© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/04 24. September 2004

Wir sitzen hier auf Dynamit
von Paul Leonhard

Das Ungemach beginnt für den Schwaben Peter Braun damit, im Osten telefonisch eine Pizza zu bestellen. "Das ist ein Abenteuer", sagt der 36jährige Unternehmensberater. "Wenn ich in Stuttgart eine Pizza bestelle, läuft das absolut effizient ab. In Senftenberg muß ich dreimal dasselbe sagen, und was dann tatsächlich geliefert wird, ist immer offen." Wenn er beispielsweise einen Salat mit Essig und Öl haben möchte, dann sei das für die Mitarbeiter ostsächsischer Pizzadienste offenbar eine große Herausforderung. "Haben die denn niemanden, der es versteht, eine einfache Bestellung anzunehmen?" Vor allem aber nervt Braun die "absolute Langsamkeit" vieler Mitteldeutscher. "Wenn ich mit Schwung aus Stuttgart losfahre, ist es immer wie in einen tiefen Schlaf zu fallen, wenn ich in Senftenberg oder Rostock ankomme."

Aber Brauns Angestellte wollten sich vom Westchef nicht einmal wie Dornröschen wach küssen lassen. Was der Unternehmensberater in seinen Büros in den neuen Bundesländern erlebte, ließ ihn schier verzweifeln. "Ich kann doch nicht hinter jedem stehen und die Arbeit beaufsichtigen, dann kann ich es gleich selbst machen." Die Mitteldeutschen sprächen anscheinend eine ganz andere Sprache. "Und vor allem mußt du dich mit derselben Geschwindigkeit bewegen, sonst fällst du auf." Negativ natürlich. Egal, ob an der Tankstelle oder beim Bäcker: "Die Verkäufer reden nicht mehr mit den Kunden als bei uns, sind nicht freundlicher, sind nicht fauler, die sind einfach langsamer", staunt Braun.

Den Menschen in den neuen Länder ist dagegen gerade die kalte Effizienz vieler Westdeutscher ein Dorn im Auge. Wer sie bei der Begrüßung fragt, wie es ihnen geht, dem erzählen sie eben ihre Sorgen und kleinen Freuden. Und sind verärgert, wenn sie merken, daß die Frage nur eine nichtssagende Be-grüßungsfloskel war und daß den Fragesteller mit dem seltsamen Dialekt die ausführlichen Antworten ebenso nerven wie das ewige Händeschüttelnwollen der "Ossis". Und so läßt man die aufdoktrinierten Fremden, zumal sie oft in Chefpositionen sitzen, gern auflaufen oder zumindest links liegen.

Das fängt bei unterschiedlichen Zeitbegriffen an. Wenn die Ostdeutschen von Dreiviertel vier (15:45 Uhr) sprechen, ist der Wessi meistens überfordert und übersetzt 16:45 Uhr in seine Sprache. Zumindest können viele der "Viertel vor"-Nutzer mit der "Dreiviertel"-Variante nicht umgehen. Verspätungen sind das Ergebnis des Mißverständnisses. Auch zu alten Traditionen finden die Werktätigen zurück. So werden die beliebten kleinen Kaffeepausen in den Büros, wichtiger Umschlagplatz von Nachrichten und Klatsch, einfach wieder eingeführt, sobald der Chef auf Dienstreise oder in den Urlaub verschwindet. Kommt er zurück, findet er die Zustände vor, die er eigentlich abgestellt zu haben glaubte. Auch die tschechischen Arbeiter leisteten übrigens tapfer und bisher erfolgreich Widerstand, als der VW-Konzern den von ihm übernommenen Skoda-Facharbeitern das Biertrinken während der Arbeitszeit verbieten wollten. Die Sachsen, Brandenburger, Mecklenburger und Thüringer sind vielerorts in den DDR-Trott zurückgefallen, der den Alltag in jene Jahrzehnte bestimmte, in der man zwar ansonsten wenig, aber zumindest Zeit füreinander hatte.

