© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/04 08. Oktober 2004

Aufbegehren gegen privilegierte Mächte
Vereinte Nationen: Deutschland hat wenig Chancen, bei einer Reform in den Sicherheitsrat als ständiges Mitglied vorzustoßen
Theodor Schweisfurth

Ob mit dem konzertierten Bemühen Deutschlands, Japans, Indiens und Brasiliens die langjährigen Überlegungen über eine Reform des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (SR) in eine neue Phase getreten sind oder ob es sich dabei nur um eine neue Vorstellung des "Reform-Budenzaubers" handelt, ist derzeit noch nicht ausgemacht. Wegen der herausragenden Rolle des SR in der Weltpolitik geben die Bemühungen der Vierergruppe aber einen Anlaß, diese Rolle des SR und die Probleme seiner eventuellen Reform zu beleuchten.

Der Sicherheitsrat wird oft als "das höchste" Gremium der Vereinten Nationen (VN) bezeichnet, treffender ist es, ihn das politisch mächtigste und deshalb wichtigste Organ der VN zu nennen. Das hat im wesentlichen zwei Gründe. Die Mitglieder der VN haben dem SR "die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" übertragen und ihm hiefür "besondere Befugnisse" eingeräumt, die in den Kapiteln VI, VII, VIII und XII der Satzung der Vereinten Nationen (SVN) genannt sind. Zum anderen sind die Beschlüsse des SR für die Mitgliedstaaten der VN verbindlich, das unterscheidet sie von den an die Mitgliedstaaten der VN gerichteten Beschlüsse der Generalversammlung der VN (GV), die nur empfehlenden Charakter haben, also nicht unbedingt beachtet werden müssen. Anders als die GV, die regelmäßig nur einmal im Herbst jeden Jahres zusammentritt, ist der SR als jederzeit handlungsfähiges Organ konzipiert; als "Schildwache des Weltfriedens" soll er "seine Aufgaben ständig wahrnehmen" können, deshalb ist jedes SR-Mitglied zur jederzeitigen Anwesenheit am Sitz der VN verpflichtet.

Der Handlungsfähigkeit des SR soll auch seine Zusammensetzung dienen. Je größer ein Gremium, desto zeitraubender und schwieriger ist seine Beschlußfassung. Der SR ist daher kein Plenarorgan der VN, ihm gehören nur fünfzehn Mitgliedstaaten an. Es ist allgemein bekannt, daß fünf Staaten ständige Mitglieder des SR sind: China, Frankreich, Rußland, das Vereinte Königreich und die USA, im VN-Jargon heißen sie die "Permanent Five", P-5. Die zehn nichtständigen Mitglieder - im VN Jargon die "Elected Ten", E-10 - werden für zwei Jahre von der GV mit Zweidrittelmehrheit gewählt, wobei in erster Linie der Beitrag von VN-Mitgliedern zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und zur Verwirklichung der sonstigen Ziele der VN sowie eine angemessene geographische Verteilung der Sitze zu berücksichtigen sind.

Schon die satzungsgemäße Einräumung eines permanenten Sitzes im SR zeigt die Privilegierung der betreffenden fünf Staaten. Noch deutlicher zeigt sie sich bei der Beschlußfassung. Zwar hat im SR jedes seiner Mitglieder nur eine Stimme. Für das Zustandekommen aller Beschlüsse ist auch nur eine qualifizierte Mehrheit von neun Stimmen erforderlich. Dabei wird jedoch zwischen Beschlüssen über Verfahrensfragen und Beschlüssen über "alle sonstigen Fragen" unterschieden. Zu letzteren gehören vor allem, aber nicht nur, die politisch hochbrisanten Beschlüsse nach dem VII. Kapitel, das die Maßnahmen bei Friedensbedrohungen, Friedensbrüchen und Angriffshandlungen betrifft. Bei Verfahrensbeschlüssen genügen neun beliebige Stimmen, für das Zustandekommen von Beschlüssen über "sonstige" (substantielle) Fragen ist die Zustimmung sämtlicher ständiger Mitglieder des SR erforderlich. Durch seine Gegenstimme kann also jedes ständige Mitglied einen substantiellen Beschluß verhindern. Das ist das berühmte "Vetorecht".

Die Folgen von 1945 spiegeln sich bis heute in der UN-Charta

Ist streitig, ob es sich um eine Verfahrensfrage handelt, ist der Streit durch einen substantiellen Beschluß zu entscheiden, man spricht dann von einem doppelten Veto. Nach der Praxis gilt die Regel, daß Stimmenthaltungen oder Abwesenheit eines ständigen Mitglieds bei einer Sitzung das Zustandekommen eines Beschlusses nicht verhindern. Kein Vetorecht besitzt ein ständiges Mitglied bei der Wahl der Richter des Internationalen Gerichtshof und wenn es Partei in einer Streitigkeit ist, in bezug auf die der SR Beschlüsse aufgrund des VI. Kapitels der SVN, das die friedliche Streitbeteiligung betrifft, faßt, denn in diesen Fällen müssen sich die Streitparteien der Stimme enthalten.

