© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/04 13. August 2004

Die monotheistische Verschärfung
von Wolfgang Saur

Der Feind, sagt Carl Schmitt, ist unsere eigene Frage in anderer Gestalt. Das heißt auch, daß in der aktuellen Konfrontation mit dem Islam der Westen nicht vorschnell die moralischen Karten verteilen, sondern in jener sich spiegelnd selbst befragen sollte.

Dann würde der externe Konflikt lesbar als aktuelle Reminiszenz an die internen Krisendebatten, die Europa selbst seit 200 Jahren geführt hat. Der Globalisierungsprozeß wirft also erneut die Frage nach Wesen und Wirkung von Modernisierung auf. Tua res agitur, das heißt: Nicht bloß das Gewaltpotential fundamentalistischer Strömungen bedroht uns. Man kann sagen, der islamische Kulturkampf besitzt seine Notwendigkeit, indem hier zwei inkompatible Universalismen aus dem abrahamiti-schen Pool aufeinanderprallen, die traditionale und die modernistische Variante.

Nach dem Scheitern der panarabischen Bewegung erhielt die Ummah, Gemeinschaft der Gläubigen, eine neue, identitätsstiftende Bedeutung. Dieser Impuls reaktiviert nun auch expansive und kriegerische Traditionsmomente, die ihren prekären Grund weniger im universalen Anspruch des Islam als in der Einzigkeitsdoktrin Allahs haben. Das mag der religiösen Verständigung von Christen und Muslimen Grenzen setzen. Doch ist die gegenwärtige Situation weniger ein Konflikt zwischen Religionen als der von religiöser Kultur und säkularer Zivilisation.

Neben anthropologischen Konstanten ist unser Leben verankert im göttlichen Grund, bleibt zuinnerst religiös bestimmt, die traditionelle Ordnung der Dinge war theonom. Diese letzte Universalität göttlichen Geists setzt nicht bloß Individualität in ihr lebendiges Recht, sondern macht erst wahre Verständigung möglich. Besonders problematisch zeigt sich das monotheistische Modell, das eine schroffe Transzendenz konstruiert und die Geschöpfe dem "unendlichen Seinsabstand" unterwirft. Nicht die Einheit Gottes wird akzentuiert, vielmehr seine Einzigkeit.

Darüber kreist die Debatte um die Bücher Jan Assmanns. Er hat seine Theorien über "Moses, den Ägypter" neuerdings pointiert im Paradigma der "mosaischen Unterscheidung". Es geht um Jahwes Kampf gegen die orientalischen Götter, um Exklusivitätsanspruch, Bilderverbot, Gesetzeszwang, also die Verpflichtung zur Ethik und zum Kampf gegen "falsche" Götter. Assmanns Typologie verdeutlicht nun das Intoleranz- und Gewaltpotential beim "politischen" und "revolutionären" Monotheismus. Eine atheistische Intelligenz, in religiösen Fragen sonst indifferent, ist hier leidenschaftlich mitbeteiligt. In diesem Kreis gilt es als ausgemacht, daß die Wurzeln des modernen Universalismus im Judentum liegen und der strafende Gebotsgott das rationale "Entzauberungsparadigma" präfiguriert, also bereits die welthistorische Weiche von "Religion" auf "Ethik" stellte.

In den Aspekten von "Emanzipation" und "Gerechtigkeit" macht die Debatte vollends "politische Theologie" als Kern des Alten Bundes aus, den Ursprung von Rationalität, Ethik, Demokratie. Solch "irreligiöse" Interpretation kommt denen zupaß, die Gott seit je durch eine "kommunikative Struktur" ersetzen wollten, so Jürgen Habermas, dessen Theorieprojekt stets darauf abzielte, alle relevanten Themen in ethische zu konvertieren, sie dann demokratischer Legitimation, also öffentlichem Diskurs zu unterwerfen.

Der Diskurszwang als rationale Herrschaftsform: Universalistischem Anspruch gemäß, verlangt er Offenheit und Zugriff, schafft einen hermetischen, diskursiv "verfügten" Sozial- und Disziplinierungsraum.

Diese normative Inklusion, als Theo-riedesign (Habermas) oder praktischer Globalisierungsprozeß (McWorld), bedeutet strukturelle Gewalt. Die These lautet: Die westliche Moderne ist, als solche, schon immer totalitär. Nachdem sich Faschismus und Kommunismus historisch diskreditiert haben, hat nun die liberale Variante Gelegenheit, ihr inhumanes Potential herauszustellen.

Die Moderne beruht auf einer "Immanenzrevolution" von Zeit, Subjekt, Erfahrung und Geist. Der metaphysische Schrumpfungsprozeß reduziert Mensch und Welt auf "Empirie". Als exklusives Erkenntnismedium gelten nun die widersprüchlichen Ver-standesbegriffe, sogenannte "kritische" Reflexion, das "Räsonnieren", wie Hegel sagt. Ins Totalitäre tendiert dieser Rationalismus, weil er sich nicht als vorläufig bekennt und durch höhere Einsicht aufheben läßt, sondern seine Schranken verabsolutiert, sich mithin als Prinzip des Wirklichen ultimativ setzt.