Von wegen, der Kunde ist König. In vielen Geschäften geht es zu wie einst in der staatlichen HO. Das Warenangebot ist im Vergleich zu dem westlicher Großstädte auch nicht viel besser geworden. Die in der Heimat und in Arbeit Gebliebenen sind nach der Euphorie der ersten Nachwendejahre in den permanenten Bummelstreik zurückgefallen, mit dem die Arbeiter in der DDR auf die brutale Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 reagiert hatten. Nach dem Stolz auf den erreichten Sturz des SED-Regimes, die Niederreißung der Grenzen und die Wiedervereinigung des Vaterlands war es hart zu begreifen, daß der propagierte "zehntstärkste Industriestaat der Welt" ein Lügengebilde war, das nun wie eine Seifenblase zerplatzt war und in weiten Regionen zu Arbeitslosenraten von 20 Prozent führte.

Gleichzeitig wurde sorgfältig registriert, wie westdeutsche Konzernvertreter dicke Geschäfte mit einstigen Stasi-Offizieren und SED-Funktionären machten, wie Glücksritter aus den alten Bundesländern dubiose Verträge mit ihren Landsleuten bei der Treuhand schlossen und das wenige wirklich Wertvolle wie Immobilien, Grund und Boden für ein Butterbrot erwarben, wie die äußerst lukrativen SED-Bezirkszeitungen unter den westlichen Großverlagen aufgeteilt wurden, wie alle Chefposten und -pöstchen an Westdeutsche mit zum Großteil schlechteren Qualifizierungen vergeben wurden. Aber die wußten eben, wie die Bundesrepublik funktioniert.

Ähnlich sehen es viele Menschen in der ehemaligen DDR. Ohne den 1990 hinzugekommenen Absatzmarkt der neuen Bundesländern wäre die jetzt entstandene sozialpolitische Krise schon viel eher deutlich geworden. Für die kleinen und mittelständischen Betriebe haben sich die Befürchtungen bewahrheitet, daß sich die Situation mit dem EU-Beitritt der osteuropäischen Nachbarn weiter verschärft.

Die weiterhin geringe Effizienz vieler Betriebe ist zwar ein gewichtiger Grund für die minderen Chancen im Wettbewerb, aber insbesondere in den Grenzgebieten zu Polen und Tschechien fühlen sich die Menschen eh abgeschrieben. Die einst mächtigen Energiekombinate und Tagebaue sowie die hier ansässige Textilindustrie sind abgewickelt, die meisten anderen Betriebe auch. Eine ganze Generation an gut ausgebildeten Facharbeitern und Ingenieuren ist vor einem Jahrzehnt in den Vorruhestand geschickt worden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei permanent über 20 Prozent. Eine perspektivlose Jugend gammelt herum und träumt von einem starken Deutschland. Die Elite der Jüngeren ist in den Westen oder gleich ins außereuropäische Ausland gegangen, wo in Unternehmen inzwischen mitteldeutsche Führungskräfte ihren eigenen Filz bilden. Sie haben von den in den Osten gekommenen Westdeutschen gelernt.