Auf diesen Abstimmungsmodus im SR hatten sich die "Großen Drei" auf der Konferenz in Jalta geeinigt, er wird deshalb als Yalta Voting Formula bezeichnet. Auf der Gründungskonferenz der VN in San Francisco stieß diese Formel zwar auf den Widerstand einer Reihe von Staaten, der jedoch erfolglos blieb, denn die Großmächte hielten an ihr als conditio sine qua non ihrer Zustimmung zur Charta fest.

Die Erwähnung der Konferenz von Jalta bringt in Erinnerung, daß die VN aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen sind. Die Erfahrungen des Krieges und die an seinem Ende bestehende (Macht-)Lage spiegeln sich in den Bestimmungen der Charta. Die Gründerstaaten der VN setzten sich zum Ziel, "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren", zu diesem Zweck sollte die neue Organisation mit der Macht ausgestattet werden, "Kollektivmaßnahmen " zu treffen, um Friedensbedrohungen oder -brüche zu verhüten, zu beseitigen oder zu unterdrücken. Mit dieser Funktion wurde hauptsächlich der SR betraut. Daß die Hauptalliierten und Hauptsiegermächte zu ständigen Mitgliedern dieses Gremiums wurden, zeigt, daß die VN das Kind eines Kriegsbündnisses sind.

Bei der Debatte um die Reform des SR sind zwei Aspekte auseinanderzuhalten: die Zusammensetzung des SR und der Abstimmungsmodus. Zunächst ging es nur um den ersten Aspekt, seit 1993 auch um den zweiten. In jenem Jahr setzt die GV eine "Open-ended Working Group" ein, in der seitdem die Debatten über die Reform des SR im Rahmen der VN geführt werden. Zu deutsch könnte man dieses Gremium als "ergebnisoffene Arbeitsgruppe" bezeichnen, da ihr auch zeitlich kein Limit gesetzt ist, nennen sie Spötter die Never-ending Working Group.

1945 hatten die VN 51 "ursprüngliche Mitglieder". Inzwischen hat sich die Mitgliederzahl fast vervierfacht, heute sind 191 Staaten Mitglieder der VN, darunter finden sich allerdings auch etwa zwanzig Mikrostaaten mit einer Gebietsgröße unter 1.000 Quadratkilometern beziehungsweise einer Bevölkerungszahl unter 120.000. Die Zunahme der Zahl der VN-Mitglieder ist der Grund für die Forderungen, die Zahl der SR-Mitglieder zu erhöhen. Dies ist das Anliegen vor allem der neuen, durch die Dekolonisierung entstandenen Staaten. Die jetzige Zusammensetzung des SR sei nicht mehr repräsentativ für die Gesamtmitgliederschaft der VN und könne der von der SVN geforderten angemessenen geographischen Verteilung der Sitze nicht mehr gerecht werden, alle Regionen der Erde müßten in ihm vertreten sein, der SR müsse "demokratisiert" werden, eine Erhöhung der Zahl der SR-Mitglieder würde die Legitimität der Handlungen des SR stärken.

Schon 1965 wurde die Zahl der nichtständige Mitglieder von ursprünglich sechs auf zehn erhöht. 1979 forderte eine Gruppe afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanische Staaten, die Zahl der nichtständigen Mitglieder um sechs zu erhöhen. In den Debatten der 1993 eingesetzten Arbeitsgruppe hat sich die Bandbreite der Vorschläge mit einer Gesamtzahl der SR-Mitglieder auf 24, 25, 26 oder gar 30 erhöht. Manche Staaten haben vorgetragen, daß nur die Zahl der nichtständigen Mitglieder erhöht werden solle, keinesfalls die der ständigen Mitglieder, denn individuelle ständige Sitze seien anachronistisch, sie widersprächen dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten. Dabei fordern die Entwicklungsländer regelmäßig, daß neue nichtständige Sitze von Staaten aus den Regionen Afrika, Asien, Lateinamerika und Karibik eingenommen werden müßten; die Gruppe der arabischen Staaten hat für sich zwei nichtständige Sitze gefordert.

Andere Staaten meinen, daß die Zahl der Sitze sowohl der ständigen wie der nichtständigen Mitglieder erhöht werden solle und beide Fragen zusammen erörtert werden müßten. So sollen fünf neue ständige Sitze von jeweils einem Entwicklungsland aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Karibik und zwei von Industriestaaten besetzt werden. Afrikanische und asiatische Staaten forderten auch je zwei ständige Sitze für ihre Region, wobei die afrikanischen und asiatischen Staaten selbst entscheiden sollten, welche Staaten diese Sitze einnehmen. Eine andere Idee ist, die SR-Mitgliedschaft um nur zwei oder drei ständige und gekoppelt damit um drei oder vier nichtständige Sitze zu erhöhen. In der Arbeitsgruppe wurde auch vorgetragen, daß Deutschland und Japan ständige Mitglieder werden sollten. Nach der Bewerbung Deutschlands, Japans, Indiens und Brasiliens um einen ständigen Sitz haben jetzt auch Ägypten, Nigeria und Südafrika einen Anspruch auf einen ständigen Sitz angemeldet.

