© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/04 27. August 2004

Pankraz,
W. Spiess und der Fisch aus dem Fusarosee

Werner Spiess, der Kunstpapst der klassischen europäischen Moderne und ehemalige Leiter des Pariser Centre Pompidou, hat (in der FAZ) eine zornige Philippika gegen die beim Publikum so erfolgreiche MoMA-Schau in Berlin losgelassen. Die Bestände des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), die in Berlin gezeigt werden, seien - so Spiess - von den amerikanischen Ausstellungsmachern in geradezu "kolonialistischer" Art ausgewählt und arrangiert. Die Schau sei im Grunde ein riesiger Skandal. Sie verschiebe heimtückisch die wahren Proportionen und verfälsche die Kunstgeschichte.

Alles laufe - so Spiess weiter - auf eine dröhnende Feier der amerikanischen Pop-Kunst aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus. Europäische Kunst aus der gleichen Ära, von der das MoMA doch reichlich Werke besitze, komme faktisch nicht vor. Und die großen europäischen Bewegungen und Künstlergestalten der Vorkriegszeit, die den US-Pop erst möglich gemacht hätten, Fauvismus und Surrealismus, Picasso, Masson, Max Ernst e tutti quanti, schrumpften in der Berliner Perspektive zu einfachen "Vorläufern" zusammen, die ihren Gipfelpunkt und ihre Erfüllung erst später im US-Pop gefunden hätten.

Starker Tobak dies, zweifellos. Kann man doch davon ausgehen, daß die Leute, die die Ausstellung aufgebaut haben, ganz gewiß keine Demonstration kolonialistischer Anmaßung im Sinne hatten. Sie haben es von vorne bis hinten "gut gemeint", sie wollten in erster und auch noch in zweiter und dritter Linie ausschließlich den populären Publikumsgeschmack bedienen, und das ist ihnen ja auch glorios gelungen. Hunderttausende strömen in die Schau hinein und fühlen sich amüsiert und bestätigt. Die MoMA ist das Kunstereignis des Jahres 2004.

Genau betrachtet ändert das freilich nichts an der Kritik von Spiess, ja, es vertieft sie sogar noch, verleiht ihr einen "objektiven" Hintergrund. Das europäische Massenpublikum, so zeigt sich, ist mit den MoMA-Machern vollkommen einverstanden, es sieht sich durch die ungenierte Reduzierung der europäischen Kunstleistung zugunsten der amerikanischen nicht im geringsten in seinem europäischen Stolz gekränkt, sondern nimmt sie für selbstverständlich. Unzählige Besucher denken beim Durchschreiten der Ausstellung: "Ja, so war es! Es begann mit Picasso und endet bei Warhol. So mußte es kommen. Warhol macht ja viel mehr Spaß als Picasso, ist viel verständlicher."

Feinsinnige Ästheten wie Spiess mögen das degoutant finden, und es ist auch degoutant. Was einst als kühne Provokation eingeschliffener Sehweisen und befreiendes Niederreißen von künstlerischen Grenzen begann, geht vor Anker als seichtestes Spaßvergnügen bloßer Effekt-Wahrnehmer, die zudem eine große Genugtuung empfinden bei der Beobachtung, daß leere Coca-Cola-Flaschen und dergleichen als Kunst ausgestellt werden. Man braucht sich also keine Mühe mehr zu geben! Man muß nur frech genug sein, irgend etwas zu behaupten, und schon rollt der Dollar oder der Euro, hurra!

Es geht in Berlin weniger um die Kolonialisierung Europas durch Amerika, vielmehr um die Kolonialisierung eines einstmals hochdifferenzierten ästhetischen Sinnes durch populären Massengeschmack. Sicher, daß der Impuls dazu aus Amerika kommt, ist wohl nicht zufällig, denn dort war der Massengeschmack von Anfang an zu Hause, sehnte sich schon immer danach, zum allgemeinen und gefeierten Leitbild aufzusteigen. Aber der örtliche Pöbel wartete, wie stets in solchen Fällen, auf einen zündenden Funken von oben. Und diesen Funken warfen nicht Amerikaner, sondern Europäer, und zwar genau jene Matadore der "klassischen Moderne", die Werner Spiess jetzt in die Ecke gestellt sieht.

Je mehr Zeit vergeht, um so deutlicher wird es: Europas "klassische Moderne" war ein Abrißunternehmen, dessen Nutznießer heute die US-Popkünstler sind. Man hat sich selber den Ast abgesägt, auf dem man so lange sicher saß. Abrißunternehmen: Das bedeutet beileibe nicht, daß alles qualitätslos und destruktiv zugegangen wäre, im Gegenteil. Es waren ja große Bestände auseinanderzunehmen und im Verschwinden auszuleuchten. Das schuf bunte Blüten zuhauf und außerordentliche Abenteuer. Aber am Ende war der Trümmerhaufen oder besser: das Fertiggericht, das nun auch vom Pöbel guten Gewissens verspeist und verdaut werden kann.

In den vornehmsten Kreisen des alten Rom galt als höchste lukullische Delikatesse ein bestimmter Fisch aus dem Fusarosee, eine Goldbrasse, deren Schuppenkleid beim Sterben die wunderbarsten, erstaunlichsten Farbspiele durchmachte. Der Koch trug sie lebend auf, nahm sie aus dem Wassergefäß, legte sie vor die Tischgesellschaft und versetzte ihr eine Reihe genau dosierter Todesschläge. Unglaubliche Farbspiele liefen daraufhin auf der Haut des Tieres ab, die die Tischgesellschaft in Entzückensschreie ausbrechen ließen. Doch nach wenigen Augenblicken war alles vorbei, die Goldbrasse wurde portioniert und vorgelegt. Ihr Fleisch schmeckte nicht besonders.

Diese Goldbrasse liefert ein sehr gutes Symbol für die europäische Kunstmoderne in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Viele von deren Hervorbringungen verhalfen zu nie geglaubten ästhetischen Genüssen. Aber am Ende blieb eine Dauerkonstellation, die anspruchsvoller Ästhetik alles andere als günstig war, ein flaches, flachsinniges anything goes, das vor allem ausgesprochene Scharlatane ausnutzten.

Insofern sollte Werner Spiess eher froh sein, daß die Europäer, die ihm so am Herzen liegen, in der anything goes-Schau der Berliner MoMA unterrepräsentiert sind und sogar hinterrücks desavouiert werden. Ein solches "Abenteuer" darf man getrost anderen überlassen. Viel wichtiger wäre es, zu wirklichen neuen Abenteuern und Kunsterfahrungen aufzubrechen. Indes, wo ist die Goldbrasse, die man dafür schlachten könnte?


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