Aus Furcht, den Job zu verlieren, halten die Menschen den Mund. In ihrer Freizeit sind sie zurück in ihre Nischen gekehrt, frönen dem Hobby und pflegen die Kleingärten und Datschensiedlungen. Die Einheimischen gehen den zugezogenen Westdeutschen aus dem Weg. Man ist sich fremd in der Lebensweise, im Denken, in den Werten und vor allem in den Lebenserfahrung. Für die Mitteldeutschen sind die "Wessis" Weicheier in Anzügen, denen sie ohne weiteres das Wasser abgraben könnten, wenn man sie nur ließe. Aber man läßt sie nicht. Wirkliche Freundschaften zwischen Mittel- und Westdeutschen sind auf dem Gebiet der neuen Länder kaum entstanden. Mitte der neunziger Jahre warb die Wochenzeitung Die Woche mit Porträts von Ost-West-Ehen für das Zusammenwachsen. Nicht nur die Zeitung ist inzwischen eingestellt, auch die meisten dieser Ehen sind längst zerbrochen. Es hat nicht funktioniert. Wohlgemerkt, es geht um die heute 35- bis 45jährigen, die aufgewachsen sind in zwei unterschiedlichen, verfeindeten Gesellschaftsordnungen. Die gegenseitige Wahrnehmung war dabei sehr verschieden. Das Bezugssystem der DDR-Bürger war immer die Bundesrepublik. Was die dortigen Medien meldeten, galt als wahr. Die Nachrichten des Deutschlandfunks oder von Radio Luxemburg wurden gewissenhaft verfolgt und im Freundeskreis diskutiert. Damit war der politische Kenntnisstand über politische Ereignisse häufig genauer als der der westdeutschen Bevölkerung. Klar war ihm auch, daß die DDR bereits damals eine Art verlängerte Werkbank der Bundesrepublik war, die die niedrigeren Löhne nutzte. Denn so manches DDR-Produkt kam über Intershop oder West-Pakete nun als "Made in Germany" zurück in den Arbeiter- und Bauernstaat. Die SED profitierte von den (wenn auch teuer) erwirtschafteten Devisen. Unverständlich dagegen noch heute, wieso die westlichen Wirtschaftsexperten die ruinösen Zustand der DDR noch Ende 1989 verkannten. Die Kohl-Regierung, die die "blühenden Landschaften" ab 1990 mit westdeutschen Beamten schaffen wollte, die dafür Gehaltszuschläge, Trennungszulagen, Buschprämien und Beförderungen erhielten, mußte mit diesem System scheitern. Denn die Bevölkerung blieb außen vor. Überdies setzten die Beamten aus dem Westen viel lieber auf ehemalige SED-Funktionäre als auf Bürgerbewegte oder Dissidenten, die ihnen nicht ganz geheuer waren.

Einzig und allein die Verschmelzung der NVA in der Bundeswehr ist eine Erfolgsgeschichte der deutschen Wiedervereinigung. Vielleicht weil sich Militärs, den gepredigten antagonistischen Widersprüchen zum Trotz, doch ähnlich sind und vor allem eine Sprache sprechen. Daß die Bonner Politiker kein Fingerspitzengefühl für die Situation jenseits der Elbe hatten, zeigt die Anfang der neunziger Jahre erfolgte Zuweisung von Asylbewerbern entsprechend dem bis dahin für die BRD geltenden Verteilerschlüssel nun auch auf die neuen Bundesländer, die zu den Ereignissen in Rostock und Hoyerswerda führte und noch heute nicht einer chaotischen Politik der Bundesregierung, sondern den Einwohnern dieser Städte angelastet wird.

Der Wohlstandstransfer von West nach Ost hat ebenfalls nur bedingt stattgefunden. Sicher, es konnten industrielle Kerne gerettet oder neu geschaffen werden, die Infrastruktur wurde auf neuestes, teilweise moderneres Niveau als im Westen gebracht, zahlreiche Städte verschönert, aber die Mitteldeutschen verloren ihre Arbeit und wurden zu Fremdlingen im eigenen Land. Der Großteil der Milliarden ist in den Taschen von westdeutschen Konzernen gelandet. Eigentum haben nicht die Bürger der neuen Länder angehäuft, sondern die nach Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gezogenen Westdeutschen, die dank Gesetzeskenntnissen, des nötigen Grundkapitals und bestehender Beziehungen Immobilien zu Spottpreisen erwarben und sich die Sanierung der Gebäude vom Staat finanzieren ließen. Nicht nur ehemalige SED-Mitglieder und heutige PDS-Wähler sprechen von westlichen "Kolonialherren" und fühlen sich von diesen sowie ihren mitteldeutschen Helfershelfern belogen und betrogen.

