© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/04 20. August 2004

Der Baltische Weg
Vor fünfzehn Jahren wurde anläßlich des 50. Jahrestages des Hitler-Stalin-Paktes im Baltikum das Völkergefängnis Sowjetunion in Frage gestellt
Martin Schmidt

Vor fünfzehn Jahren, am 23.August 1989, erlebte das Baltikum eine unvergeßliche Bekundung des Unabhängigkeitswillens: Auf den 600 Kilometern zwischen Reval, Riga und Wilna bildeten weit über eine Million Esten, Letten und Litauer die längste Menschenkette aller Zeiten.

Um 19.00 Uhr erreichte damals der Protest gegen den ein halbes Jahrhundert zuvor unterzeichneten Molotow-Ribbentrop-Pakt (auch als Hitler-Stalin-Pakt bekannt) seinen Höhepunkt. Die Menschen faßten sich an den Händen und beschworen ihren Willen, die letztlich auf den Sommer 1939 zurückgehende Unfreiheit zu beenden. Unzählige Kerzen brannten für die nationale Wiedergeburt.

In einem Aufruf der im "Baltischen Rat" zusammengeschlossenen Volksfronten konnte man folgenden Appell an die Nachbarländer lesen: "Aus der Asche des Zweiten Weltkrieges sind überall neue Dörfer, Städte und Staaten entstanden - doch die drei baltischen Staaten (...) liegen noch immer darnieder. Habt ihr kein Gefühl dafür, daß wir nicht unter euch sind? (...) Wir werden als verlorene Söhne betrachtet, doch wir selbst haben uns nie verlorengegeben. Laßt uns einander die Hände reichen und auf dem gemeinsamen Weg voranschreiten: Der 'Baltische Weg' - das ist der Weg Europas, der 'Baltische Weg' - das ist der Weg der Befreiung der letzten Kolonien Europas, der 'Baltische Weg' - das ist der Weg zur Errichtung unseres gemeinsamen Hauses! Wir sind bereit, wir gehen schon voran!"

Signalwirkung zur Rebellion gegen das Sowjetimperium

Nur ein paar Monate später, am 24. Dezember 1989, bestätigte der Oberste Sowjet - quasi als Weihnachtsgeschenk an die baltischen Völker - die Existenz der bis dahin geleugneten Geheimen Zusatzprotokolle zum Molotow-Ribbentrop-Pakt, in denen Estland, Lettland und Litauen der sowjetischen "Interessensphäre" zugewiesen wurden. Diese seien "juristisch unbegründet und ungültig", so hieß es. Doch die Verurteilung der auf dem Abkommen basierenden Okkupation durch die Rote Armee blieb aus. Sie hatte im Oktober 1939 mit der Besetzung von Militärbasen ihren Anfang genommen und war im August 1940 mit der offiziellen Einverleibung in die UdSSR abgeschlossen worden.

Die weit über das Baltikum hinausgehende Bedeutung des dortigen Umbruchs liegt in seiner Signalwirkung für andere Rebellionen gegen das Sowjetimperium. Die Massenbewegung der Esten, Letten und Litauer hatte deutlich früher begonnen als die "Samtene Revolution" in der Tschechoslowakei oder die Demonstrationen in der DDR im Herbst 1989.

Bereits 1986 tauchten in estnischen Zeitungen Unmutsäußerungen gegen die Russifizierung auf. Im Folgejahr begannen die Kundgebungen gegen den zerstörerischen Ölschiefer-Abbau. Auch in Litauen verbanden sich ökologische und nationale Bewegung. Hauptärgernis waren die von den Moskauer Behörden geplante Ölförderung im Schelf der Ostsee mit wahrscheinlich katastrophalen Folgen für die Kurische Nehrung sowie der angekündigte Bau eines Kernkraftwerkes vom Typ Tschernobyl in Ignalin (Ignalina). 600.000 Menschen unterzeichneten einen Aufruf, diese Pläne sofort zu stoppen. Größere Proteste gegen den Molotow-Ribbentrop-Pakt gab es in den baltischen Ländern bereits am 23. August 1987. Knapp drei Monate später lieferten sich freiheitsliebende Letten in Riga und Libau anläßlich des 69. Jahrestages der Proklamation der Unabhängigkeit am 18. November 1918 Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften.

Die entscheidenden Weichen wurden dann im Sommer und Herbst 1988 gestellt: Riesige Demonstrationen leiteten die eigentliche "Singende Revolution" ein, und im Oktober formierten sich die rasch an Einfluß gewinnenden "Volksfronten". Mit der Revaler Erklärung vom 14. Mai 1989 formulierten sie offen das Ziel der "staatlichen Souveränität".

Estland, Lettland und Litauen gehören zu den kleinsten europäischen Staaten. Im Ausland werden sie und ihre Titularvölker oft als kulturpolitische Einheit wahrgenommen. Dann ist von "dem Baltikum" und "den Balten" die Rede. Zur geographischen Einordnung der heute südlich des Finnischen Meerbusens lebenden Völker ist das sinnvoll, ansonsten allerdings durchaus fragwürdig. Von "den Balten" im obigen Sinne zu sprechen, ist schon deshalb falsch, weil der Begriff besetzt ist und die früher in Estland, Livland und Kurland beheimatete deutsche Oberschicht zusammenfaßt.

