© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/04 13. August 2004

Der große Schiffbruch
Das Scheitern der Rechtschreibreform als Symbol der deutschen Krise
Dieter Stein

Plötzlich wollen beinahe alle immer schon dagegen gewesen sein: Seit dem vergangenen Freitag steht mit einem Paukenschlag die Rechtschreibreform wieder ganz oben auf der Tagesordnung. In einer konzertierten Aktion verkündeten Axel-Springer-Verlag und Spiegel, kurzfristig wieder zur bewährten klassischen Rechtschreibung zurückkehren zu wollen, wie sie bis zum 1. August 1999 in Deutschland gültig war. Die Süddeutsche Zeitung und weitere kleine Verlage kündigten noch am selben Tag an, es ihnen gleichtun zu wollen.

Beinahe wieder leidtun kann einem Doris Ahnen, SPD-Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz und derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), die den Trümmerhaufen "Schlechtschreibreform" (Bild) derzeit stellvertretend auf zunehmend verlorenem Posten öffentlich verteidigen muß.

Nun läßt die Bild-Zeitung Stars und Sternchen aufmarschieren, die sich wacker für den Erhalt der deutschen Sprache ins Zeug werfen. Schlagersänger wie Udo Lindenberg, Heino, Udo Jürgens, Jeanette Biedermann stehen einträchtig nebeneinander mit den Fußballgrößen Otto Rehhagel, Franz Beckenbauer und Rudi Assauer.

Wer nicht das rettende Ufer sucht und sich auf die Seite der Reformgegner schlägt, hat die Machtverhältnisse der Republik nicht durchschaut: "Die Rechtschreibreform ist kaputt. Dies ist nicht aus Sympathie oder Antipathie gespeist, sondern ich bin ein alter Nachrichtenhase und Journalistenmensch und schätze die Machtverhältnisse so ein", so Wolf Schneider ("Deutsch für Profis"), der jahrelang Nachwuchsjournalisten an der Henri-Nannen-Schule des Gruner&Jahr-Verlages auf gutes Deutsch gedrillt hat.

Nun ist dieses überraschende Beidrehen von Großverlagen, die noch vor fünf Jahren arrogant ihren Lesern eine neue Schreibung als "modern" aufnötigten, ein Politikum. Rückblickend ist es immer noch frappierend, wie widerstandslos sich eine Kulturnation zunächst einem bürokratischem Akt zu beugen schien und die Verhunzung der eigenen Sprache per obrigkeitsstaatlichem Dekret hinnahm.

Doch in Wahrheit regte sich von Anfang an Widerstand. Einzelne mutige Bürger kämpften seit 1996 in einer mühsam und in zähem Einsatz vorangetriebenen Graswurzelrevolution hundertfachen bürgerschaftlichen Protestes in neugeschaffenen Bürgerinitiativen und Vereinen für die Rettung der bewährten Schriftsprache. Wohlgemerkt ohne einen Pfennig staatlicher Mittel, anfangs höhnisch belächelt und von den Medien totgeschwiegen sammelten sich Tausende Bürger und unterminierten in einem unvorstellbaren Kraftakt die Einheitsfront der Reformbefürworter. Letztlich sind die sich jetzt heldenhaft gebärenden Großverlage unter diesem andauernden Protest - vernünftigerweise - in die Knie gegangen.

Weil sich nun diese auflagenstärksten und einflußreichsten Verlage bequemt haben, einen kapitalen Fehler zu korrigieren, rückt das Kippen der ganzen Rechtschreibreform in greifbare Nähe. Es wäre auch die einfachste und billigste Lösung, zu den früher geltenden Verfahrensweisen zurückzukehren und Anpassungen der Sprache wieder der nichtstaatlichen Duden-Redaktion zu überlassen, anstatt weiter an der Sprache herumzufummeln.

Die anarchische Sprache lebt also und wird dem eisernen Zugriff einer anmaßenden Staatsbürokratie entzogen. Die Debatte um die Rechtschreibreform hat zudem eine mehrfache Aufladung erfahren:

Es gibt offenkundig einen stärker wachsenden Unmut über ohne direkte demokratische Mitwirkungsmöglichkeit durchgedrückten Willkürmaßnahmen gegen die Mehrheit des Volkes. Da herrscht beispielsweise das wachsende Unbehagen, im Kontext mit dem Projekt "Europa" einem undurchschaubaren hyperbürokratischen und sich demokratischer Kontrolle entziehenden Moloch ausgeliefert zu sein.

Eingebrannt ins Gedächtnis hat sich zudem den Deutschen die Opferung der D-Mark auf dem europäischen Altar, ohne in einer Volksabstimmung dazu befragt worden zu sein. Und es zieht das anonyme, mit all seinen Auswirkungen auf die nationalstaatliche Souveränität bedrohliche Projekt einer "europäischen Verfassung" herauf, bei dem die Deutschen wieder nicht direkt mitentscheiden sollen, ob sie diesen Schritt akzeptieren.