Rationaler Universalismus als generelle Menschheitsnorm kann nun "naturwüchsige" Bildungen (Geschichte, Religion) nicht gelten lassen. Hier wurzelt der Aufruf zur Revolution: Partikulare Verstocktheit soll egalitätsutopisch aufgesprengt werden. Das geschieht erstmals in der Französischen Revolution, dem totalitären Modell schlechthin, Menetekel der Moderne. Alle Prinzipien noch der Gegenwart finden sich schon dort: die Herrschaft der "Meinung", der Glaube an unbegrenzte menschliche Veränderbarkeit, an totale, technische und politische Machbarkeit, an absolute und universelle Modernisierung. Vernunftfanatismus und Demagogie werden zu Instrumenten einer Radikalisierung und Eskalationsspirale, Politik verschmilzt mit Moral, mit Pädagogik, die Fanfare der Erziehungsdiktatur, Geschichte wird nur mehr gelesen als Haufe von Irrtum, Betrug, Tyrannei, Wahnwitz, während der neue Kult den strahlenden Menschheitsfrühling blutig zelebriert. So total die Veränderung, so total jetzt der Verdacht. Dem sinnlich-übersinnlichen kosmologischen Raum der Tradition tritt der moderne Politikraum gegenüber, ein hermetischer "Angstraum", weltlich zwar, doch schrecklich gerade durch seine Preisgabe des Menschen an den Menschen.

Alternativ zur revolutionären Utopie bietet sich die evolutionäre Variante an: als Fortschritt. Seit 200 Jahren unterstehen wir seinem Diktat. Die Fortschrittsidee bildet die universalistische Gleichheitsnorm auf die Zeitachse ab; reale Unterschiede lassen sich so als "Entwicklungsrückstände abarbeiten". Die Fortschrittsidee zeigt eine antagonistische Binnenstruktur, polarisiert Zukunft und Vergangenheit. Polemisch funktioniert sie als "Erledigungsmaschine": verflüssigt Natur, zerstört geschichtliche Erfahrung und verschluckt Transzendenz.

Das monotheistische Erbe wirkt sich also verschärfend auf beiden Seiten aus. Die religiöse, islamische Sicht wie auch das westliche Globalisierungsprojekt spielen exklusivistisch "wahr" gegen "falsch" aus.

Voraussetzung zu all dem bildet, wie Jost Bauch gezeigt hat (JF 12/04), die Säkularisierung als Systemwandel, als "struktureller Atheismus". Der Glau-bensverlust ist gewissermaßen der Preis der Modernisierung. In traditionalen Kulturen bildet das Absolutum des Glaubens die unbedingte Mitte von Gemeinschaft. Religion als umgreifende Superstruktur, das A und O der Dinge, setzt den normativen Pol, dem alles Lebendige zugehört. Die kulturelle "Konstruktion der Wirklichkeit" stiftet dabei die symbolische Textur einer universalen Kosmologie, in der Immanenz und Transzendenz ein Kontinuum bilden, Menschliches und Göttliches sich vernetzt. Einheit, lebendige Totalität ist nur realisierbar durch ein zentripetales Ordnungsprinzip, das die relative Autonomie der Einzelnen konterkariert.

Doch moderne Evolutionsdynamik sprengt diese Einheit, funktionale Teilsysteme differenzieren sich aus, arbeiten selbstreferentiell und optimierungslogisch. Das erzeugt die multizentrische und multiperspektivische Welt, deren bestimmende Faktoren Pluralisierung, Temporalisierung und Relativierung heißen. Realität wird dadurch vollkommen fraktal: diskontinuierlich, heterogen, komplex. Jeweils unterschiedlich strukturierte Funktionsfelder und Milieus ergeben eine hybride Realitätscollage, krauser Flickenteppich mit Dame ohne Unterleib und Kalb mit den vier Köpfen. Das setzt der Identitätsbildung zu: Die vormalige Integration von Sozialstruktur, Weltbild, individuellem Bewußtsein löst sich auf. Äußere Pluralisierung spiegelt sich in inneren Turbulenzen, desintegriert und gefährdet - so Karl Rahner - den Menschen in seiner Personalität. Wird er sich in die Entscheidung auf Gott hin adäquat noch sammeln können?

Glauben und Kirche sind marginalisiert, sie verlieren ihren Gegenstand. Während alle Sachbereiche sich spezialisieren, ist einzig die Religion nicht ausdifferenzierbar. "Denn ihr Material, das Thema religiöser Kommunikation, sind der übergreifende Zusammenhang und die transzendentale Bedeutung sämtlichen gesellschaftlichen Erlebens und Handelns - auf den einzelnen Menschen bezogen: seiner biographischen Totalität." (Schimank) Wie bei Carl Schmitt die Parteien den Leviathan, so zersäbeln jetzt die Teilsysteme religiöse Ganzheit und Nor-mierungskompetenz und begeben sich in eine zentrifugale Entwicklungsdynamik; der Glaube selbst wird entwertet zur Funktion.

