© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/04 20. August 2004

Neuer Konflikt um den Rinderwahn droht
Gesundheitspolitik: Nach neuen BSE-Forschungsansätzen fällt der Genetik eine Schlüsselfunktion zu
Harald Ströhlein

Die Rinderkrankheit Bovine Spongiforme Enzephalopathie - besser un-ter dem Kürzel BSE bekannt - ist zwar aus den Schlagzeilen verschwunden, aber im wahren Leben nach wie vor präsent. Bislang wurden in der EU, überwiegend in Großbritannien, fast 190.000 erkrankte Rinder registriert. In Deutschland fielen seit dem ersten Krankheitsfall gegen Ende des Jahres 2000 exakt 324 Tiere dem Rinderwahn zum Opfer.

Daß von einer Entwarnung abgesehen werden muß, verdeutlicht die aktuelle Statistik: Mit den bis zur Jahresmitte in Deutschland gezählten 32 Neuerkrankungen wurden bereits zwei Drittel des Vorjahresniveaus erreicht.

In der Tat rief die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen zu weltweit schärferen BSE-Kontrollen auf. Auch die Europäische Kommission tat kund, daß die Gemeinschaft noch etliche Jahre mit der Seuche leben müsse. Besonders Deutschland warnte man vor allzu großer Euphorie angesichts der im Jahre 2003 im Vergleich zu den beiden Vorjahren sinkenden Befallsrate. Vielmehr sagten die Experten wegen der im Jahre 1999 erhöhten Risikoexposition und der durchschnittlichen Inkubationsphase von fünf bis sechs Jahren weitere Seuchenberge voraus.

All diese Prognosen fußen auf der populären Tiermehl-Hypothese, die von den Briten Mitte der Neunziger als Ursache der verheerenden Pandemie favorisiert wurde und ihre Verbreitung fand. Demnach infizierten sich Rinder über Futtermittel, die mit nicht ausreichend erhitzten Schlachtabfällen versetzt waren. Ein BSE-verwandter Erreger der beim Schaf auftretenden Traberkrankheit brachte den animalischen Furor ans Tageslicht.

Wenn dem so ist, wird man in Deutschland den Fall BSE in ein paar Jahren ad acta legen können. Denn bei einer Lebenserwartung unserer Milchkühe von rund fünf Jahren und dem seit Anfang 2001 erlassenen Verfütterungsverbot von Tiermehl sollte die Befallsrate mittelfristig fallen.

Forschung und Gesetzgebung für Tiermehl-Hypothese

In dieses Konzept passen allerdings nicht jene in Großbritannien erfaßten Erkrankungsfälle, welche die wissenschaftliche These und die danach ausgerichtete Gesetzgebung ad absurdum führen. Dort nämlich erkrankten Rinder, die erst nach dem Inkrafttreten des Tiermehlverfütterungsverbotes im Jahre 1996 geboren wurden. Auch in Irland und Portugal wurde dieses Phänomen von offizieller Seite bestätigt. Taugt demnach die Tiermehl-Hypothese als einzige Erklärung für den nach wie vor grassierenden Schwelbrand in der Rinderhaltung?

Der ehemals an Hochschulen in Amerika und Deutschland forschende und lehrende Roland Scholz vertrat schon während des BSE-Desasters seine eigene Ansicht über die rätselhafte Rinderkrankheit und deren Ursache. Nach Meinung des Biochemikers und Physiologen sind alle "spongiformen Enzephalopathien" auf einen genetischen Defekt zurückzuführen. Diese gehäuft in Inzuchtpopulationen auftretenden Gehirnerkrankungen sind laut Scholz unter dem Mikroskop an löchrigen, schwammartigen Gewebestrukturen des Gehirns und an Proteinablagerungen an und in Nervenzellen zu erkennen. Die Folge: Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden unterbunden, und ganze Hirnareale fallen aus. Der Wissenschaftler weiß, daß dieser Plaquebildung eine Mutation zugrunde liegt, die unbeabsichtigt ihre Verbreitung durch die Züchtung fand.

Darauf aufbauend mutmaßt der Professor, daß im Zuge der künstlichen Besamung schon ein einziger Deckbulle - zwar mit hervorragender Vererbungsleistung, aber mit genetischer Fehldisposition - genügte, um den Defekt auf ganze Rinderherden zu übertragen. Wie sonst sei es zu erklären, daß sich in Großbritannien das Auftreten dieser tückischen Krankheit eng an die Grenzen der Counties hielt? Denn die staatlichen Besamungsanstalten und deren Aktionsradius sind strikt an ihre jeweilige Grafschaften gebunden.

Für den emeritierten Professor jedenfalls taugt die Tiermehl-Hypothese keineswegs. Denn: Schon um 1900 wurden tierische Schlachtrückstände im Wiederkäuerfutter verwertet, und der Einsatz war seit dieser Zeit weltweit Usus. Vielmehr spricht er von einer ungeprüften Lehrmeinung, denen die Briten im Zenit ihres BSE-Debakels aufgesessen seien und von der sich sogar die Forschung blenden ließ.

Es wäre fatal, wenn dem so wäre. Denn über 130 Projekte widmen sich auf Länder-, Bundes- und EU-Initiative dem Mysterium BSE und verschlingen jährlich Millionen in zweistelliger Höhe. Prophylaxe, Pathogenese und Therapie bilden die Schwerpunkte der Forschungsarbeiten; genetische und populationsgenetische Ansätze stehen dabei im Hintergrund. So hält die Deutsche Forschungs-Gemeinschaft knapp eine Million Euro für einen Zeitraum von drei Jahren für genetische Untersuchungen beim Wiederkäuer bereit.

Resultate einzelner Versuche sollen in absehbarer Zeit vorliegen. Angesichts des wirtschaftlichen Schadens von fast 500 Millionen Euro und des Imageverlustes, den die Agrar- und Ernährungswirtschaft erlitten hat, ist die Erwartungshaltung enorm.


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