© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/04 03. September 2004

Pankraz,
das Eichhörnchen und die stillen Reserven

Der wohl niederschmetterndste Effekt, den die ins Haus stehende sogenannte Hartz-IV-Reform auslöst, ist die allgemeine Angst, daß es nun an die "letzten Reserven" geht, daß staatlicherseits auch die bescheidenste Vorratshaltung nicht mehr geduldet wird, wenigstens bei denen nicht, die momentan ohne Job sind. Altersversicherungen, Kinder-Sparbücher, von der Oma geerbter Familienschmuck ..., buchstäblich alles muß man künftig öffentlich machen und zur sofortigen Disposition stellen. So etwas löst Panik aus, da hilft auch das bürokratische Dozieren über Freibeträge und Kopfpauschalen nicht.

Vorratshaltung, stilles Anlegen und Hüten von "letzten Reserven" und "eisernen Rationen", ist ein uralter, schon aus dem Tierreich stammender Trieb, der sich nicht einfach ausknipsen läßt, schon gar nicht von einer Regierung, die seit Olims Zeiten schlechte Finanzpolitik betreibt und die zudem ihre Bürger soeben noch aufgefordert hat, "individuelle Daseinsfürsorge" zu üben. Aus einem Eichhörnchen läßt sich nicht über Nacht ein Bruder Luftikus machen.

Daran ändert auch nichts, daß es von oben kein Vorbild mehr gibt und Vorräte-Bilden bei den Eierköpfen einen schlechten Ruf bekommen hat. Die "inneren, stillen Reserven" sind gewissermaßen weltweit ins Visier einer neuen Art von Gangstern geraten, deren Methode eben in der Ausspähung und Aneignung solcher Reserven besteht.

"Analy­sten" verschaffen sich Einblick in die Struktur von Familien­unternehmen, und sobald sie feststellen, daß eines dieser Unter­nehmen "unterbewertet" sei (indem es also über innere, stille Reserven, etwa über rentable Immobilien oder blühende kleine Tochterunternehmen verfügt), beginnt der Coup. Man verschafft sich auf Kredit Geld und Aktien, kauft das Unternehmen auf und weidet es dann regelrecht aus, d. h. man verscherbelt die inneren, stillen Reserven.

Parallel dazu machen sich die nationalökonomischen Auguren lustig über die "primitive Schatzbildnerei" der Anleger von eisernen Rationen. Diese passen angeblich nicht mehr in die moderne Zeit, wo es einzig und allein darauf ankomme, auch noch die allerletzte Reserve ans Licht zu zerren und dem Säurebad der Profitmacherei auszusetzen. Wer das nicht einsehe, dem geschehe letztlich ganz recht, wenn er "unfreundlich übernommen" werde bzw. bei Hartz IV die Fragebögen ausfüllen müsse.

Man sollte sich indessen nicht täuschen lassen: Die modischen Po­lemiken gegen innere, stille Reserven sind heuchlerisch. Es ist nicht nur gut, eine eiserne Ration zu hüten, es ist sogar notwendig, und zwar in allen Bezir­ken des Lebens, von der Biologie bis zur Wirtschaft, von Notfällen bis zum tagtäglichen Seelenhaushalt. "Man muß in allen Dingen stets etwas in Reserve haben", sagte schon Balthasar Gracián am Beginn der Neuzeit, "nur dann kann man im Leben mitspielen."

Niemand weiß das besser als die Manager der großen Unternehmen und Banken. Viele ihrer Fonds und Versicherungsgesellschaften sind ja längst zu phantastischer Größe und Macht angeschwollen, ihr aggressiver Kapitaleinsatz ist vieler­orts zu einem internationalen Störfaktor geworden. Ihre Vorratskapazität ist faktisch unendlich. Trotzdem tun sie so, als müßten sie geradezu am Hungertuche nagen, und verlangen Steuernachlässe über Steuernachlässe, dazu für jede Kleinigkeit, die von ihnen erbeten wird, "absolute Sicherheiten".

Hier zeigt sich, daß das (zumindest partielle) Verschweigen von eisernen Rationen und letzten Reserven zur Sache selbst dazugehört. Die großen Unternehmen beschäftigen ganze ausgedehnte Expertenstäbe zum Verfreundlichen von Bilanzen, wozu nicht zuletzt das Kaschieren von Reserven gehört. Wo käme man denn auch hin, wenn das Ausmaß der Reserven und ihrer Mobilisierbarkeit für jedermann offen zutage läge! Konkurrenten, unfreundliche Übernehmer und staatliche Finanzbehörden würden sich die Hände reiben, und manche Bittsteller und "Freunde" würden über Gebühr dreist und aufdringlich.

Was die wirklich stillen, natur- und existenznotwendigen Reserven betrifft, so wissen nicht einmal deren Inhaber über ihren Umfang genau Bescheid. Sowohl für Tier wie für Mensch gilt: Erst in der allerhöchsten Not, wenn buchstäblich keine andere Möglichkeit mehr bleibt, entfalten wir die letzten Reserven, wobei man anders formulieren muß: die Reserven entfalten sich selbst, und staunend registrieren wir danach, wie schnell wir, wenn es darauf ankommt, rennen und was für Haken wir schlagen können.

Im Alltag (auch wenn er, wie es jetzt der Fall zu sein scheint, angespannt ist) verhält es sich mit den stillen Reserven wie mit der wahren Freundschaft: Je weniger sie bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, je weniger sie total strapaziert werden, um so besser funktionieren sie. Das bloße Wissen um ihr Vorhandensein erfrischt bereits, stabili­siert das Leben und die Politik. Nichts ist belastender als eine "Reform"-Diskussion über ihren "wirklichen" Wert und über die Notwendigkeit ihrer Offenlegung, die sowieso immer pure Utopie bleibt.

Insofern ist Hartz IV, auch wenn das Kind jetzt einen anderen Namen erhält, die pure Katastrophe. Diese "Reform" löst, wie gesagt, lediglich Panik aus, die durchaus in blinden Zorn und wildes Umsichschlagen münden kann. Man erzeugt Endzeit­stimmung und macht sich seinerseits wahrscheinlich auch noch Illusionen über das, was durch Hartz IV angeblich hereinzuholen ist: Arbeitsplätze und Entlastung der Haushalte. Wie man es auch dreht, die Berliner Politik ist durch und durch miserabel und wird nicht einmal professionell verkauft.

Das Gerede über die stillen Reserven hat es wieder einmal gezeigt. Über stille Reserven redet man nicht. Wenn sie wirklich gebraucht werden, hat man gar keine Zeit mehr, sie aufzurufen. Der (Sozial-)Körper mobilisiert sie automatisch, und nur so können sie überhaupt Wirkung entfalten.


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