Eine der wohl törichtsten Ideen ist, einen ständigen Sitz für die Europäische Union anzustreben; diese Idee wurde schon in der Arbeitsgruppe geäußert, der italienische Außenminister Franco Frattini hat soeben statt eines ständigen Sitzes für Deutschland "einen einheitlichen Sitz" der Europäischen Union als Zielvorgabe genannt (FAZ vom 27. September). Abgesehen davon, daß nach der geltenden Satzung der VN nur Staaten VN-Mitglieder sein können, die EU aber kein Staat ist, würde sich die Stimmkraft Europas im SR verringern, Europa würde dann zwar "mit einer Stimme sprechen", aber es wäre eben auch nur eine Stimme statt der derzeitigen zwei von Frankreich und dem Vereinigten Königreich und eventuell statt drei Stimmen, falls Deutschland hinzukäme.

Ohne Zustimmung der fünf ständigen Vertreter geht nichts

Heikler noch als die Erhöhung der Sitzzahl ist die Frage des Status neuer ständiger SR-Mitglieder. Einerseits wird erwartet, daß dies derselbe sein soll wie der der bisherigen P-5. Dagegen wenden sich alle Staaten, denen die privilegierte Stellung der ständigen Mitglieder schon lange ein Dorn im Auge ist; sie fordern, daß das Vetorecht nicht auf neue ständige Mitglieder ausgedehnt wird, das wäre eine Verewigung der Ungleichheit. Andere regten an, die Kandidaten sollten ihre Bereitschaft erklären, als ständige Mitglieder vom Vetorecht keinen Gebrauch zu machen. Bei einer Erweiterung des SR muß auch die für die Annahme eines Beschlusses erforderliche Mehrheit neu festgelegt werden.

Die in der Arbeitsgruppe unterbreiteten Vorschläge zeigen eine starke Tendenz der nichtprivilegierten VN-Mitgliedstaaten, das Vetorecht einzuschränken oder es sogar ganz abzuschaffen. So sollen bestimmte SR-Beschlüsse (Aufnahme neuer Mitglieder, Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten, Empfehlung zur Ernennung des Generalsekretärs) vom Veto ausgeschlossen werden und dieses nur noch im Rahmen des VII. Kapitels in Frage kommen. Andere Staaten fordern, die ständigen Mitglieder zu verpflichten, ihr Veto zu begründen, sei es schriftlich oder gegenüber der GV; diese Staaten erhoffen sich davon, daß dann die ständigen Mitglieder von ihrem Vetorecht bei Beschlüssen nach dem VII. Kapitel einen verantwortungsvolleren Gebrauch machen würden. Weiter soll die Möglichkeit geschaffen werden, eine Gegenstimme abzugeben, ohne daß diese als Veto gewertet werden muß. Schließlich soll ein substantieller SR-Beschluß nur verhindert werden können, wenn mindestens von zwei SR-Mitgliedern ein Veto eingelegt wird. Das Vetorecht, so die weitestgehende Forderung, könne keinen ewigen Bestand haben, das sollten die ständigen Mitglieder des SR anerkennen und sich auf Diskussionen über die Abschaffung des Vetos zum Jahre 2030 einlassen.

Die Reformdiskussion mag derzeit "in voller Fahrt" sein (Bundesminister des Auswärtigen Joseph Fischer), aber ein umfassender Konsens über die Reform des SR ist noch nicht erkennbar. Eine Änderung beziehungsweise Revision der Charta ist nur möglich, wenn sie von einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der GV angenommen oder von derselben Mehrheit einer Allgemeinen (Revisions-) Konferenz empfohlen wird und danach von zwei Dritteln der Mitgliedstaaten der VN einschließlich aller ständigen Mitglieder des SR ratifiziert wird. Ohne Zustimmung der heutigen fünf ständigen Mitglieder des SR "läuft" also nichts, auch daran zeigt sich wieder deren Privilegierung. Ein Konsens über die Erweiterung des SR durch ständige und nichtständige Mitglieder erscheint derzeit im Bereich des Möglichen. Eine Bereitschaft, den Abstimmungsmodus im SR im Sinne einer Einschränkung des Vetorechts zu revidieren, haben die ständigen SR-Mitglieder nicht zu erkennen gegeben. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sie die Beibehaltung ihrer privilegierten Stellung zur conditio sine qua non einer Reform des Sicherheitsrates erklären.

 

Prof. Dr. Theodor Schweisfurth war langjähriger Rechtslehrer am Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht sowie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.


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