion im Bundestag geben, mit dem der Weg für ein Referendum freigemacht werden kann. Auch sein Kollege Werner Hoyer, außenpolitischer Sprecher der Fraktion, verlangt von der Bundesregierung für ein Referendum Farbe zu bekennen. Es dürfe den deutschen Bürgern nicht vorenthalten bleiben, was den französischen gestattet sei.

Das beliebte Argument, ein Volksentscheid könne den Populisten in die Hände spielen, weist Hoyer zurück: "Die Politiker sollten keine Angst haben vor der eigenen Courage und erst recht nicht vor dem Volk; sie sollten sich eindeutig hinter das Verfassungsprojekt stellen und vor allem das Feld nicht plumper anti-europäischer Agitation überlassen." Eine Gefahr, das deutsche Volk könne im Referendum den Verfassungsvertrag ablehnen, sieht auch die liberale Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin nicht. Sie hält es dagegen für "unverantwortlich, wenn man die Verfassung so durch den Bundestag jagt".

Eine "große Koalition für ein EU-Referendum" in Deutschland wünscht sich auch die Bürgerbewegung "Mehr Demokratie". Vorstandssprecherin Claudine Nierth wies darauf hin, daß "die Parteien die einmalige Chance hätten, den Menschen das Vertrauen in die Politik zurückzugeben".

"Keine Angst vor der eigenen Courage haben"

Angesichts der geringen Beteiligung an der jüngsten Europawahl erscheint dieser Hinweis nicht unberechtigt. Nahrung erhält die Forderung auch durch eine Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut TNS-Emnid veröffentlichte: Demnach wünschen sich 79 Prozent der Befragten eine direkte Beteiligung an der Ratifizierung des Vertrags über die EU-Verfassung. Berufen können sie sich dabei - trotz gegenteiliger Behauptungen des Bundeskanzlers - auf das Grundgesetz; denn dies sieht laut Artikel 20 vor, daß die Staatsgewalt vom Volke "in Wahlen und Abstimmungen" ausgeübt wird.

Den Bürgern anderer europäischer Staaten ist dieses Recht bereits eingeräumt worden. Neun Mitgliedsländer lassen in Referenden das Volk abstimmen, nämlich Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Spanien, Portugal, Irland und die Tschechische Republik. Als wahrscheinlich gilt eine Volksabstimmung auch in Dänemark.

Foto: Protestplakat vor dem Brandenburger Tor: "Die dritte große europäische Nation darf nicht alleine stehen"


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