Den Euro konnte man als einzelner Bürger nicht ablehnen, es sei denn, man wäre zum Tauschhandel übergegangen. Die Rechtschreibreform konnte jedoch jeder Bürger, jeder Autor, Schriftsteller, aber auch jede Zeitung und jeder Verlag individuell unterlaufen und boykottieren. Erstmals seit langem lief eine immer arroganter gewordene Bürokratie und die sie leitende politische Klasse auf Grund.

Mit dem Schiffbruch der Rechtschreibreform bricht nicht nur einfach sprachliche Anarchie in Deutschland aus. Wie beim Untergang des als unsinkbar gepriesenen Ozeanriesen "Titanic" am 16. April 1912 vor Neufundland könnte das Scheitern des Rechtschreibreform-Projektes zu einem Symbol werden: zu einem Symbol für ein Scheitern des paternalistischen Staates, zu einem Ende des sozialdemokratischen Zeitalters, in dem der vormundschaftliche Staat seine Bürger durch immer mehr Verordnungen und Gesetze, aber auch Betreuung, Lenkung, Umschulung, Umbildung knetet, formt und verformt, bis er sich ganz dem Staat und dessen "Zukunftsvisionen" ergeben hat und ohne Hilfe und Stütze nicht mehr lebensfähig ist. Wir erleben das Scheitern eines Staates, der dem Einzelnen - hier den Schülern beim Erlernen der Sprache - nicht nur immer weniger zutraut, sondern auch immer weniger Eigenverantwortung abverlangt.

Das Eigenständige und Souveräne, das geschichtlich Gewachsene und damit auch die immer wieder gewandelte und unter dem Mitwirken von vielen verfeinerte und präzisierte Sprache sollte nach dem Modell der landschaftlichen "Flurbereinigung" der siebziger Jahre auf eine "moderne", "vernünftige", bequemere Form gebracht werden. Diese Idee des Machbaren, diese Idee der Utopie ist mit dem Bankrott der Rechtschreibreform in Frage gestellt.

Die Rechtschreibreform ist auch ein Symbol für die Entfremdung in Deutschland geworden: für die Entfremdung von politischer Klasse und Bürgern, die zweierlei Sprache sprechen, für die Entfremdung der Generationen, die mit zweierlei Sprache aufwachsen, für eine Ideologie, die den Menschen mit staatlicher Gewalt von dem ihm Gewohnten entfremden will.

Die Krise, auf die das Scheitern der Rechtschreibreform verweist, äußert sich aber auch in einem dramatischen Verfall der Autorität des Staates: Der Staat maßt sich einerseits immer mehr Kompetenz an, in die Angelegenheiten seiner Bürger hineinzuregieren, ist aber andererseits immer weniger in der Lage, seine totaler werdenden Anmaßungen auch durchzusetzen. Parallel zur expandierenden Bürokratie fällt der Respekt vor dem Staat und seiner Autorität ins Bodenlose.

Die ständig erhöhte Taktzahl der Gesellschaft im Zeichen der Globalisierung, der permanente Ruf nach "Mehr Flexibilität", "Mehr Leistung", "Mehr Innovation", "Mehr Veränderung" - sie stehen für eine Ideologie, die das Bewährte über Bord wirft und Traditionen verleugnet. Dagegen sträuben sich die Menschen - mit Recht.

In einem Gespräch mit dieser Zeitung erklärte der Moralphilosoph Robert Spae-mann 1999: "Gewohnheit ist eine Form von Freiheit. Die Griechen haben im sechsten Jahrhundert vor Christus Tyrannis als die Herrschaft definiert, die die Menschen zwingt, aus ihren Gewohnheiten herauszutreten. Freiheit ist demgegenüber das Recht, auf gewohnte Weise leben zu dürfen. Wenn dem Menschen das Gewohnte genommen wird, dann wird er unfrei gemacht. Ich kann nicht erkennen, daß permanente Veränderung ein Zuwachs an menschlicher Freiheit ist. Die Beschleunigung bringt eine Vermehrung von Zwängen. Darum bin ich der Meinung Davílas, der sagt, er kenne nur eine einleuchtende Definition von Menschenwürde - alles langsam tun."

Eine der heimeligsten Gewohnheiten, in die ein Mensch von Anfang an hineingeboren wird, ist seine Muttersprache in Wort und in Schrift. Sie ist die Behausung eines Volkes. Der Sand, der beim Widerstand gegen die Rechtschreibreform ins Getriebe des Staates gestreut wurde und den Motor der Beschleunigung ins Stottern bringt, ist deshalb ein Triumph der Langsamkeit, aber nicht eine Langsamkeit des zipfelmützig Verschlafenen, sondern des bedächtig Klugen. Es ist ein Triumph des langsam Gewachsenen über das technokratisch Konstruierte. 

Die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT hält sich an die traditionelle deutsche Rechtschreibung, wie sie bis zum 1. August 1999 gültig war*

* Hinweis im Impressum dieser Zeitung seit dem 20. August 1999

"Das Scheitern der Rechtschreibreform könnte zu einem Symbol werden für das Scheitern des vormundschaftlichen Staates, aber auch für den Sieg des Gewachsenen über das Konstruierte."


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