© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/04 23. Juli / 30. Juli 2004

In die Urkatastrophe geschlingert
Vor neunzig Jahren wurde mit dem beginnenden Ersten Weltkrieg das fragile Gleichgewicht Europas zum Einsturz gebracht
Stefan Scheil

Wissen Sie, was das europäische Gleichgewicht ist?", so wird Ulrich, der "Mann ohne Eigenschaften" in Robert Musils gleichnamigem Roman vom Diplomaten Tuzzi befragt. "Wir Berufsdiplomaten wissen es alle nicht", so Tuzzi weiter. "Es ist das, was man nicht stören darf, damit nicht alle übereinander herfallen. Aber was man nicht stören darf, weiß keiner genau."

Musil legte seinen Romanfiguren hier zwar für das Frühjahr 1914 einen erfundenen Dialog in den Mund, baute aber auf das Ergebnis einer ausführlichen Analyse der europäischen Vorkriegsaußenpolitik auf, die er zuvor studiert hatte. In den Jahren und Jahrzehnten vor 1914 war in der Tat eine lange Liste an Störungen zustande gekommen, und immer wieder konnten sie bis dahin von der Diplomatie bewältigt werden. 1878 hatte man sich in Berlin auf deutsche Vermittlung hin über die Aufteilung des Balkans verständigt, 1884 über die Aufteilung Afrikas. 1898 brachen England und Frankreich ihren Konfrontationskurs bei Faschoda ab und schlossen bald darauf die Entente. 1907 einigten sich England und Rußland über Afghanistan und Persien.

Der Anlaß zum Krieg 1914 war vergleichsweise marginal

Auch das Zerfallen des Osmanischen Reichs ließ sich zwar nicht friedlich, aber ohne den großen europäischen Krieg gestalten. 1908 annektierte Österreich-Ungarn mit Bosnien ein Stück ehemaligen türkischen Einflußbereichs. Es folgten die Balkankriege von 1912/13, nach denen sich die Türken fast vollständig aus Europa verdrängt sahen. Gleichzeitig hielt sich Italien an den türkischen Besitztümern in Afrika und den griechischen Inseln schadlos. Die Türkei war damit zu einem obskuren Gebiet am Rand des Kontinents geworden, in dem die Regierung Italiens später weiteres Land zu erwerben trachtete, um den italienischen Bevölkerungsüberschuß dort unterbringen zu können. Dazwischen schoben sich ungezählte weitere Ereignisse, zuletzt der deutsch-französische Streit um Marokko, bei dem die englische Politik mit einer Kriegsdrohung Deutschland letzten Endes zum Nachgeben zwang.

Vergleicht man diese Krisen mit dem vor diesem Hintergrund marginalen Anlaß, der dann 1914 letztlich doch zum Ersten Weltkrieg führte, werden zwei Dinge klar: Zum einen hätte fast jede von ihnen im Prinzip zu einem großen europäischen Krieg führen können, von dem niemand genau wußte, wo er enden würde. Immer gab jedoch eine Partei nach oder gab sich mit Kompensationen an anderer Stelle zufrieden, eine Rolle, die in den Jahren vor dem Krieg zunehmend Deutschland zugefallen war. Zum anderen standen hinter den Ereignissen handfeste Entwicklungen wirtschaftlicher und militärischer Natur und nicht zuletzt Veränderungen der Bevölkerungszahlen. Ein starres Gleichgewicht innerhalb Europas konnte es nicht geben. Es mußte immer wieder austariert werden. In Zeiten, in denen vom möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union nicht zu Unrecht eine mögliche Erschütterung des "demographischen Gleichgewichts" Europas befürchtet wird, scheint besonders der italienische Versuch, ausgerechnet in Kleinasien siedeln zu wollen, einer unerreichbar weit entfernten Vergangenheit anzugehören.

