© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/04 01. Oktober 2004

Gefährliche Grenzen
Türkei: Mit einem Beitritt des Landes würde die EU zum direkten Nachbarn instabiler Staaten / Ungelöste Kurdenfrage / Historische Lasten
Ivan Denes

Im Verlauf der Debatte um den nun offenbar bevorstehenden Beginn der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei wurden bislang meist wirtschaftliche, demographische oder auch kulturelle Probleme beleuchtet. Weit weniger wurde über die geostrategische Lage der Türkei gesprochen. Bei einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei stünde die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GAP) vor ungeahnten Herausforderungen.

Dabei ist das oft zitierte Argument, die USA benötigten die Türkei als Vorposten der Nato, inzwischen weitgehend hinfällig geworden. Seit der Implosion der Sowjetunion 1991 grenzt die Nato in dieser Region auch nicht mehr direkt an das heutige Rußland, sondern an instabile Nachfolgestaaten der UdSSR. Zudem stehen mit der Besetzung des Irak der US-Luftwaffe die irakischen Flugplätze zur Verfügung. Der US-Luftwaffenstützpunkt Incirlik im Südosten der Türkei hat aber nicht nur deshalb an Bedeutung verloren - mit dem Nato-Beitritt Bulgariens und Rumäniens bestehen nun sicherere Alternativen. Außerdem hatte das türkische Parlament Anfang 2003 im Vorfeld des Irak-Krieges dem US-Verbündeten den Transit einer Panzerdivision verweigert.

In Armenien und in Georgien sind zwar noch immer kleinere russische Einheiten stationiert - in erster Linie wegen der Nato-Mitgliedschaft der Türkei -, aber da diese vom russischen Kernland abgeschnitten sind, stellen sie kaum eine strategische Bedrohung dar. Zudem hat Rußland inzwischen erhebliche Wirtschaftsinteressen: angefangen von der neuen Erdgasleitung im Schwarzen Meer bis zur erhöhten Bedeutung des Bosporus für den Export russischen Erdöls über den Hafen Noworossijsk.

Die EU bekäme mit einer Außengrenze zu Georgien erhebliche Probleme an den Hals. Die georgische Regierung in Tiflis (Tblissi) steht einerseits wegen der Versuche, die von Rußland bisher unterstützten Sezessionen Südossetiens und Abchasiens zu beenden, andererseits wegen der geduldeten Nachschublinie der Tschetschenen über georgisches Gebiet (Pankisi-Tal) in einer chronischen Konfliktlage mit Rußland. In einen möglichen Konflikt wäre die Türkei mit involviert - die Erdölleitung zwischen Baku (Aserbaidshan) und Ceyhan (an der türkischen Mittelmeerküste) verläuft über Georgien.

Der nächste EU-Nachbar wäre Armenien. Der Völkermord durch osmanisches Militär an den Armeniern im Ersten Weltkrieg ist bis heute ein Tabu in Ankara. Trotz aller bisherigen Normalisierungsbemühungen bleibt an dieser Grenze ein Zustand der Dauerspannung bestehen, der schon bei einem minderen Grenzzwischenfall zur Explosion führen könnte.

Weiter südöstlich grenzt die Türkei an die von Armenien umschlossene aserbaidschanische Exklave Nachitschewan. Anfang der neunziger Jahre haben die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan einen blutigen Krieg wegen der von Aserbaidshan umschlossenen armenischen Enklave Bergkarabach ausgefochten. Die Türkei ist aus ethnischen und historischen Gründen der natürliche Verbündete Aserbaidschans. Das türkische Militär ist aktiv bei dem Neuaufbau der aserischen Streitkräfte engagiert. Während des Bergkarabach-Konfliktes sollen sogar türkische Piloten aserische Hubschrauber und Jets geflogen haben. Die einen türkischen Dialekt sprechenden Aseris wurden schon im Ersten Weltkrieg von Istanbul bei ihren Unabhängigkeitsbestrebungen (gegen Persien bzw. Rußland) unterstützt.

EU würde direkter Nachbar von Iran, Irak und Syrien

Besonders brisant wäre eine EU-Außengrenze zum Iran. Zwar gab es in der Vergangenheit Spannungen zwischen den beiden Ländern (im Nordwesten des Iran lebt eine millionenstarke aserisch-türkische Minderheit), aber schon die erste islamistische Regierung der Türkei unter Necmettin Erbakan (der politische Ziehvater des gegenwärtigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan) hat 1996/97 eine Anlehnung an das Teheraner Mullah-Regime versucht. Seit dem Sturz des Schah 1979 sind iranische Gelder eine der Hauptstützen für schiitisch-islamistische Einrichtungen und Organisationen in der Türkei.

Mit dem Irak bekäme die EU ein völlig destabilisiertes Nachbarland, in dem die türkischen Streitkräfte in der Vergangenheit mit Divisonsstärke gegen die kurdische PKK-Guerilla gekämpft haben. Wegen der prekären Lage der Turk-Minderheit im quasi autonomen kurdischen Nord-Irak wäre es jüngst beinahe zu einem Konflikt Ankaras mit Washington gekommen. Die PKK hat zudem kürzlich ihren Waffenstillstand aufgekündigt. Aber eine neue Verfolgungsaktion der türkischen Streitkräfte auf nordirakischem Gebiet ist wegen der erstärkten kurdischen Verbände nur dann vorstellbar, wenn eine langwierige, blutige Auseinandersetzung in Kauf genommen würde.