Esten, Letten und Litauer sind grundverschiedene Völker

Auch sonst ist die vereinheitlichende Wortwahl irreführend, denn Esten, Letten und Litauer sind grundverschiedene Völker. Das fängt schon bei Herkunft und Sprache an - Letten und Litauer sind indogermanischer Abstammung, die Esten finno-ugrischer - und schließt die Mentalitäten, die Konfessionen und die räumliche Selbstverortung ein. Estland und Lettland haben eine lutherische Prägung, Litauen dagegen ist tief katholisch. Vor allem die von ihren südlichen Nachbarn oft als maulfaule Individualisten eingeschätzten Esten sehen sich in engem Zusammenhang mit Skandinavien und betonen ihre geographische wie abstammungsmäßige Nähe zu den Finnen.

Die Letten orientieren sich ebenfalls weitgehend am Norden, besonders an Schweden, während sich die stärker zur Gruppenbildung neigenden und als vergleichsweise temperamentvoll geltenden Litauer (manche sprechen gar von den "baltischen Italienern") mehr in Mitteleuropa verorten. Daß sich der Sammelbegriff "Baltikum" bei uns trotzdem viel stärker durchsetzte als etwa die "Benelux-Staaten", hat seine Ursache zum einen in der verbreiteten Unkenntnis Ostmitteleuropas, zum anderen in den großen geschichtlichen Parallelen.

Man denke an die Eroberung und Christianisierung durch den Deutschen Orden bzw. den Schwertbrüderorden, an den beträchtlichen schwedischen bzw. später russischen Einfluß und nicht zuletzt an das Trauma des Hitler-Stalin-Paktes mit der anschließenden Zwangsherrschaft Sowjetrußlands, gegen das nach dem Zweiten Weltkrieg ein jahrelanger erbitterter Partisanenkrieg geführt wurde.

Alle drei baltischen Völker waren in ihrer langen Geschichte nur für kurze Zeit selbständig. Die existenzbedrohende Unterdrückung durch die großrussischen Kommunisten bildete nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1990 die Grundlage für eine sehr ähnliche Geschichtspolitik. Begriffe wie der "Baltische Weg" oder Einrichtungen wie das "Baltic Defense College" und das Luftüberwachungsprogramm "BALTNET" zeugen von den gemeinsamen Leiderfahrungen.

Verarbeitet wird die fünfzig Jahre währende Ära der Fremdherrschaft (1940-90) nicht zuletzt in einigen großen und vielen kleineren Museen und Gedenkstätten. In Estlands Hauptstadt Reval (Tallinn) zeigt das im Juli 2003 eröffnete, unweit des Parlaments gelegene "Museum der Okkupationen" Hunderte Videofilme, Fotos und Gegenstände, die vom Leid der über 35.000 in Viehwaggons nach Sibirien verschleppten Esten erzählen sowie von den etwa tausend unter der NS-Herrschaft verschwundenen Juden des Landes. Man kann Videos mit Zeitzeugenberichten ansehen, originale Sträflingsanzüge oder in ihrer Nüchternheit beklemmende stählerne Gefängnistüren.

Schicksalsgemeinschaft durch die sowjetische Besatzung

In Riga gibt es direkt neben dem wiederaufgebauten Schwarzhäupterhaus ebenfalls ein "Museum der Okkupation". Es befindet sich im selben Gebäude, in dem die Kommunisten einst das Andenken an die lettischen "Roten Schützen" feierten. In Litauen hat das zeitgeschichtliche Interesse auch skurrile Blüten getrieben. In der 120 Kilometer südwestlich von Wilna gelegenen Ortschaft Grutas entstand eine an die Sowjetherrschaft erinnernde Mischung aus Freizeitpark und Freilichtmuseum. Ein Dreißig-Hektar-Gelände wurde mit Stacheldraht und Wachttürmen umgeben und soll den Eindruck eines Gefangenenlagers vermitteln. Überall stehen ausgediente Denkmäler einstiger Sowjetgrößen herum - Lenin, Stalin usw. Bei dem kommerzträchtigen Unterfangen handelt es sich nach Angaben der Betreiber um den ersten und bislang einzigen Sowjet-theme park der Welt. Das inoffiziell als "Stalin World" bezeichnete Gelände ist zum Ziel heftiger Kritik geworden. Insbesondere manche der etwa 60.000 überlebenden Deportationsopfer in Litauen werfen den Machern Verharmlosung des roten Terrors vor.

Auf jeden Fall verbindet die Erinnerung an die sowjetische Besatzung die drei Länder aufs engste. Mit wachsender zeitlicher Distanz zur "Singenden Revolution" gegen Moskau wird dieses Bindeglied immer schwächer und rückt die fortbestehenden Unterschiede zwischen den baltischen Völkern in den Vordergrund. Spätestens seit deren Beitritt zur Europäischen Union wird es auch für die Deutschen Zeit, sich genauer mit diesen Unterschieden zu beschäftigen.

Foto: Teilnehmer der 600 Kilometer langen Menschenkette anläßlich des fünfzigsten Jahrestages des Hitler-Stalin-Paktes im 23. August 1989 in Riga: Befreiung der letzten Kolonien Europas


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