© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/04 23. Juli / 30. Juli 2004

Kolumne
Doppelmoral
Klaus Motschmann

Die jüngsten Aufregungen in österreichischen und deutschen Medien über "Sex- und Saufgelage in einem österreichischen Priesterseminar, bei denen auch Naziparolen gegrölt" worden seien, gehören zu den publizistischen Evergreens, die in den medialen Sommerlöchern besonders gut gedeihen. Sie bieten überdies eine gute Gelegenheit für den Nachwuchs, vorhandene Inferioritätskomplexe abzureagieren und sich auf diese Weise mit den wenigen Grundätzen des sogenannten investigativen Journalismus vertraut zu machen. Dazu gehört vor allem die "Entlarvung der Doppelmoral" in der bürgerlichen Gesellschaft.

Dagegen wäre prinzipiell nichts einzuwenden, wenn die ideologischen Tugendwächter unseres Volkes die reichen Erfahrungen der Geschichte und Gegenwart zur Kenntnis nehmen würden.

Was immer man auch gegen "doppelte Moral" und "Heuchelei" in Politik, Gesellschaft (und Kirche!) sagen kann und oft genug sagen muß - eines kann man nicht behaupten: daß sie bewußt auf die Zersetzung der in Jahrhunderten gewachsenen religiösen, rechtlichen, staatlichen und sonstigen sozialen Ordnungen abzielt. Die wesentlichen Grundlinien und Grenzen menschlicher Daseinsgestaltung bleiben erhalten und gestatten eine allgemeine Orientierung, auch und gerade für die "verlorenen Söhne" (und Töchter), die nach den Erfahrungen eines "selbstbestimmten" und "authentischen" Lebens zur Umkehr bereit sind. Umkehr ist nur möglich, wenn man weiß wohin. Insofern sollten die ideologischen Widertäufer und intellektuellen Pharisäer sich für eine Weile mit ihrer Kritik an der "doppelten Moral" der katholischen Kirche zurückhalten und bedenken, welche Konsequenzen der Tugendterror ihrer geistigen und politischen Vorfahren gehabt hat. Sie haben ein unmenschliches Meinungsklima moralischer Sterilität erzeugt und gerechtfertigt, das zwar den jeweiligen ideologischen Zwangsvorstellungen, aber niemals dem menschlichen Daseinsverständnis entsprach. Eben weil sie die jeder "Doppelmoral" innewohnende Spannung aufgelöst haben, konnte sich aus ihrer "einfachen" - sehr einfachen - Moral individueller Selbstbestimmung eine "Hypermoral" (Arnold Gehlen) entwickeln, "die unter dem Schein der Wahrheit alles leugnet was wirklich ist. Sie lebt von dem Haß gegen das Wirkliche (...) sie gibt sich den Anschein als vollzöge sie das Gericht Gottes über den Sündenfall des Wirklichen" (Dietrich Bonhoeffer). Denn: Zehn faustdicke Irrtümer der "doppelten Moral" sind für die Ordnung unseres Volkes nicht so gefährlich wie eine Wahrheit der Hypermoral.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin


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