© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/04 22. Oktober 2004

Untergang des Abendlandes
Wie Brüssel die geistigen Fundamente Europas zertrümmert
Karlheinz Weißmann

Der "Fall Buttiglione" - also die Auseinandersetzung um den als EU-Kommissar für Justiz nominierten Rocco Buttiglione - scheint zu einer ernsthaften Machtprobe zwischen Kommissionspräsident und Parlamentsausschuß zu werden. Dabei geht es aber nicht um das vielbeschworene Demokratiedefizit der Union, also den Mangel an Gewaltenteilung und Kontrolle der Exekutive durch die Legislative in der EU, sondern um einen Weltanschauungskonflikt.

Dieser Konflikt wurde ausgelöst von Buttigliones Haltung zu Familie und Homosexualität, die Linke und Liberale im EU-Ausschuß zum Anlaß nahmen, ihn als Kandidaten zurückzuweisen. Daß Buttiglione ausdrücklich betonte, er werde zwischen seiner persönlichen Meinung, derzufolge Homosexualität Sünde sei, und seinen Amtspflichten, die ihn auf die Gleichbehandlung von Homosexuellen und Heterosexuellen festlegen, zu trennen wissen, fand keinen Glauben, und auch die Versicherung, er könne "zugleich ein guter Christ und ein guter Europäer sein", wurde übergangen.

Wenn man sich für einen Augenblick die Ursprünge der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg vor Augen hält, dann wird man diesen Vorgang mit einer gewissen Irritation zur Kenntnis nehmen. Denn neben der allgemeinen Überzeugung, daß es auf dem Kontinent keine weiteren Bruderkriege geben dürfe, bildete das christliche Erbe der abendländischen Völker eine entscheidende Grundlage für den Entschluß zur wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenarbeit.

Und es war kein Zufall, daß alle Führer der Bewegung - Alcide De Gasperi, Robert Schuman und Konrad Adenauer - aus dem politischen Katholizismus kamen, während umgekehrt die Gegner der Gemeinschaftsbildung (oder dieser Art von Gemeinschaftsbildung) nicht nur nationale Sonderinteressen ins Feld führten, sondern wie der deutsche Sozialdemokrat Kurt Schumacher auch den Verdacht hegten, es handele sich um eine klerikal-kapitalistische Verschwörung.

Wenn heute jemand wie Buttiglione im Europäischen Parlament als suspekt gilt, weil er sich als Christ zur Lehre seiner Kirche bekennt, dann ist dieser Sachverhalt erklärungsbedürftig. Aber die Erklärung ist nicht schwer zu finden. Faktisch handelt es sich um eine Folge jener Art von politischer Umgründung des Gemeinwesens, wie sie sich auch in Einzelstaaten der Europäischen Union, vor allem in der Bundesrepublik, vollzogen hat. So wie die Väter des Grundgesetzes ihren Augen kaum trauen dürften, wenn man sie mit der heutigen Verfassungswirklichkeit in Deutschland konfrontierte, so wären auch die Väter des vereinten Europa irritiert über das, was man aus ihrem Projekt gemacht hat. Das gilt gerade im Hinblick auf die weltanschauliche Dimension.

Die relative Offenheit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und davor der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl in dieser Hinsicht hatte damit zu tun, daß man zum Zeitpunkt ihres Entstehens der religiösen und kulturellen Bestände noch sicher zu sein meinte. Die konkurrierenden Europakonzepte - Mitteleuropa, Paneuropa, ein autarker "Großraum" oder eine sozialistische Föderation - waren gescheitert oder ohne Aussicht auf Verwirklichung.

Die Katastrophe von 1945 erschien in den Augen vieler, wahrscheinlich der Mehrheit der Menschen, auch als Ergebnis einer Abwendung von den traditionellen Werten. Daß diese noch einmal guten Gewissens oder fahrlässig in Frage gestellt werden könnten, war kaum vorstellbar. Das Christentum und die Antike bildeten nach Auffassung der tonangebenden Eliten die einzig tragfähigen Grundlagen für einen Neubeginn.

Sicherlich überschätzte man deren Stabilität, was mit einem psychologisch verständlichen, aber in der Sache nicht begründeten Optimismus bezogen auf die weitere geschichtliche Entwicklung zusammenhing. Über die Bestände, mit denen man rechnete, verfügte man schon nicht mehr, aber wer das erkannte, sprach nur mit gesenkter Stimme. Das erklärt auch etwas von der Widerstandslosigkeit, als die großen Überlieferungen abgeräumt wurden - ein Prozeß, der in den sechziger Jahren begann und dessen Endstadium wir jetzt erleben.

Die Lustlosigkeit, mit der über die inhaltlichen Aspekte des Entwurfs für eine europäische Verfassung diskutiert wurde, kann dafür als Indikator dienen. Ein anderer ist die Art und Weise, wie auf den Wunsch der Türkei nach Vollmitgliedschaft in der EU reagiert wurde. Niemand wagte, die Absicht Ankaras unter Hinweis auf religiöse oder historische Faktoren in Frage zu stellen und der Tatsache Geltung zu verschaffen, daß die Türkei keinesfalls als Teil Europas gelten kann. Jeder verschanzte sich hinter wirtschaftlichen Argumenten und technischen Erwägungen. Nur die Absicht der türkischen Regierung unter Recep Tayyip Erdogan, Ehebruch als Straftat zu ahnden, stieß auf grundsätzlichen Widerstand. Derlei, so verlautete auch aus den Reihen der Konservativen und der Christdemokraten, entspreche nicht den europäischen "Liberalitätsstandards".

Was das im Kern heißt, ist rasch geklärt. Europas Identität besteht in einer Mischung aus Hedonismus und Säkularität, nach Geschmack garniert mit etwas mehr Markt oder etwas mehr Sozialstaat. Da kann, wer mag, nach "Werten" suchen, er wird keine finden, vielmehr macht jede Werthaltung, die diesen Namen verdient, verdächtig.

Unter solchen Verdacht ist Buttiglione jetzt geraten, und die mangelnde Unterstützung seiner Kandidatur durch die bürgerlichen Parteien des Straßburger Parlaments zeigt deutlich, wie es um die Bereitschaft bestellt ist, derartige Positionen zu decken. Was auch immer in Programmen steht oder in Deklamationen bekundet wird, eine halbwegs klare Vorstellung davon, was Europa ausmacht, auf welchen Fundamenten es beruht, zu welchem Ziel seine Einigung führen soll, wird sich daraus nicht ableiten lassen. Buttigliones Bezugnahme auf Christentum, Humanismus und Aufklärung gilt im Grunde schon als Störung des "Integrationsprozesses", der ergebnisoffen vor sich hin läuft. Die Überzeugung ist allgemein, der Pragmatismus werde es richten und alles andere verbürge der ökonomische Erfolg.

Die politische Klasse Europas ignoriert das geistige Vakuum, das sich gebildet hat. Aber Leerräume dieser Art können nicht über längere Zeit bestehen. Es wird Ideen und Vorstellungen geben, die sie auffüllen, vielleicht nicht die von Buttiglione, vielleicht nicht einmal solche, die überhaupt noch in irgendeiner Weise als "europäisch" gelten können. 

 

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, unterrichtet Geschichte und evangelische Religionslehre an einem Gymnasium und ist Autor des Buches Mythen und Symbole.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen