© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/04 20. August 2004

Der lädierte rechte Flügel
Politische Analyse: CDU und CSU setzen ihren Anpassungskurs an die Linke fort / Konservative sind in der Partei personell und programmatisch nicht mehr präsent
Peter Freitag

Wer die Invektiven des CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber in Richtung seiner bürgerlichen Kollegen Angela Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP) - mögen sie nun wortwörtlich so gefallen sein, wie in der Presse kolportiert, oder nicht - für einen bloßen Ausbruch persönlicher Animositäten hält, erfaßt nicht die gesamte Tragweite der Auseinandersetzungen, vor denen die Unionsparteien derzeit stehen.

Was auf den ersten Blick aussieht wie aufgewärmte antiborussische Ressentiments eines bayerischen Sonderbewußtseins ("ostdeutsche Protestantin") oder die Nachahmung Straußscher Granteleien gegen die Macht am Rhein ("Junggeselle aus Bonn") ist vielmehr eine chiffrierte Absage Stoibers an eine Veränderung von Inhalten und politischen Zielsetzungen, die die so titulierten Parteichefs verkörpern und die der bayerische Ministerpräsident seiner Stammwählerschaft nicht zumuten möchte. Es geht nicht um eine vom süddeutschen Katholizismus abweichende Konfession und nicht um einen unverheirateten Rheinländer; sondern es geht um die Frage, ob der nächste Bundestagswahlkampf der Union programmatisch auf eine säkularisierte Zielgruppe zugeschnitten werden soll und ob man sich dafür mit einem potentiellen Koalitionspartner verbündet, dessen offenes Bekenntnis zur Homosexualität samt Forderung nach rechtlicher Anpassung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften an die Ehe nur schwer vereinbar mit dem ist, was man allgemein unter christlichsozialer Familienpolitik versteht.

Essentiell Konservatives bleibt auf der Strecke

Stoibers Befürchtung ist offensichtlich, daß man auf diese Weise bei der von Merkel und Westerwelle umworbenen Wählerschicht (in der "neuen Mitte") zu wenig gegen das Duo Schröder/Fischer wird ausrichten können und andererseits zu viele konservative Stammwähler verliert. Die Verstimmung des ehemaligen Kanzlerkandidaten über die Spitze der Schwesterpartei dürfte vor allem durch die Einsicht hervorgerufen worden sein, daß sich das sprichwörtliche "Frühstück von Wolfratshausen" samt Merkels Verzicht auf die Spitzenkandidatur inzwischen als ein Pyrrhussieg herausstellte. Denn womit die Christdemokraten seit der knapp verlorenen Bundestagswahl 2002 hadern, sind die wahlberechtigten Großstädter, deren Abstimmungsverhalten als Hauptursache für die Verluste der Union ausgemacht wurde. Ihnen soll sich die Partei programmatisch annähern, attraktiver für die "neuen etablierten großstädtischen Gesellschaften werden", wie CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer es ausdrückte. Eigens dafür ist eine Arbeitsgemeinschaft "Große Städte" unter Führung des Merkel-Vertrauten Jürgen Rüttgers ins Leben gerufen worden, die das Image der Partei in den Metropolen aufbessern soll - und zwar genau in jenem neoliberalen Sinne, der Stoiber nun mißfällt. Bestärkt wird dieser Kurs nicht zuletzt durch den Sieg Ole von Beusts bei der Hamburger Bürgerschaftswahl im Februar. Die Tatsache, daß bei der jüngsten Europawahl der allgemeine Trend in den Großstädten zuungunsten der Union nicht umgekehrt werden konnte, scheint den Merkel-Flügel jedoch eher zu bestätigen, den eingeschlagenen "Modernisierungskurs" weiter zu verfolgen. Daß beim Schielen nach der Gunst der entsprechenden Klientel gerade in den Bereichen Familien- und Ausländerpolitik manches essentiell Konservative auf der Strecke bleibt, kann nicht verwundern.

Da die CDU ohnehin nie eine Partei war, in der Grundsatzdebatten einen hohen Stellenwert einnahmen, wird der von Merkel eingeschlagene Kurs wohl keinen nennenswerten innerparteilichen Widerstand hervorrufen. Zumal die "Anpassung an neue Realitäten" meist nur in Form einer Akzentverschiebung bei gleichzeitiger Beibehaltung der "programmatischen Werte" vonstatten geht. Beispielhaft für diesen stillen Wandel ist der Umgang mit dem "C" der Partei. Im Grundsatzprogramm heißt es dazu: "Das christliche Verständnis vom Menschen ist unser geistiges Fundament und der historische Ausgangspunkt unserer Partei." Der Verweis auf das entsprechende Menschenbild ist spätestens seit Merkels Amtsantritt an der Spitze der Partei der einzige Rekurs auf ein christliches Selbstverständnis, welches nach Ansicht von Parteienforschern immer weiter in den Hintergrund rückt. Aufschlußreich ist zudem die von Merkel dazu in einer Debatte abgegebene Definition: "Jeder Mensch ist einzigartig, jeder unterscheidet sich von den anderen." Darin kommt nicht nur zum Ausdruck, daß die in der DDR sozialisierte CDU-Vorsitzende Religion in erster Linie als zum Privaten gehörend versteht, sondern auch, daß die machtbewußte Merkel ein weitergehendes christliches Bekenntnis für innerparteilich kaum durchsetzbar hält.

Zuletzt zeigte die Bioethik-Debatte um Verbote des Klonens in der Gentechnik die Bruchlinien innerhalb der Partei. Was den personellen Rückhalt im Parteivorstand angeht, so sind bei dieser Auseinandersetzung die christlich motivierten Lebensschützer, etwa die Christdemokraten für das Leben, im klaren Nachteil gegenüber dem liberalen Flügel.

Ebenso uneindeutig fallen die Aussagen zum Konservativismus der CDU aus. Im Grundsatzprogramm verweist die Partei noch auf ihre Gründer, deren Herkunft "christlich-sozial, liberal und konservativ" gewesen sei. Aktuell gehören in den Kanon der CDU "wertkonservative Gedanken ebenso wie christlich-soziale und liberale Überzeugungen". Im Gegensatz zu den beiden letzteren Begriffen, die unverändert aus der Tradition in die Gegenwart übernommen wurden, fühlte man sich offensichtlich bemüßigt, das Präfix "wert-" dem "konservativ" voranzustellen. Fallen einem bei "christlich-sozial" und bei "liberal" noch ein jeweiliger Parteiflügel und entsprechende Positionen - etwa Stichworte wie "katholische Soziallehre" oder "Marktwirtschaft" - ein, wirft die Bezeichnung "wertkonservativ" bloß Fragen auf. Bereits vor vier Jahren wies Karlheinz Weißmann in einem Artikel für die Zeitschrift Gegengift auf den sich dahinter verbergenden Linksruck der CDU unter Merkel hin. "Wertkonservativ" ist demnach eine Erfindung des SPD-Politikers Erhard Eppler, der den Begriff als (aus linker Sicht) positives Gegenstück zum (rechten) "Strukturkonservativismus" und dessen Festhalten an tradierten Institutionen definiert wissen wollte. Nach Weißmanns Ansicht geht mit der Sympathie für Merkels "Wertkonservativismus" inner- und außerhalb der Partei der "faktische Bedeutungsverlust, den der konservative Flügel der CDU erlitten hat", einher. Diese Amputation des rechten Flügels der Partei wird personell offensichtlich, wenn mit Jörg Schönbohm nur ein einziges Mitglied des Bundesvorstands mit diesem in Verbindung gebracht werden kann. Organisatorisch zeigte sie sich jüngst besonders dramatisch beim "Fall Hohmann", in dem auch eine große Anzahl von Protest-Unterschriften aus der Basis der Partei keinerlei Rückhalt an der Spitze fand.

Machtpositionen statt ideologische Substanz

Das Dilemma mit dem Konservativismus in der CDU ist wahrlich nicht neu. Anläßlich des 70. Geburtstag des mittlerweile verstorbenen früheren Fraktionsvorsitzenden Alfred Dregger schrieb Karl Feldmeyer im Dezember 1990 in der Frankfurter Allgemeinen, Dregger sei "der Mann, der sich unbefangen als Repräsentant des national-konservativen Flügels der CDU bezeichnet, auch wenn das tiefe Schweigen, mit dem seine Partei darauf reagiert, unüberhörbar ist". Und zutreffend heißt es weiter: "Denn für den Flügel, für den er steht, gibt es in seiner Partei zwar Wähler, aber außer ihm kaum einen Politiker."

Diese personelle Lücke klafft seitdem noch tiefer; daß mit Martin Hohmann nicht nur Dreggers direkter Nachfolger im Bundestagswahlkreis, sondern auch sein praktisch einziger politischer Erbe aus der Fraktion und mittlerweile aus der Partei entfernt worden ist, veranschaulicht die Tragik des rechten Flügels der Union.

Andere Köpfe, die dort einst als Aushängeschilder tauglich gewesen wären, sind seither entweder politisch kaltgestellt - wie beispielsweise die Sachsen Steffen Heitmann und Heinz Eggert - oder in Regierungsverantwortung eingebunden worden wie die Hessen Manfred Kanther und Roland Koch, denen dadurch fast zwangsläufig manches Profiliertere abhanden kam.

Das 1992 von Claus Jäger, Wilfried Böhm und Heinrich Lummer gegründete Christlich-Konservative Deutschlandforum (CKDF) wurde von den Funktionären im Konrad-Adenauer-Haus bald schon als Störfaktor identifiziert. Obwohl sich zu der Zeit landauf, landab CDU-Konservative zu Interessenverbänden zusammenschlossen, verhinderte die Parteiführung von Anfang an deren Etablierung als offizielle Mitgliedsvereinigungen der CDU. Praktisch alle prominenteren Christdemokraten, die vom CKDF umworben worden sind, haben nach einem Fingerzeig der Parteispitze lieber abgewunken; der damalige baden-württembergische Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder ist nur ein Beispiel.

Der im Umfeld des damaligen Generalsekretärs Peter Hintze gängige Spott, der Rheindampfer, auf dem das CKDF gegründet worden war, sei eine "Titanic", erwies sich als zutreffend.

Explizit "rechte" Inhalte werden in der Union seitdem nur fallweise aufgegriffen, wenn sie sich für einen erfolgreichen Wahlkampf eignen. Die 1999 ins Leben gerufene Kampagne gegen die doppelte Staatsangehörigkeit, die mitverantwortlich für den Wahlsieg in Hessen war, bestätigt dies. Wie wenig es der Union um eine inhaltliche Fundierung des Themas "nationale Identität" ging, zeigt der Umgang mit der von Friedrich Merz angestoßenen Debatte um die "Leitkultur", die auf Anordnung der Parteispitze - noch ehe sie richtig begonnen hatte - abgebrochen worden war. Im Verfolgen eines jeder weitergehenden Konturierung entkleideten Kurses, in der konsequenten Ausklammerung all dessen, was über einen tagespolitischen Pragmatismus hinausgeht, erweist sich Merkel als gelehrige Schülerin Helmut Kohls. Wie ihm geht es der Parteichefin in erster Linie um den Erhalt bzw. Erwerb von Machtpositionen, nicht um den Ausbau der ideologischen Substanz der Partei.

Im Bemühen, die säkularisierten Wechselwähler in den Großstädten an die CDU zu binden, werden Merkels Verbündete dort wieder ansetzen, wo sie nach der Nominierung Stoibers zum Kanzlerkandidaten 2002 zwangsweise unterbrochen wurden. Denn der Bayer hatte die von Merkel geprägten Begriffe ("Neue Soziale Marktwirtschaft" und "Wir-Gesellshaft") sorgsam gemieden, weil er die damaligen Bedenken teilte, durch sie könne das traditionelle Profil der Unionsparteien Schaden nehmen. Trotz mancher im Wahlkampf sichtbaren Häutungen, die der früher gern markiger auftretende Bayer vollzogen hatte, kam er dem Wunschbild des Unions-Stammwählers traditioneller Prägung weitaus näher als die Vorsitzende der Schwesterpartei.

Mit der berufstätigen, kinderlosen und geschiedenen CDU-Chefin hätte man ein Aushängeschild, welches der umworbenen Zielgruppe in puncto Lebenserfahrung ähnlicher wäre als der verheiratete Familienvater Stoiber. Familienpolitisch vollzog die CDU bereits 1999 eine Revision, indem sie ausdrücklich auch Alleinerziehende und Unverheiratete mit Kindern als Familie definierte. Erstmals wurden sogar gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in einem Programmbeschluß respektiert. Daß sich von einem solchen Kurs die Vertreter der "Lesben und Schwulen in der Union" (LSU) bestärkt fühlen, versteht sich von selbst. Schon jetzt führt die Bundespartei die LSU als "sonstige Gruppe" offiziell auf, im Status gleichrangig mit den Christdemokraten für das Leben (CDL).

Eine Aufwertung erhoffen sich auch die momentan zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallenden Vertreter des Deutsch-Türkischen Forum (DTF) der CDU. Hier lockt die Aussicht, mit Ausländerorganisationen in Kontakt zu treten und so die in den Großstädten zahlreich vertretenen türkischstämmigen Wähler anzusprechen, die noch vermehrt zu Rot-Grün tendieren. Auch dafür kann die gewonnene Hamburg-Wahl als richtungweisend verstanden werden, da Spitzenkandidat von Beust mit seinem Bekenntnis für einen EU-Beitritt der Türkei Sympathien bei jenen erwarb, die der CDU eher kritisch gegenüberstehen. Hinzu kommt, daß der DTF-Vorsitzende Bülent Arslan Mitglied im Vorstand der nordrhein-westfälischen CDU ist und über einen guten Draht zu Jürgen Rüttgers verfügt, der wiederum die programmatische Erneuerung der Union maßgeblich mitbetreibt. Und laut Pressemeldungen soll Generalsekretär Meyer bei einem Treffen mit Vertretern der türkischen Regierungspartei AKP in Berlin nicht mehr auf einer strikten Ablehnung der türkischen EU-Mitgliedschaft durch die Union beharrt haben.

Erschließung neuer Wähler mit weichen Themen

Die innerparteiliche Debatte, wie man in den Großstädten weitere Stimmenverluste verhindern kann, erinnert stark an die Ende der siebziger Jahre in der CDU aufgekommene Auseinandersetzung um die "Neue Soziale Frage", die der damalige Generalsekretär Heiner Geißler eingeführt hatte. Damals wie heute stritt man um die Attraktivität der Union bei "weichen" Themen, und damals wie heute stand der Erschließung neuer Wählerschichten der Verlust von Stammwählern gegenüber. Die Befürworter der damaligen Neuausrichtung behielten jedoch letztlich recht, wenn sie darauf verwiesen, daß sich die konservativen Milieus ohnehin mit der Zeit auflösen würden.

Geißlers Ausspruch, wonach "Wahlen in der Mitte gewonnen werden, nicht durch Verbeugungen nach rechts oder links", gilt für die Funktionsträger noch immer. Zumal für die Restbestände der traditionellen Milieus die CDU eine beliebte Doppelstrategie bereithält, indem man ihnen bestimmte Parteiorganisationen vorweist, die ihren Anliegen nahestehen, ohne daß dadurch der Kurs der Bundespartei maßgeblich beeinflußt wäre. Beispielhaft dafür ist aktuell die Reaktion auf die Warschauer Rede Gerhard Schröders mit ihrem Affront gegen die Vertriebenen: Die Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung (OMV) der CDU formuliert - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - ihren Protest, CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer erklärt dagegen, Schröders Ausführungen würden "von der CDU im Kern geteilt".

Anstelle konservativer Stammwähler haben die Vorreiter der programmatischen "Neuausrichtung" als zu erschließende Zielgruppe mittlerweile die Wähler der Grünen im Visier. In den Großstädten, so die Studie der CDU-Arbeitsgemeinschaft "Große Städte", erhält die Ökopartei zum Teil mehr Stimmen als die Union. Da diese Wähler, was Bildungsniveau, Geldbeutel und bürgerliche Herkunft angeht, dem potentiellen CDU-Wähler nicht weit entfernt sind, will man sich ihnen auch in puncto "Lebensgefühl" annähern. Wobei sich auf diesem Wege nicht nur neue Wähler, sondern auch ein möglicher neuer Koalitionspartner erschließen könnte. Gerade in einigen westdeutschen Großstädten werden entsprechende Versuche mit schwarz-grünen Koalitionen bereits unternommen. In der Aprilausgabe der Zeitschrift Die Politische Meinung, herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung, sieht der CDU-Politiker Michael Jung im Verhältnis von Union und Grünen mittlerweile mehr "Brücken als Barrieren". Grund dafür seien "Kongruenzen im jeweiligen Wertkonservatismus" (!) und die Tatsache, daß man sich gegenüber den jeweiligen Rändern stark abgegrenzt habe: Die Grünen seien nunmehr "systemtragend", und die CDU distanziere sich "stärker als in den siebziger Jahren" vom rechten Rand, was nicht zuletzt der "Fall Hohmann" gezeigt habe.

Interessant werden Jungs Ausführungen, wenn er bestehende Unterschiede in den Bereichen Kriminalitätsbekämpfung, Familienpolitik und Zuwanderung auflistet. Hier vertrete die Union "noch" stärker das repressive Element, halte "noch" den traditionellen Familienbegriff hoch und begegne multikulturellen Strömungen "noch" reserviert. Vielleicht unbeabsichtigt, aber doch zutreffend fügt der Autor den Aussagen, wofür die CDU programmatisch steht, einen wichtigen, gleichzeitig einschränkenden Zusatz an: noch.


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