Der südliche Nachbar der Türkei (und perspektivisch der EU) ist Syrien. In der Vergangenheit gab es immer wieder Spannungen zwischen Ankara und Damaskus - nicht nur wegen der Unterstützung der PKK durch das Regime des verstorbenen Präsidenten Hafez el Assad. Im Juni 1939 trat die damalige Kolonialmacht Frankreich den bis dahin zu Syrien gehörenden Bezirk Alexandrette (heute Iskenderun in Südostanatolien) an die Türkei ab - aus Angst vor einem deutsch-türkischen Bündnis. Dieses "Geschenk" ist in der arabischen Welt bis heute umstritten.

Nicht zuletzt die Nachbarschaft mit Syrien und dem Irak hat die Türkei bewogen, mit Israel eine enge militärische Allianz zu schließen. Israelische Piloten fliegen regelmäßig Übungen im türkischen Luftraum, die türkische Armee ist Kunde der israelischen Waffenindustrie. Das strategische Bündnis zwischen Ankara und Jerusalen könnte im Kontext einer türkischen EU-Vollmitgliedschaft für einige EU-Regierungen, wie etwa Frankreich, unakzeptabel sein.

Ungeklärt ist auch die Zypernfrage. Die Insel-Griechen haben den Uno-Plan einer Vereinten Republik Zypern im April 2004 klar abgelehnt. Der türkische Norden bleibt trotz Zustimmung zum UN-Plan weiter außerhalb der EU (JF 19/04).

Das Verhältnis zu Griechenland hat sich in den letzten Jahren zwar offiziell entspannt, und Hoheits- und Grenzstreitigkeiten (die in den siebziger Jahren in der Ägäis fast zu einem Krieg eskaliert wären) scheinen ausgeräumt. Doch der 1923 völkerrechtlich besiegelte "Bevölkerungsaustausch" bleibt im Bewußtsein vor allem der Griechen. Gegenseitige Entschädigungsansprüche (Stichwort: Preußische bzw. Polnische Treuhand, JF 40-41/04) sind übrigens auch erst nach dem EU-Beitritt Polens relevant geworden.

Am einfachsten scheint das Verhältnis zu Bulgarien. Doch man erinnere sich, daß unter KP-Chef Todor Schiwkow Zehntausende bulgarische Türken zur Auswanderung gedrängt wurden - ein bis heute nicht aufgearbeitetes Kapitel. Wie sich ein Türkei-Beitritt auf das Verhältnis zwischen Bulgaren und der türkischen Minderheit im Lande (etwa acht Prozent der Bevölkerung) auswirken wird, ist auch nicht abzusehen.

Zu den größten geopolitischen Herausforderungen gehört das Kurden-Problem. Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung der Türkei sind "Bergtürken", wie das zum iranischen Sprachkreis gehörende Volk von Ankara genannt wird. Im Nord-Irak, im West-Iran und in Nordost-Syrien leben weitere Millionen Kurden. Ihre nationalen Bestrebungen würden bei einem Beitritt der Türkei die EU direkt betreffen. Im Frieden von Sèvres (1920) wurde ihnen erstmals Eigenstaatlichkeit zugesprochen.

Erdogan: "Die Moscheen sind unsere Kasernen"

Von Dezember 1945 bis Dezember 1946 bestand - unter sowjetischem Schutz - auf westiranischem Territorium übrigens die kurdische "Volksrepublik von Mahabad". Bei einer nicht mehr völlig undenkbaren Dreiteilung des Irak (JF 46/03) könnte im Norden des Landes ein neues Kurdistan entstehen - das dann direkt an eine EU grenzen würde, in der ebenfalls mehrere Millionen Kurden leben.

Unbeantwortet bleibt schließlich die Frage, wie nachhaltig die europäische Orientierung der Türkei ist. Daß Premier Erdogan die Macht der türkischen Generalität zurückgedrängt hat, wird von Brüssel als demokratischer Reifeprozeß gelobt. Andererseits war das türkische Militär seit der Staatsgründung 1923 letztlich immer einziger Garant für die Stabilität und die laizistisch-europäische Ausrichtung des Landes. Nicht die Demokraten im Ankaraer Parlament, sondern unausgesprochene Putschdrohungen zwangen 1997 den islamistischen Premier Erbakan zum Rücktritt.

Nicht vergessen sollten die Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei auch, was der heutige Premier Erdogan 1997 bei einer Wahlveranstaltung im südostanatolischen Siirt gesagt hat: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." Das dem Militär verpflichtete türkische Sicherheitsgericht in Diyarbakir kannte damals keine Gnade: Erdogan verlor für dieses Zitat aus einem Gedicht des 1924 verstorbenen osmanischen Poeten Ziya Gökalp seinen Posten als Oberbürgermeister von Istanbul, er kam für vier Monate ins Gefängnis und wurde mit Politikverbot belegt. Auch wenn Erdogans 2001 gegründete Regierungspartei AKP - die einen Großteil der Mitglieder der verbotenen islamistischen Tugendpartei (TP) aufnahm - in Europa als "gemäßigt" gilt: Erdogan kennt als Absolvent einer islamistischen Predigerschule (Imam-Hatip-Liseleri) die vom Koran erlaubte Strategie der Taqiyeh - der Verleugnung des wahren Glaubens vor den Ungläubigen im Interesse der Expansion ebendieses wahren Glaubens.

Türkei-Informationen, Blick auf die Kemal-Atatürk-Brücke über den Bosporus: Die Kopenhagener EU-Kriterien verlangen "eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten".


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