Der Absolutheitsanspruch religiöser Weltdeutung ist im systemischen Multiperspektivismus zersplittert: So erneuert sich das mythische Urdrama des paradiesischen Sturzes, der Fall aus der göttlichen Einheit in die endliche Vielheit der Welt. Die christlichen Kirchen verschärfen selbstsäkularistisch die Situation, indem sie die Themen spiritueller Theologie aufgeben, um sich ganz der Ethik zu verschreiben.

Auch Kultur und Wissenschaft sind inzwischen säkularisiert, versumpfen in Nabelschau und Endlosdebatten; ihre Gegenstände verschwinden zwischen kafkaesken Szenarien in Horizonten der Unerreichbarkeit. Ein seltsam utopischer Messianismus totalisiert den Ideologieverdacht und dogmatisiert gleichzeitig die "Differenz", bis zum Verbot sich schließender Sinngestalten. In Ulrich Becks Worten: "Der Gott der durchgesetzten Moderne ist der Zweifel. Er ist die Ureinsamkeit des nur noch mit sich selbst und seinem reflektierten Scheitern konfrontierten Menschen."

Das atheistische Vakuum bleibt freilich nicht unbesetzt. Globale Ökonomie und ethischer Universalismus, beides nihilistische Mächte, suchen den toten Gott zu beerben. Nach der technokratischen Unterwerfung des Lebens durch die instrumentelle Vernunft sucht moralischer Diskurs seine Durchrationalisierung zu vollenden. Beide pulverisieren das Menschsein, enteignen sein Selbst, indem sie es sozialpolitisch aufsaugen und Marktgesetzen unterwerfen. So wird die Gegenwart zum Alptraum aus Rationalität und Endlichkeit, vollends als "Zivilreligion". Diese kapert die ehemals transzendente Verfügungsgewalt über Legitimität, Schuld und Vergebung.

So steht als politische Identitätsbewirtschaftung in Deutschland die Gedenkreligion des Holocaust mit Auschwitz als "zivilreligiösem Karfreitag" (Schieder) schon vor der Tür ("Du sollst keine fremden Völkermorde neben mir haben.") War zuletzt die Erbsünde theologisch abgeflaut, so hat die deutsche Gegenwart säkularen Ersatz geschaffen. Wir finden uns jetzt nicht mehr dem gnädigen Gott gegenüber, der als Heiland versöhnt, sondern der Richtgewalt des Nebenmenschen ausgesetzt. "Mit dem Holocaust kam ein Fluch über die Deutschen (...) Denn der Holocaust ist ein verdammt großer schwarzer Schatten, der sie bis in die Ewigkeit auf Schritt und Tritt verfolgen wird." (Maxim Biller) Es ist klar, daß religiöse Menschen, kulturgebundene Menschen, (noch) traditionsgeleitete Menschen sich damit nicht abfinden, vielmehr Widerstand leisten werden, was es schwer macht, sie als Spielmarken im universellen Poker umherzuschieben.

Bei aller gebotenen Kritik und Wachsamkeit sollten wir im Auge behalten, daß hinter den theokratischen Hoffnungen verbitterter Muslime und der Selbstgerechtigkeit westlicher Propaganda auch die Konvergenz einer prophetischen Mentalität steht. Religionstypologisch werden Prophetie und Mystik als Mentalitäten und Frömmigkeitsstile unterschieden. Prophetisch gilt Außenorientierung, dualistische Realitätsmuster, Voluntarismus, Ethik, Politik, dynamische Weltdurch-dringung, Kampf. Dieser Aktivismus rigoroser Weltbemeisterung hat Europa groß, doch am Ende den Globus zum Alptraum gemacht. Der Mensch, heute ein Funktionär der letzten Mobilmachung, hat dabei selbst abgedankt. Wir wissen alles über das Außen, doch nichts von innen. Wir schauen nicht bloß nach außen, sondern, so Meister Suzuki, mittlerweile auch nach innen, als schauten wir nach außen, machen so auch noch das Innere zum Außen!

Deshalb sollte der Kulturkampf auch Anlaß geben, über die aktuellen Fronten weiterzudenken. Vielleicht stellt der westliche Imperialismus auch rückwirkend einige Komponenten des europäischen Weltbilds in Frage. Es gilt jedenfalls jetzt die Wiedergewinnung einer wirklich geistigen Dimension, welche die Zerklüftung heutiger Realität aufhöbe, hin zur Einheit der Welt im Mysterium Gottes, zur eigenen Mitte, zur Erschließung des Seins. Das prophetische Wahrheitsparadigma von wahr und falsch, schreibt Gustav Mensching, ist Unsinn. Wahrheit ist vielmehr das Erscheinende, göttliche Wirklichkeit selbst, aletheia, deren Teilhabe den Menschen "wesentlich" macht.

Ludwig Gabriel Schrieber, Europa (Brennendes Dorf), Gemälde 1948:

Der Fortschritt zehrt an der Substanz des Abendlands, aus dem er selbst geboren wurde.

Wolfgang Saur, Jahrgang 1959, studierte Geschichte und Germanistik und lebt als freier Publizist in Berlin.


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