Das Reich rüstete weniger als andere europäische Länder

Man kann sich anhand dieses Beispiels jedoch vergegenwärtigen, wie alarmierend die damalige Dynamik des wilhelminischen Kaiserreichs auf die europäischen Nachbarn wirken konnte, wo sich eine enorme Bevölkerungsentwicklung mit Spitzenleistungen in Technik und Wirtschaft und sogar einer gewissen Führungsrolle selbst in der kulturellen Sphäre verbunden hatte.

Wie dies enden würde, wußte niemand zu sagen, aber daß es etwas Neues war, das die traditionelle Machtverteilung in Frage stellen konnte, stand fest. Das europäische Gleichgewicht mußte überprüft werden. Die an manchen Orten vorhandene Angst vor einer angeblichen deutschen Bedrohung, der man entgegentreten müsse, hatte daher viele Aspekte, von denen erstaunlicherweise der später von der alliierten Propaganda und heute im öffentlichen Geschichtsbild oft beschworene "Militarismus" des Kaiserreichs eher einer der geringeren hätte sein müssen. Wenn man sich in Deutschland martialisch gab und der Offizier als Vorbild einen hohen gesellschaftlichen Rang genoß, dann stand dahinter keineswegs eine Rüstung, die auf einen Eroberungskrieg zielte. Das Reich gab weniger für Waffen aus als andere europäische Länder, unterhielt Landstreitkräfte, die an Zahl geringer selbst als die französischen waren, geschweige denn die russischen und konnte auch den von Großbritannien forcierten Rüstungswettlauf zur See nicht gewinnen. So stand hinter dem Reich zwar eine außerordentliche Dynamik, hinter der sich jedoch keineswegs die Absicht verbarg, dies zu kriegerischer Expansion zu nutzen.

Der Versuch einer politischen Umsetzung dieses Potentials mißlang jedoch der wilhelminischen Weltpolitik, die zunehmend auf entschlossenen Widerstand der späteren Alliierten traf, der auch vor dem Einsatz von Kriegsdrohungen nicht zurückschreckte. Der lange erprobte Mechanismus der Berufsdiplomatie begann zu versagen. Zudem wurde in immer bedrohlicherem Ausmaß gerüstet. Besonders die Modernisierung der russischen Armee ließ in Berlin vor 1914 Überlegungen entstehen, ob nicht ein Präventivkrieg gegen das Zarenreich das einzige Mittel sei, um der drohenden Übermacht zu entgehen.

Von Anfang an überzeugt, daß wir nicht siegen würden

Insgesamt trieb Deutschland seit der Jahrhundertwende auf einen Krieg zu, den die Mehrheit der Elite lieber umgangen hätte, den sie aber für unvermeidlich hielt und in dem sie sich obendrein nur wenig Siegschancen einräumte. Großadmiral Tirpitz führte diese Stimmungslage später mit finsterem Sarkasmus als ein Argument gegen die deutsche Kriegsschuld an: "Ich kann einen weiteren vollgültigen Beweis dafür anführen, daß unsere Reichsleitung den Krieg nicht gewollt hatte. Sie war nämlich von Anfang an davon überzeugt, daß wir nicht siegen würden."

Die Berliner Politik nahm daher Abstand davon, gegen Rußland einen Präventivkrieg zu wagen, zog aber den Schluß, den Einkreisungsring um Deutschland baldmöglichst politisch sprengen zu sollen. Hatte es während der Marokkokrise nur die Entente auf einen militärischen Schlagabtausch ankommen lassen wollen, waren es im Sommer 1914 alle Beteiligten, so lange, bis sich kein Rückweg mehr fand. Keine Partei war zum Nachgeben bereit, bis mit der Mobilmachung Rußlands die Automatik des Militärs einsetzte. Die europäische Politik hatte jene Flexibilität eingebüßt, die den Krieg so lange vermieden und den Eindruck eines Gleichgewichts vermittelt hatte. Man hatte das Unbekannte angefaßt, und alle fielen übereinander her.

Foto: Leipziger Petersstraße während der Messe 1912: Die wirtschaftliche Weltmacht Deutschland bestach durch eine enorme Bevölkerungsentwicklung mit Spitzenleistungen in Technik und Wissenschaft


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