Inzwischen ist der Osten zu einer Ellbogengesellschaft verkommen. In der regierenden Sachsen-Union wird um Pöstchen und Positionen gerangelt. Es gehe schon längst nicht mehr um das Wohl des Freistaates und seiner Bürger, sondern nur noch um die eigene persönliche Zukunft, so ein Ministerialer, der sich enttäuscht aus der Parteiarbeit zurückgezogen hat. Er habe das Gefühl, daß es im Westen viel moralischer zugehe als in den neuen Bundesländern, sagt Unternehmensberater Braun: Das hier im Osten sei eine reine Ausbeutungsgesellschaft in beiden Richtungen; wer gerade mehr Macht habe, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, nutze diese gnadenlos aus.

Es rächt sich, daß 1990 der Freiheitsimpuls der DDR-Bevölkerung durch die Überstülpung des westdeutschen Systems abgetötet wurde. Den Menschen in den neuen Ländern, die ein Regime verjagten, wurden durch die Demokratie auch die Verantwortung abgenommen. So wird heute mit bitterem Zynismus zur Kenntnis genommen, daß jetzt, wo die Polikliniken zerschlagen und die polytechnischen Oberschulen einschließlich Unterrichtstag in der Produktion beseitigt sind, diese als möglicher Ausweg aus der Gesundheits- und Bildungskrise propagiert werden. Der stellvertretende FDP-Bundes-fraktionschef Rainer Brüderle schwärmte auf einer Wahlkampfveranstaltung seiner Partei im niederschlesischen Görlitz vom DDR-Schulsystem und forderte sogar die Wiedereinführung der Vorschule.

Hartz IV ist weniger der Grund als der Anlaß, der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat, sagt Klaus Haupt, CDU-Bundestagsabgeordneter aus dem ostsächsischen Hoyerswerda. Die in der DDR aufgewachsenen Menschen kennen noch aus diesen Zeiten schöngefärbte Statistiken und wüßten jetzt auch die "Aufschwung"-Zahlen der rot-grünen Bundesregierung zu deuten. Die Lügen der SED-Regierung und die der heute in Berlin sitzenden erscheinen den Menschen verdächtig ähnlich, nur daß unter den SED-Bonzen nicht die Datsche oder das Eigenheim des Einzelnen gefährdet waren, niemand an Studiengebühren oder gar Schulgeld dachte, das Gesundheitswesen kostenlos und der Arbeitsplatz sicher war.

Mitteldeutsche Unternehmer, die in den vergangenen 15 Jahren das System West studiert haben, sind sich ohnehin sicher, daß es in der BRD schon seit Jahrzehnten keine Marktwirtschaft mehr gab: Dort wurde nur verteilt. Statt aber aus den Fehlentwicklungen zu lernen, werde jetzt die Schuld an der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Misere einfach dem Osten in die Schuhe geschoben. "Es ist ja nicht mal, daß die Ostdeutschen faul sind, die ticken nur anders", sagt Unternehmensberater Braun. Die würden nur einfach nicht auf den Punkt kommen, eigentlich einfache Situationen verkomplizieren, statt einfach weiter zu machen.

Die Perspektivlosigkeit ist inzwischen so groß, daß die Mitteldeutschen auch ihre sonstige Rücksicht gegenüber politischen Funktionären aufgaben. Zur Zeit werden Spitzenpolitiker aller Parteien - vielleicht mit Ausnahme der PDS - bei ihrem Wahlkampfreden im öffentlichen Raum rücksichtslos ausgepfiffen und ausgebuht. "Lügen!" heißt es und: "Wo sind die Arbeitsplätze?"

 

Paul Leonhard lebt in Dresden und schrieb zuletzt in JF 34/04 über die Demonstrationen gegen Hartz IV.

Foto: Ehemaliger "VEB Getreidewirtschaft und Kraftfuttermischwerk" in Pasewalk (Mecklenburg-Vorpom-mern), aufgenommen am 29. April 2004: Im Kreis an der polnischen Grenze beträgt die Arbeitslosigkeit dreißig Prozent und erreicht damit bundesdeutschen Rekord.


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